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Kriegstreiber gegen Beschwichtiger?

Bild: Frederic Batier/Netflix

Hitler, Appeasement und Wiederkehr der Geschichte: Der Politthriller "München" zeigt schlüssig, dass die Dinge komplizierter liegen

...the demon-genius sprung from the abyss of poverty, inflamed by defeat, devoured by hatred and revenge, and convulsed by his design to make the German race masters of Europe or maybe the world.

Winston Churchill über Hitler in seiner Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, "The Gatrhering Storm"

Warum hätte ich einen Schlag gegen Hitler einleiten sollen - sagen Sie mir das.

Walther von Brauchitsch, bis 1941 Oberbefehlshaber des Heeres

Auf das vor allem unterhaltsame Ausmalen des Historischen setzt auch Regisseur Christian Schwochow in seiner Verfilmung von Robert Harris' Roman "München" über das Münchner Abkommen von 1938. Bereits Harris verstand es, die überaus komplexen und kleinteiligen Ereignisse rund um das Münchner Abkommen ebenso wie die diplomatischen Überlegungen und Alternativen zu einem dichten Ganzen zu bündeln.

Teil 1: Ehrenrettung für Appeasement und Chamberlain [1]

Schwochow und sein Drehbuchautor David Power, der bisher mit der Serie "The Hollow Crown" bekannt wurde, einer Umsetzung von Shakespeares Königsdramen ins Serienformat, und der hier erstmals ein Spielfilmdrehbuch schrieb, verknappen Harris' Vorlage noch weiter zu einer Erzählung aus einem Guss, die zunehmende Dramatik und Spannung entfaltet.

Was durchaus erstaunlich ist – denn genaugenommen passiert gar nicht so viel, außer dass fortwährend Männer mit Aktenmappen oder im Jackett versteckten Geheimdokumenten von einem Zimmer ins nächste eilen. Und der Ausgang des Münchner Abkommens ist allgemein bekannt. Ebenso die Tatsache, dass 1938 auf Hitler kein erfolgreiches Attentat verübt wurde.

München – Im Angesicht des Krieges (0 Bilder) [2]

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Die Spannung liegt damit paradoxerweise in dem, was nicht geschieht; darin, dass man zum einen verstehen möchte, warum bestimmte, in der Handlung angelegte Dinge nicht passieren, und wie anstelle dessen das passiert ist, was in den Geschichtsbüchern steht. Im Roman nehmen innere Monologe der beiden Hauptfiguren breiten Raum ein und erklären auch vieles. Hier ist dies zum Teil in Dialoge verwandelt, oft aber auch weggelassen, was dem Film manchen Reiz nimmt.

Worum geht es wirklich?

Zudem leidet schon der Roman – eher einer der schwächeren in Harris' Werk – darunter, dass die Optionen und Ziele der beiden Hauptfiguren nie klar auf dem Tisch liegen: Worum geht es ihnen wirklich? Um ein Attentat auf Hitler?

Darum, den unmittelbar drohenden Krieg zu verhindern? Oder eher darum, den Briten ein geheimes Schriftstück aus Hitlers Planungsstab – es handelt sich um das sogenannte Hoßbach-Protokoll [4] – zu übermitteln, um dadurch den britischen und französischen Politikern die wahre Natur der Hitlerschen Aggressionspolitik vor Augen zu führen, und ihnen damit zu verdeutlichen, dass ein europäischer Krieg mit seinen tödlichen Konsequenzen für Millionen unvermeidlich werden wird? Alle drei Möglichkeiten schließen die jeweils beiden anderen aus.

Wie die Staatsmänner und Diplomaten haben auch die Beteiligten alle ihre ganz eigenen Pläne und ihren individuellen Vorteil im Blick, während um sie herum Weltgeschichte geschieht.

Von allem, was folgte, wissen aber die Akteure in "München" natürlich noch nichts. Sie müssen einschätzen, ob in dem kauzig-bedrohlichen deutschen Diktator noch ein Funken Vernunft schlummert, und sie müssen für sich die Frage beantworten, ob sich die Deutschen mit dem Sudetenland wirklich zufriedengeben wollen.

Hitler als lächerliche Schießbudenfigur

Es war absurd. In den nächsten Sekunden würde er verhaftet werden – trotzdem war er nicht fähig zu handeln. Und wenn schon eher nicht handeln konnte, wer dann? In der Sekunde, einem Augenblick der Klarheit, er kann der ja, dass niemand, nicht er, nicht das her, nicht ein einzelner Attentäter, dass kein Deutscher ihr gemeinsames Schicksal aufhalten konnte, bevor es sich erfüllt hatte.

Robert Harris in "Munich" über Paul von Hartmann

Die Zuschauer sind dafür mittendrin in der Münchner Konferenz. Und doch zugleich wie meist auch die Protagonisten nur Beobachter der "großen Geschichte", denn viele bekannte historische Figuren, etwa Mussolini und Daladier, der Reichsaußenminister von Ribbentrop ebenso wie Göring und Himmler treten kurz auf, bleiben aber schemenhaft. Die Ausnahmen sind Chamberlain und Hitler.

Letzterer sollte zunächst von Martin Wuttke gespielt werden, der den deutschen Diktator bereits in Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" verkörperte. Als Wuttke wieder absprang, übernahm Ulrich Matthes kurzfristig die Rolle.

Das Ergebnis ist ein seltsamer, beinahe bizarrer Auftritt: Weil körperliche Ähnlichkeit kaum vorhanden ist, dominiert die ohnehin schon schreckliche – womöglich auch als distanzierende Unterstützung dienende – Maske in diesem Fall stärker denn je und spitzt die Künstlichkeit und das Groteske, das schon dem historischen Hitler aus heutiger Sicht eigen war, aber auch bereits von manchen Zeitgenossen so wahrgenommen wurde, ins Lächerliche einer Schießbudenfigur zu.

Wo man nicht ohnehin dem Schauspieler bei der konzentrierten Arbeit zusieht, fällt es einem schwer, diesen entnervenden "Hitler" ernst zu nehmen. Überzeugend ist das nicht.

Deutsche Arbeit am Hitler-Mythos

Angreifbar ist darüber hinaus zumindest ein Aspekt dieser Hitler-Darstellung, den Regisseur und Drehbuchautor zu verantworten haben: Einige der wenigen Änderungen des Films gegenüber Harris Romanvorlage betreffen nämlich zwei Vier-Augen-Treffen von Hartmanns mit Hitler. "Ich kann Menschen lesen", erklärt der Diktator von Hartmann mehrfach, und scheint tatsächlich zu spüren, dass er mit seinem potentiellen Mörder im Raum ist: "Ihre Augen sagen ja. Aber ihr Inneres sagt nein." Und weiter: "Es gibt hier nur Sie und mich. Was denken Sie?"

Diese kurzen Dialoge mit Hitler hat der Film hinzuerfunden. Man möchte schon wissen, warum ausgerechnet diese Änderung den Machern so sehr am Herzen lag. Hier wird Hitler einmal mehr eine dämonische Größe zugesprochen, die Fähigkeit, durch eine Charaktermaske hindurch ins Innerste des Menschen zu blicken. Einmal mehr strickt damit ein deutscher Regisseur die Hitler-Mythologie weiter, nach der der NS-Führer eine Art "sechsten Sinn" und eine "magische", die Umgebung lähmende Kraft gehabt habe.

Lektion in Realpolitik

Jeremy Irons gibt seinem Chamberlain viel Würde und Verstand, vom naiven Appeaser bleibt hier nichts übrig. Eher entsteht hier ein neues Bild, das wie im Roman, aber visuell noch viel stärker, auf eine Ehrenrettung für den Premier hinausläuft.

Nach diesem war Chamberlain ein kluger, bescheidener, sich der Natur seines kriegslüsternen Gegenübers Hitler sehr bewusster Politiker, der seinem Land ein ganzes Jahr Schonfrist heraushandelte – Zeit, um die Verteidigung der Freiheit vorzubereiten. München war ein letzter Versuch gewesen, den Frieden zu erhalten, und es hatte gezeigt, dass man Hitler nicht trauen konnte.

Die Schlüsselszene dazu ist auch hier das Auftauchen von Hartmanns: "Adolf Hitler is a monster. A Madman", herrscht er den Premier an.

Der reagiert mit einer Lektion in Realpolitik:

I admire your courage young man, but I have to give you a lesson in political reality: The people of Great Britain will never take out arms over a local border dispute. For what Hitler may do or will do in the future, we shall have to wait and see. My sole objective here is to advert war in the immediate term, so I can begin to built a lasting peace.

Es ist verführerisch, Chamberlain einmal mit ganz anderen Augen zu betrachten. Und doch ist dies schon fast zuviel der Ehre für einen Mann, der ohne Frage eine differenzierte Darstellung verdient hat, und über den Robert Harris, auf den man auch bei der Betrachtung dieses Films immer wieder zurückkommt, bereits 1988 eine BBC-Dokumentation drehte ("God bless you Mr. Chamberlain").

Womöglich sind bei "München" aber die Grenzen solch' fikiver, historischer Spekulation erreicht.

Einen Weltkrieg ist ein lokaler Grenzkonflikt nicht wert

Vor dem Hintergrund aktueller Krisen und der geopolitischen Konstellation unserer Zeit sind die politischen Pointen von München aber so faszinierend wie herausfordernd: Denn auch heute wird das Suchen nach Kompromissen, das geringste Entgegenkommen gegenüber nicht-demokratischen Herrschern und schon die reine Verhandlungsbereitschaft von den "Bellizisten" der Kommentarspalten gern als "Appeasement" abgetan, als verachtenswerte Dekadenz "schwächlicher" Demokraten – der Hinweis auf die 1930er-Jahre und vermeintliche "Lehren" der Geschichte fehlt hier selten.

"München" zeigt schlüssig, dass die Dinge komplizierter liegen. Der Film dreht das Argument des "Realismus" um. Dieser liege gerade im Herausschlagen von Zeit und der Arbeit am diplomatischen Kompromiss. Einen Weltkrieg sei ein "lokaler Grenzkonflikt" nicht wert.

Bild: Frederic Batier/Netflix

Aktuelle Schlüsse lassen sich hier nicht vermeiden, auch wenn der Roman vor fünf Jahren geschrieben, und der Film vor zwei Jahren konzipiert wurde: Bis heute werden "München" und "Appeasement" immer wieder als Schimpfwort benutzt, wenn Kritiker meinen, dass Politiker zu gutgläubig oder zu nachgiebig sind.

Und in deutschen Zeitungen findet man gerade derzeit wieder hysterische und gelegentlich hetzerische Kommentare, in denen das "Appeasement"-Wort nie fehlen darf.

Deutschland sei "das trojanische Pferd Putins", heißt es. Und Schlimmeres. Oder man vergleicht die amerikanisch-russischen Gespräche mit der Münchner Konferenz. 1938 seien die Tschechen von den Verhandlungen über die Zukunft ihres Landes ausgeschlossen gewesen.

Jetzt ereile die Ukraine das gleiche Schicksal, obwohl es um ihre Sicherheit gehe. Es ist psychologisch durchschaubar, dass hier deutsche Kommentatoren über 80 Jahre nach "München" immer noch nachholenden Widerstand gegen Hitler leisten. Aber es entschuldigt nicht die Dummheit der entsprechenden Vergleiche.

Irgendwie war's auch schön im Dritten Reich

Alles Übrige ist ein konventioneller Historienfilm, schlicht gestrickte Kolportage und ein paar Schmonzetten am Rand: Zwei, drei Gastronomiebesuche in Berlin und München sind recht mondän geraten – irgendwie war's wohl doch auch schön im Dritten Reich. Und die Widerständler tragen alle runde Brillen und gucken hinter ihnen derart konspirativ in die Gegend, dass sie noch der dümmste Gestapo-Lehrling zum Verhör einbestellt hätte.

Insgesamt verschenkt dieser Film mehr als er erreicht: In Harris Roman finden sich großartige, gut recherchierte Details: Er beschreibt die ungewöhnliche Hitze dieser Spät-Septembertage. Das "Kolossale" des Münchner Königsplatzes, den die Nazis in "Königlicher Platz" umgetauft hatten, und der statt von Rasen von zehntausenden Granitplatten bedeckt wurde (die man erst Ende der 1980er-Jahre wieder entfernte), dass es dort statt Bäumen eiserne Fahnenmasten mit Hakenkreuzflaggen gab und von SS-Männern bewachte Ehrentempel mit ewigen Flammen.

Er erzählt, dass es in der "Hauptstadt der Bewegung", wegen des Oktoberfestes kaum genügend Zimmer für die ausländischen Delegationen gab. Dafür gab es viele Blaskapellen. Eine von ihnen spielte zur Begrüßung der britischen Delegation den damals europaweit populären Schlager "The Lambeth Walk [5]". Er erzählt vom starken Körpergeruch Hitlers und den mit kleinen Hakenkreuzen versehenen Wasserhähnen im Führerzug.

Nichts von solch sprechenden Details in Schwachows Film. Ebensowenig von anderen Aspekten der Story: Die gemeinsame Freundin Leny, in deren Rolle Liv Lisa Fries gnadenlos unterbesetzt ist, ist bei Schwochow nur Erinnerung und dann apathisches Opfer. Im Buch ist sie Kommunistin und Widerstandskämpferin. Ihr Jüdischsein ist nebensächlich.

Weltgeschichte und Dramatik

Ein richtig guter Film ist "München" daher nicht, konnte er vielleicht auch nicht werden. Eher handelt es sich um guten Durchschnitt, der auf dem kleineren Heim-Bildschirm besser aufgehoben ist, als im Kino.

Ein interessanter Film ist er aber sehr wohl: In seiner Form, das Publikum zum Augenzeugen eines weltgeschichtlichen Augenblicks zu machen, in dem verschiedene historische Entwicklungen und bis heute bekannte Figuren in Raum und Zeit verdichtet und durch eine dramatische "Countdown"-Situation zusammengeknüpft werden, erinnert er am ehesten an Roger Donaldsons "Thirteen Days" über die Kuba-Krise 1962 oder auch an "Valkyrie" von Bryan Singer über den 20. Juli 1944.

Der Ausgang ist jeweils bekannt, der Spannungsfunke des Moments springt aber auf die Leinwand oder den Bildschirm über.

Robert Harris: München [6]. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, München 2017, 22 Euro


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[4] https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0008_hos&l=de
[5] https://www.youtube.com/watch?v=Mc6XUus5IC4
[6] https://www.amazon.de/dp/3453471687/ref=nosim?tag=telepolis0b-21