Lackierte Kampfhunde: das Auto als Waffe und männliche Selbstwertprothese
Seite 2: Viagra des männlichen Stolzes
Im März 2018, einen Tag, nachdem in den Medien groß über die Karlsruher Entscheidung, die das Berliner Mordurteil aufhob, berichtet worden war, kam es in Gießen am helllichten Tag auf dem innerstädtischen Anlagenring zu einem Rennen. Ein Porsche kam von der Fahrbahn ab und prallte gegen den Mast einer Ampel. Diesem Umstand verdankte ein zwölfjähriger Junge sein Überleben.
Vom Berliner Urteil hatte man sich eine abschreckende Wirkung versprochen: Potenzielle Täter sollten wissen, dass sie mit einer harten Bestrafung rechnen müssen, wenn sie das Leben anderer Menschen leichtfertig aufs Spiel setzen. Bislang wurden Raser auch dann, wenn Todesopfer zu beklagen waren, in der Regel nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Die Höchststrafe hierfür beträgt fünf Jahre.
Kommt bei einer innerstädtischen Raserei niemand zu Schaden, wird sie als Ordnungswidrigkeit behandelt, die mit einer Geldstrafe und einem befristeten Führerscheinentzug geahndet wird. Möglicherweise hatten die beiden Gießener Raser die enthemmende Botschaft, die von der Aufhebung des Urteils ausging, empfangen und feierten das auf ihre Weise.
Es kann aber auch sein, dass solche Straftaten zu jenen Delikten gehören, bei denen juristische Abschreckung nur bedingt oder gar nicht funktioniert. Es sind, wie wir eingangs gesehen haben, gruppendynamische Faktoren und psychische Prozesse am Werk, die den Gedanken an eine mögliche Strafe gar nicht aufkommen lassen.
Salopp gesagt: Wenn die männliche Ehre auf dem Spiel steht, ist alles andere egal! Um eine Kränkung abzuwehren, wird notfalls sogar der eigene Untergang in Kauf genommen. Wie gewisse Hunde keine Tiere, sondern das nach außen verlegte Aggressionspotenzial ihrer Besitzer sind, so sind gewisse Autos keine Fortbewegungsmittel, sondern lackierte Kampfhunde, die ihre Fahrer aufeinander loslassen.
Es sind männliche Selbstwertprothesen, die das schwächelnde männliche Selbstgefühl aufmöbeln. Die Kraft der Motoren entscheidet über den Status: je stärker und lauter, desto männlicher. Statt die Motorengeräusche zu dämpfen, werden sie durch Soundgeneratoren mutwillig verstärkt.
Jeden Abend verwandelt sich der innerstädtische Anlagenring in eine Rennstrecke. Einheimische und migrantische Jungmänner präsentieren stolz ihre aufgedonnerten Limousinen, meist schwarz und mit getönten Scheiben. Oft gehen die Mütter putzen, damit die Söhne die Leasingraten für ihre Luxusschlitten bezahlen und sich abends auf der Rennstrecke sehen lassen können. Die ganze Stadt dröhnt von den Motoren. Einen besonderen Kick vermitteln künstlich erzeugte Fehlzündungen.
Wie muss es um ein männliches Selbstwertgefühl bestellt sein, wenn es solcher Hilfsmittel und Prothesen bedarf?
Das Automobil erfüllt wie der Fußball in unserer Gesellschaft eine wichtige sozialpsychologische Funktion. Der Gashebel ist der einzige Hebel, den man noch betätigen kann, und das Auto wird zum Ventil, durch das die gestaute Wut derer entweichen kann, die in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression leben müssen und gleichzeitig in Unmündigkeit und Ohnmacht gefangen sind. So entwickelt sich der Straßenverkehr mehr und mehr zu einer Form des Krieges.
Nach einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fallen diesem Krieg weltweit jährlich 1,25 Millionen Menschen zum Opfer. Der steigende Absatz von Geländewagen, SUVs und Pick-ups zeugt auch hierzulande davon, dass auf den Straßen Krieg herrscht. Jeder macht sich zum Kommandanten seiner eigenen rollenden Festung. Wie in jedem Krieg, gibt es auch in diesem Leute, die gut an ihm verdienen.
Wenn es wahr ist, "dass man eine Nation erst dann wirklich kennt, wenn man in ihren Gefängnissen gewesen ist", wie Nelson Mandela gesagt hat, so könnte man auch den Straßenverkehr als Gradmesser dafür nehmen, wie es um die Zivilisiertheit einer Gesellschaft bestellt ist. Statt im Verkehr abzurüsten, was einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft gut zu Gesicht stünde und auch der Umwelt zugutekäme, werden wir Zeugen einer gigantischen Auto-Mobilmachung.
Das Automobil als Waffe
"Auch für Bevölkerungsmehrheiten ist … der Pkw längst zu einem gesellschaftlich akzeptierten Instrument der Realisierung homicidaler und suizidaler Tendenzen geworden", schrieb Peter Brückner in seiner Sozialpsychologie des Kapitalismus bereits im Jahr 1972. Mord und Selbstmord liegen oft dicht beieinander, für einen Moment ist in der Schwebe, in welche Richtung die destruktiven Energien sich wenden. Das Auto erlaubt die Verknüpfung beider in Gestalt einer spezifischen Form des erweiterten Suizids, für die sich der Begriff Amokfahrt eingebürgert hat.
Die Kette der in Deutschland mit Autos begangenen Amoktaten ist lang, unser Gedächtnis kurz. Eine der letzten fand Silvester 2018/19 in Bottrop statt, wo ein 50-jähriger arbeitsloser Deutscher seinen Wagen gezielt in Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund steuerte. Damals wurden zehn Personen verletzt. Im April 2018 raste ein Mann in Münster mit seinem Kleintransporter in ein Café und tötete vier Menschen.
Das Auto ist die Amokwaffe für Leute, die über keine Schusswaffen verfügen und auch nicht wissen, wie man sich welche beschaffen kann. In Heidelberg raste am Nachmittag des 25. Februar 2017 ein Auto in eine Menschenmenge vor einer Bäckerei eingangs der Fußgängerzone. Das Auto erfasste drei Passanten, bevor es gegen einen Pfosten prallte und zum Stehen kam. Zwei dieser Passanten wurden leicht verletzt, ein 73-jähriger Mann erlag Stunden nach der Tat in einer Klinik seinen Verletzungen. Der Fahrer floh zu Fuß und wurde später von der Polizei erschossen.
Am 1. August 2013 war in Regensburg ein 46-jähriger Mann mit seinem Auto durch die Stadt gerast. Er durchbrach eine Baustellenabsperrung, fuhr in Höchstgeschwindigkeit durch eine Fußgängerzone, wobei er Passanten erfasste und verletze, und krachte schließlich in die gläserne Eingangstür eines Waschsalons. Dabei erfasste der Wagen ein fünfjähriges Mädchen und ihre dreijährige Schwester. Das fünfjährige Mädchen starb, ihre jüngere Schwester wurde schwer verletzt.
Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 durchbrach ein Mann mit seinem Pkw die Absperrung um die Fanmeile am Brandenburger Tor, fuhr in die Menschenmenge und verletzte circa 20 Menschen. Ein Gericht erklärte ihn später für geisteskrank und wies ihn in die Psychiatrie ein.
In meinem Archiv stieß ich auch auf eine Amokfahrt in Österreich. Im Juni 2015 raste der 26-jährige Alen R. mit einem grünen Geländewagen in eine Menschenmasse in der Fußgängerzone der Grazer Innenstadt. Danach ging der Österreicher mit bosnischen Wurzeln mit einem Messer auf Passanten los. Bilanz der Bluttat: Drei Menschen starben, über 30 wurden verletzt.
In der Folge des Attentats von Nizza, wo im Jahr 2016 am französischen Nationalfeiertag ein Mann mit einem Lkw in die Menge der Feiernden raste und 86 Menschen tötete, hat sich der Amok mit einem Automobil als Waffe als neues "Modell des Fehlverhaltens" etabliert. Darunter versteht der französische Ethnologe Georges Devereux "Inszenierungsschablonen", die eine Gesellschaft, jenen zur Verfügung stellt, die diffus tatgestimmt sind.
Diese zeigen, wie man es machen kann, wenn man denn glaubt, es machen zu müssen. Eine solche Resonanzstraftat ereignete sich am Abend des 19. Dezember 2016 in Berlin. Ein islamistischer Attentäter lenkte einen gekaperten Sattelzug in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. Dabei starben elf Menschen - mit dem zuvor erschossenen Lkw-Fahrer waren es zwölf Todesopfer - und 55 wurden verletzt.
Fünf Tage nach dem rassistisch motivierten Massaker von Hanau, also am 24. Februar 2020, steuerte der 29-Jährige Maurice P. im nordhessischen Volkmarsen einen silbergrauen Mercedes in den Rosenmontagszug. Dabei hat er Dutzende von Menschen verletzt, darunter auch eine größere Anzahl von Kindern. Der Täter wurde verhaftet und muss sich wegen 91-fachen versuchten Mordes vor dem Landgericht Kassel verantworten. Der Prozess steht noch aus.
Die Amokfahrt von Trier
Im vorweihnachtlichen Trier raste am Dienstag, den 1. Dezember 2020, ein Mann mit einem SUV durch die Fußgängerzone. Nach bisherigem Ermittlungsstand tötete er fünf Menschen und verletzte vierundzwanzig weitere zum Teil schwer. Nach rund einem Kilometer gelang es der Polizei, den Fahrer zu stoppen und festzunehmen. Es soll sich um einen 51-jährigen Deutschen aus dem Umland von Trier handeln.
Der Mann sei alkoholisiert gewesen sein und die letzten Nächte in seinem Auto verbracht haben, heißt es aus Kreisen der Ermittler. Es klingt nach einem gut situierten Mann, der durch irgendein Ereignis aus seiner gewohnten Ordnung katapultiert worden ist und den Halt verloren hat. Er befand sich im freien Fall, den er offenbar nur noch katastrophal aufzuhalten vermochte.
Die Tat erinnert an die bereits kurz erwähnte Amokfahrt, die im April 2018 in Münster stattfand. Dort fuhr ein 48-jähriger Deutscher mit einem Kleinbus in ein Straßencafé, tötete zwei Menschen und verletzte zwanzig weitere. Der Mann erschoss sich anschließend selbst. Seine Motive blieben im Dunklen. Die Tat wurde als erweiterter Suizid aus persönlichen Gründen zu den Akten genommen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.