Land of Confusion
Seite 2: Auf dem rechten Auge blind
- Land of Confusion
- Auf dem rechten Auge blind
- Schüsse aus dem Konservatorium
- Auf einer Seite lesen
Zum Vorwurf der rechtsextremen Schlagseite des Maidans beschwichtigt der sogenannte "Realitätscheck", dass "nur ein kleiner Anteil an den Protestierenden" rechtsextremer Gesinnung gewesen sei. Doch entscheidend ist ja nicht allein die relative Menge dieser Extremisten, sondern vor allem deren Einfluss auf die Ereignisse - und dieser war eben tatsächlich sehr hoch (Maidan: Der verklärte Aufstand). Der Druck, mit Gewalt gegen Sicherheitskräfte und Regierungsgebäude vorzugehen, kam nicht von besorgten pro-europäischen Bürgern, die einfach ihren berechtigten Unmut über Korruption und Misswirtschaft äußerten, sondern aus den Kreisen des militanten und professionell organisierten Rechten Sektors. Deren Wortführer gaben den Ton an und lenkten die Eskalation.
Eine wichtige Rolle spielte der sogenannte "Kommandeur des Maidan", Andrij Parubij, ein Rechtsextremist, der nach dem Machtwechsel im Februar 2014 Chef des mächtigen Nationalen Sicherheitsrates der neuen Regierung wurde. Der Spiegel erwähnte erst kürzlich, ein Jahr nach den Ereignissen, dass Parubij am Tag des Maidan-Massakers Kontakt zum US-Botschafter in Kiew hatte.
Gerade die Rolle der militanten Rechtsextremen ist eng verknüpft mit dem dritten und wohl wichtigsten Punkt des Regierungspapiers, nämlich der - wieder vermeintlich russischen - Aussage: "Die Absetzung von Präsident Janukowitsch und die Einsetzung der Übergangsregierung waren ein Staatsstreich." In der gekürzten Zusammenfassung des Dokuments von Spiegel Online wurde dieser Punkt übrigens ausgespart. Vielleicht erinnert man sich in der dortigen Redaktion noch an die eigene differenzierte Analyse dieser Frage vom März vergangenen Jahres, derzufolge der Machtwechsel "rein juristisch" (O-Ton Spiegel) tatsächlich ein Staatsstreich war. Die Redakteure hatten diese Einsicht in die Fakten damals allerdings sogleich mit der Frage relativiert, "inwieweit diese Sicht in revolutionären Zeiten politisch maßgeblich" sei.
Kein Staatsstreich?
Etwas anders argumentiert nun das Papier des Auswärtigen Amtes. Dort heißt es, Janukowitsch sei in der Nacht vom 21. auf den 22. Februar 2014 aus Kiew geflohen und daher habe es "kein handlungsfähiges Staatsoberhaupt" mehr gegeben. Zur Verfassungstreue seiner Absetzung durch das Parlament heißt es dann konkret:
Es enthob dabei den Präsidenten nicht durch ein förmliches Impeachment-Verfahren nach Art. 111 der Verfassung seines Amtes, sondern stellte einen Staatsnotstand aufgrund von dessen Unfähigkeit zur Amtsausübung fest, da er sich "in verfassungswidriger Weise seinen Amtspflichten entzogen habe". Eine solche Situation ist in der ukrainischen Verfassung nicht explizit geregelt, so dass das Parlament als de facto einzig handlungsfähiges Verfassungsorgan die Notlage in Analogie zu Art. 108 (2) der Verfassung, der die krankheitsbedingte Amtsunfähigkeit regelt, behob.
Man könnte schmunzeln, wäre diese Art der "Verfassungsauslegung" und der "Behebung einer Notlage" nicht zugleich über die Maßen zynisch. Der gewählte Präsident (laut OSZE entsprach seine Wahl 2010 demokratischen Normen) flieht unter dem Druck bewaffneter Gewalttäter aus der Hauptstadt und anschließend entscheiden Parlamentarier, die zu der Zeit ebenfalls von Bewaffneten bedroht werden, über seine Ablösung wegen "krankheitsbedingter Amtsunfähigkeit". Das ist in der Tat wirklich krank - für die deutsche Bundesregierung aber offenbar kein Problem. Rechtsstaat, Verfassung, Wertegemeinschaft? Solche Begriffe sind anscheinend formbare Verhandlungssache.
Wer ist nun der Autor des Papiers? Das Auswärtige Amt äußerte sich auf Anfrage von Telepolis dazu nicht, sandte aber ein Exemplar des PDF-Dokumentes. In den Metadaten der Datei wird als Autor Hubert Knirsch genannt. Knirsch ist Leiter der politischen Abteilung an der deutschen Botschaft in Moskau. Zuvor war er unter anderem Referatsleiter im Auswärtigen Amt für Internationale Wirtschafts- und Handelspolitik. Eine Anfrage an die Deutsche Botschaft in Moskau, in welcher Form man dort an der Erstellung des Regierungspapiers beteiligt war, blieb bis Montagabend ohne Antwort.
Nachträgliche Ergänzung vom 25.2.2014: Am Mittwoch nach der Veröffentlichung dieses Artikels meldete sich das Auswärtige Amt bei Telepolis und wies darauf hin, dass Herr Knirsch nichts mit dem Papier zu tun habe.
Nachdenklich macht auch, welche öffentlich kontrovers diskutierten Punkte in dem Papier nicht erörtert werden. So kommt weder die Frage nach der Identität und den Auftraggebern der Scharfschützen auf dem Maidan vor, noch die Frage nach den Verantwortlichen für den Abschuss von Flug MH-17. Letzteres wurde ja mit einer Verschärfung der Sanktionen gegen Russland beantwortet, ohne dass die Tat selbst aufgeklärt worden war.