Krisenorigami und Kernschmelze

Während in Japan ein multipler Super-GAU droht, versucht sich mancher im Westen in magischem Denken - der Betroffenheitssymbolismus im Crashtest

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Katastrophe ist da und entfaltet sich mit der Folgerichtigkeit eines gelebten Alptraums. Und wie immer bei solchen Gelegenheiten schlägt nicht nur die Stunde der professionellen und privaten Verleugner und Verdränger, der Hobbyingenieure und Sonntagstechniker, sondern auch die der modernen Symbolisten.

Im Gegensatz zu ihren historischen Vorbildern sind diese Zeitgenossen nicht an Kunst interessiert, sondern eher am eigenen Seelenheil. Der Widerspruch zwischen dem eigenen Unvermögen und einem Wertesystem, das beständig zur Nothilfe auffordert, erzeugt einen schwer erträglichen Handlungsstau, der bei Entladung zu echt bizarrem Verhalten führen kann.

Gern genommen wird der Selbstbehelf durch Symbolhandlungen. Die einen verzieren ihr Profilbild bei Facebook mit der Anti-Atomsonne, die anderen stellen Kerzen auf die Fensterbank. Einige bekämpfen ihre Ohnmachtsgefühle, indem sie zu Livetickerjunkies werden und versuchen, wenigstens durch Totalbeobachtung der Ereignisse ein wenig Kontrolle zu bewahren.

Dann gibt es die Selbstgeißler, die ganz im Gegenteil durch Nachrichten- und Konsumverzicht in Deutschland für eine Atomkatastrophe in Japan büßen wollen. Da ist selbst das peinliche Gerede der Bundesregierung von der Laufzeitverlängerungsaussetzung sinnvoller, führt es doch immerhin zur zeitweisen Abschaltung von einigen Reaktoren, und somit zu einer Verringerung des sehr realen Risikos, das von der Atomenergie in Deutschland ausgeht. Aber der Symbolismus der Betroffenheit, der Proklamationen, der Bußübungen hilft keinem einzigen verstrahlten Japaner und macht so wenig Sinn wie die Atomkraft selbst.

Ein besonders schäbiges Beispiel für dieses letztlich auf Magie und Beschwörung setzende Verhalten bietet eine Website, die auf die atomare Bedrohung mit der glänzenden Idee reagiert, Papierkraniche zu falten, anschließend Fotografien der Kunstwerke im Netz zu präsentieren, und dazu fleißig zu beten.

Karmapunkte

Das ist alles. Zweifel an dem Sinn der Aktion provozieren heftige Abwehr, und allenfalls noch den Hinweis, dass diese Aktion hauptsächlich für Schulkinder gedacht sei - als würde das die Sache besser machen. Man beleidigt die Intelligenz von Kindern, die sehr wohl klare Vorstellungen von dem haben, was in Japan passiert, wenn man sie richtig informiert, und füllt ihre Köpfe mit nutzlosem "spirituellem" Müll. Der Gipfel des Zynismus und der Heuchelei: Für die Erzieher und Eltern, die das Stellvertretergebüße und -gebete angeregt haben, fallen ein paar Karmapunkte ab, und allein das ist das Ziel der Übung. Der ironische Kommentar des Autors und Bloggers Bov Bjerg:

Seit einigen Tagen wird jetzt für Japan gebetet. Wenn das nicht bald aufhört, bricht demnächst noch der Fudschijama aus.

Warum machen Menschen so was? Die Psychologie kennt den Begriff des "Ungeschehenmachens". Dieser Trick der "sekundären Ich-Abwehr" ist gekennzeichnet durch den "Einsatz faktisch unwirksamer Handlungen und Rituale (z. B. auf Holz klopfen), denen eine symbolische Kraft zugeschrieben wird, mit dem Ziel, Strafe bei Verbots- und Gebotsübertretungen abzuwenden."

Und das ist ziemlich genau, was geschieht, wenn man Kinder dazu anhält, betend Papierkraniche zu falten, weil in Japan die Reaktoren durchgehen. Das Gebot verlangt, ein guter, stets handlungsfähiger Mensch zu sein, und eine Wirklichkeit, die diesem Gebot krass widerspricht, kränkt das Subjekt aufs Äußerste.

Gibt es Alternativen zur Gesundbeterei? Sicher. Zum Beispiel Dinge wie die Shelter Box wirken zumindest in Maßen sinnvoll. Man kann die Rotarier, die dieses Instrument der Nothilfe entwickelt haben und anwenden, auf abstrakter Ebene für alles Mögliche kritisieren, aber konkret bedeutet jede Shelter Box, die an ihr Ziel gelangt, echte Hilfe. Ganz im Gegensatz zu den Papierkranichen, die letztlich nur der Selbstbeweihräucherung dienen. Jeder Euro, der einer Hilfsorganisation zukommt, ist besser als der Symbolismus der Sturzbetroffenen. Ja sogar das Nichtstun wäre besser, denn es würde sich wenigstens der geistigen Umweltverschmutzung enthalten. Und verschmutzt ist die Welt derzeit wirklich genug.