Kritik an Steinmeier-Rede: Wer von der Hamas weit weg ist, kann sich kaum distanzieren
Distanzierung setzt Nähe voraus. Eine Absage kann nur erteilen, wer eingeladen oder angefragt war. Wen Steinmeier mit seiner "Bitte" beleidigt – und warum. Ein Kommentar.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat mal wieder Schlagzeilen produziert: "Steinmeier fordert Arabischstämmige zu Distanzierung von der Hamas auf", fasste Spiegel Online seine Worte zusammen, fast wortgleich tat dies die Zeit, während die Welt von einer Aufforderung "zu klarer Distanzierung" sprach.
Die Westfälische Rundschau schrieb sogar: "Steinmeier: Arabischstämmige müssen sich von Hamas distanzieren". Ganz so war die Formulierung des Bundespräsidenten beim "Runden Tisch zum friedlichen Zusammenleben" am Mittwoch auf Schloss Bellevue zwar nicht.
Absurd musste sie trotzdem auf Arabischstämmige wirken, die besonders weit von der Hamas entfernt sind und von Islamisten sogar angefeindet werden, weil sie aus deren Sicht "unislamisch" leben, die falschen Freunde haben oder auch die falsche sexuelle Orientierung – oder weil sie sie sich schon lange gegen Terror und Gewalt aussprechen, sei es öffentlich oder im Bekanntenkreis.
Betroffene sollen Generalverdacht widerlegen, den es nicht geben darf
Zunächst hatte Steinmeier angesichts des Israel-Gaza-Krieges versöhnlich klingende Worte an "die palästinensische Gemeinschaft in unserem Land" gerichtet:
Sie alle sollen Raum haben, um Ihren Schmerz und Ihre Verzweiflung über die zivilen Opfer in Gaza zu zeigen, mit anderen zu teilen. Das Recht, das öffentlich und friedlich zu tun, ist von unserer Verfassung garantiert – und dieses Recht steht nicht in Frage. Und es darf keinen antimuslimischen Rassismus und auch keinen Generalverdacht gegen Muslime geben.
Frank Walter-Steinmeier
Was dann nach wenigen Sätzen folgte, war aber die "Bitte", genau diesen Generalverdacht zu widerlegen, den es eigentlich nicht geben darf – und Steinmeier sprach dabei auch nicht mehr nur von Muslimen oder der "palästinensischen Gemeinschaft", sondern erweiterte den Kreis der Angesprochenen noch einmal, indem er von "Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln" sprach:
Ich bitte Sie, die Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln in Deutschland: Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren! Sprechen Sie für sich selbst! Erteilen Sie dem Terror eine klare Absage!
Frank-Walter Steinmeier
Das Wort "Distanzierung" findet sich in dem Redemanuskript nicht – was erst einmal gut ist, denn eine Distanzierung setzt voraus, dass bisher eine Nähe bestand, die in sehr vielen Fällen gar nicht gegeben ist und nie gegeben war.
Unglückliche Wortwahl oder salbungsvolle Unterstellung?
Das Wort "Absage", das von vielen Medien mit "Distanzierung" übersetzt wurde, ist aber auch keine glücklichere Wahl, denn eine Absage folgt in der Regel auf eine Einladung oder Anfrage, die nur ein ausgewählter Personenkreis bekommt.
Die meisten Arabischstämmigen werden aber sehr wahrscheinlich nicht von Rekrutierungsbeauftragen der Hamas gefragt, ob sie demnächst mit einem Sturmgewehr auf jüdische Menschen losgehen wollen – und es findet auch unter Muslimen in Deutschland keine Urabstimmung über geplante Terrorakte der Hamas statt.
Die Hamas ist nicht einmal im Gazastreifen von Menschen gewählt worden, die heute jünger als Mitte 30 sind, denn die letzten Wahlen liegen dort so lange zurück, dass damals geborene Kinder inzwischen fast volljährig sind.
Von Menschen in Deutschland, die außer der ethnischen Herkunft buchstäblich nichts mit der Hamas gemeinsam haben, dürfte sie ihr Agieren erst recht nicht abhängig machen.
"Fürs Protokoll: Ich fühle mich ausgegrenzt"
"Der ganze Ton ist herablassend, orientalistisch und uninformiert. Fürs Protokoll: Ich fühle mich ausgegrenzt", schreibt der arabischstämmige Autor Yassin Musharbash auf der Plattform X, ehemals Twitter, über Steinmeiers Rede.
Ich bin solidarisch mit allen Jüdinnen und Juden, die Antisemitismus ausgesetzt sind. Aber abgesehen vom islamistischen Antisemitismus: Glaubt Herr Steinmeier, Islamisten haben außer Juden keine Feinde? Glaubt er, es gibt keine queeren, liberalen, demokratischen Araber?
Yassin Musharbash
In mehreren Artikeln sowie den Romanen "Radikal" und "Jenseits" hat Musharbash über islamistischen Terror und Radikalisierungsprozesse geschrieben. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn er sagt: "Ich muss mich nicht von der Hamas 'distanzieren'. Die Hamas hasst mich."
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