Land of Confusion

Seite 3: Schüsse aus dem Konservatorium

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Zum Massaker auf dem Maidan tauchen derweil auch im Mainstream abweichende Ansichten auf. So traf der erfahrene BBC-Korrespondent Gabriel Gatehouse inzwischen einen Maidan-Anhänger, der am frühen Morgen des 20. Februar 2014, dem Tag des Massakers, gemeinsam mit anderen auf Polizisten geschossen hatte. Im Spiegel waren kürzlich die gleichen Details zu lesen:

Donnerstag, 20. Februar 2014, Maidan am Morgen: (...) unbemerkt von den meisten Demonstranten wird seit Sonnenaufgang vom Konservatorium aus auf die Polizisten auf dem Platz geschossen. (...) Gegen acht Uhr landet Steinmeier in Kiew, der deutsche Botschafter holt ihn ab und fährt mit ihm ins Stadtzentrum. Irgendwann in diesen Minuten klingelt bei dem Oppositionsabgeordneten Andrij Schewtschenko das Telefon. Es ist Andrij Tkaschenko, der Kommandeur der Berkut-Einheit aus Dnipropetrowsk: Maidan-Aktivisten würden vom zweiten Stock des Konservatoriums auf die Polizisten schießen, sagt er wütend. Wenn sie nicht aufhörten, würde er zurückfeuern lassen. Schewtschenko wendet sich an Parubi.

Maidan, 8 Uhr. Als Parubi auf den Platz zurückkehrt, hört er Schüsse. Um 8.18 Uhr erhält er eine SMS von Schewtschenko: 'Berkut hat elf Verletzte. Sie drohen, ihre eigenen Scharfschützen zu holen.' Im Konservatorium macht der Kiewer Fotograf Jewgenij Maloletka in diesen Minuten Aufnahmen, zu sehen ist ein Mann mit Gasmaske und Jagdflinte. Ein Foto von 8.05 Uhr zeigt einen Kämpfer mit Kalaschnikow. Maidan-Anführer Parubi schickt seine besten Leute. 'Keine Schützen, wir haben das Konservatorium abgesucht', schreibt er danach per SMS an den Abgeordneten. Aber da ist es schon zu spät.

Soweit der Spiegel. Doch der Zeuge des BBC-Reporters, selbst Schütze, erinnert sich anders. Parubijs Leute seien ins Konservatorium gekommen und hätten befohlen, das Schießen einzustellen. Parubijs Aussage, im Konservatorium seien keine Schützen gewesen, wäre demnach eine Lüge. Der Schütze, ein ehemaliger Soldat, sagte dem BBC-Korrespondenten darüber hinaus, dass er bereits Ende Januar 2014 von einem Ex-Offizier des Militärs angeheuert worden wäre, der ihn aber davon abgehalten habe, sich anderen Gruppen auf dem Maidan anzuschließen und nur sagte: "Deine Zeit wird kommen." Ob der Schütze selbst nur das Cover für andere bieten sollte, also selbst nur ein kleines Rädchen in einem größeren Spiel war, bleibe unklar, so der BBC-Bericht.

Andere Belege für Schützen aus dem Maidan-Milieu waren bereits zwei Wochen nach dem Massaker zur besten Sendezeit im ZDF zu sehen. Dessen Korrespondentin Britta Hilpert musste ihr Zimmer im Hotel Ukraina räumen, weil Scharfschützen es besetzt hatten:

Unser Hotel stand zeitweise direkt an der Front auf der Institutska, unser Zimmer im 14. Stock wurde von bewaffneten Regierungsgegnern gekapert. Sie feuerten aus unserem Fenster, bis ein Kommandant sie wütend abkommandiert. Die Presse sollte da nicht mit reingezogen werden.

Der ARD-Journalist Stephan Stuchlick, der im Frühjahr 2014 für das Magazin Monitor mehrere Wochen vor Ort in Kiew zum Scharfschützenmassaker recherchiert hatte, meinte damals, er könne nicht ausschließen, dass auch eine ausländische Fraktion an dem Blutbad beteiligt war (Blutbad am Maidan: Wer waren die Todesschützen?):

Man kann so eine Beteiligung nicht ins Reich der Fabeln verweisen, dafür waren die Ereignisse in Kiew weltpolitisch zu bedeutsam. Um ganz ehrlich zu sein: Es ist vor allem die Tatsache, dass die Generalstaatsanwaltschaft im Interview mit uns so eine Möglichkeit kategorisch ausschließt, die mich darüber nachdenken lässt.

"An Aufklärung kein Interesse"

Der ehemalige ukrainische Innenminister Sachartschenko sagt dazu in einem aktuellen Interview:

Diese Vorgänge muss man vollständig aufklären und die Schuldigen zur Verantwortung ziehen, sonst wird die Ukraine keine Zukunft haben. Es gab doch genügend Spuren und Belege: die Einschläge in den Straßen, in den Reklametafeln, auch wenn die neuen Machthaber in Kiew sie teilweise beseitigt haben. Die Ärzte, die die Opfer behandelten, haben die Kugeln herausoperiert und waren bereit, sie den Ermittlern zu übergeben. Aber die Staatsanwaltschaft hat ihnen gesagt: Wir brauchen die nicht. Im Übrigen gibt es nichts Einfacheres, als festzustellen, aus welchen Waffen der Innenministeriumstruppen eine Kugel geschossen wurde. Alle ausgegebenen Waffen sind nämlich registriert und auch Kugelmuster aus diesen Waffen. Wenn aber aus anderen Waffen geschossen wurde, dann muss herausgefunden werden, wo diese herkamen.

Die neue Regierung hat an der Aufklärung aber kein Interesse. Ich sage Ihnen: Dieser Umsturz war von außen vorbereitet, und zwar über längere Zeit. Er sollte eigentlich erst 2015 stattfinden, zur Präsidentenwahl. Aber dann hat man den günstigen Moment nach der Ablehnung des EU-Assoziierungsabkommens genutzt. Und die Revolution brauchte eben ihre 'heiligen Opfer', ihre Märtyrer.

An einer rechtsstaatlichen und sauberen Ermittlung der Scharfschützen scheinen die derzeitigen ukrainischen Machthaber dabei genau so wenig Interesse zu haben wie die deutsche Bundesregierung. Letztere streitet stattdessen weiter ab, es habe auch nur ein Putsch stattgefunden. Dabei ist das Kriterium für die Bewertung, ob ein Staatsstreich vorliegt, eigentlich klar: Es geht nicht darum, ob der jeweilige Präsident seinen Posten verlässt oder nicht, sondern einzig um die Frage, ob sein Rückzug mit Gewalt erzwungen wurde. Dies jedoch lässt sich kaum ernsthaft bestreiten.

Wo aber schon so einfache Wortdefinitionen in Frage stehen, ist man womöglich längst im "Land of Confusion" angekommen, das bereits im gleichnamigen 80er-Jahre-Hit zornig besungen wurde. Im satirischen Musikvideo dazu leidet die Karikatur eines US-Präsidenten unter dramatischem Realitätsverlust und drückt am Ende versehentlich den falschen von zwei Knöpfen: statt "Nurse" (Krankenschwester) entscheidet sich der verwirrte Staatenlenker für "Nuke" (Atombombe).

Dass die Richtigkeit der Sprache über die Qualität der Entscheidungen bestimmt, ist eine Banalität, die aber viele vergessen zu haben scheinen. Wo eine Regierung eine kontroverse und parteiische Geschichtsauslegung stolz im selbstverfassten "Realitätscheck" zur Wahrheit ernennt, und wo die Presse zu diesem Eigentor auch noch Beifall klatscht - da liegt offensichtlich einiges im Argen.

Anmerkung: Weder das Auswärtige Amt noch das Bundespresseamt wollten weitere Fragen von Telepolis zu den Umständen der Entstehung des Regierungspapiers beantworten.