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Lasst die Corona-Toten ruhen!

Von privater und politischer Trauer. Bild: paulsteuber, Pixabay

Der Gedenkakt für die Verstorbenen der Pandemie hat geschmerzt. Nicht wegen der berechtigten Trauer, sondern wegen der Politisierung der Opfer

Wenn Trauer politisch wird, ist Argwohn angebracht. So auch beim kirchlich begleiteten "zentralen Gedenkakt" für die fast 80.000 Menschen, die in Deutschland seit Beginn der Corona-Pandemie an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben sind.

Denn was als Gedenken für die Toten angekündigt worden war, bekam eine derart politische Schlagseite, dass es beim Zusehen schmerzte. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier machte - eingebettet in Schilderungen privater Schicksale - gar nicht erst den Versuch, das politische Momentum hinter der Inszenierung zu verbergen.

Der Sozialdemokrat hob zu einer moralinen Verteidigung "der Politik" an, was sich im Manuskript seiner Redenschreiber dann so klang: "Die Politik musste schwierige, manchmal tragische Entscheidungen treffen, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern." Sicherlich: Steinmeier ließ auch Fehler nicht unerwähnt. Doch um die ging es bei der Veranstaltung am Berliner Gendarmenmarkt nicht.

Staatliche Trauerakte folgen in der Regel auf unvorhersehbare Schicksalsschläge. Naturkatastrophen etwa, mitunter erweiterte Suizide, zuletzt immer wieder auch Terroranschläge. Tragische Ereignisse, die Menschen jäh aus dem Leben reißen und den Hinterbliebenen den Verlust zu überwinden helfen sollen. Es geht um Gefahrensituationen, die nicht abgewendet werden konnten. Das Gedenken soll beim Aufbruch in ein Leben nach dem Schicksalsschlag helfen.

Natürlich bleiben auch bei politisch motivierten Massenmorden anhaltende Debatten über Rolle und Verantwortung des Staates nicht aus. Was hätte er verhindern, wie die Menschen in seinem Obhutsbereich besser schützen können? Diese Diskussionen werden im Rückblick geführt, um Fehler zu vermeiden. Das ist ein zentraler Unterschied zu dem Gedenken mit Steinmeier sowie den Spitzen der anderen vier Verfassungsorgane: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundesratspräsident Reiner Haseloff, Bundeskanzlerin Angela Merkel (alle CDU) und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth.

Politisches Ereignis unter Deckmantel persönlicher Trauer

Denn bei der Corona-Pandemie und ihren Toten handelt es sich gewissermaßen um eine Naturkatastrophe, die die Gesellschaft und die jedes einzelne Mitglied dieser Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft trifft und weiter treffen wird. Das bedeutet auch, dass die Regierung und die übrigen Verfassungsorgane, während im Berliner Konzerthaus der bisherigen Toten gedacht wurde, mit der Vermeidung weiteren Leids betraut sind.

Beachtet man diese Singularität, kam es einem vor, als rufe der Katastrophenschutz inmitten einer aufbrandenden Jahrhundert-Sturmflut zur Trauer um die bisherigen Opfer an der Küstenlinie. Oder als hielten die Sicherheitsbehörden während eines laufenden Terroranschlags inne, um der die ersten Getöteten zu gedenken.

Der Trauerakt im historischen Zentrum der Bundeshauptstadt am Sonntag wirft Fragen nach den Intentionen auf. Wer vermag angesichts der Rede Steinmeiers und der Präsenz konkret Verantwortlicher für das Krisenmanagement noch ausschließen, dass es sich um nichts anderes als ein politisches Ereignis unter dem Deckmantel der persönlichen Trauer handelte; professionell choreografiert, mit sorgsam ausgesuchten Akteuren?

Inmitten einer pandemischen Notlage und einer gesellschaftlichen Katastrophe, die politische Folgen haben wird und muss, war diese in ihrer Form einzigartige Gedenkveranstaltung auch darauf angelegt, eine moralische Brandmauer gegen jede kritische Debatte zu errichten.

Wer mag zwischen den Klängen von Pachelbel und Brahms schon aufstehen und wütend in den Raum rufen: "Warum liegt denn die Rate vollständig Geimpfter denn erst bei 6,5 Prozent? Weshalb ist dieses gewinnorientierte Gesundheitswesen schon zu Beginn der Krise an seine Grenzen gestoßen? Wieso gibt es noch keine Programme für eine effiziente Intensivversorgung?" Und wo ist sie denn, die Anerkennung der Pflegerinnen und Pfleger, die sich für die Leidenden und Sterbenden im wahrsten Sinne des Wortes tagtäglich und allnächtlich aufopfern?

Die Inszenierung der Trauer durch einen verantwortlichen Staat ist wohlfeil, sofern sie den vorhandenen Fragen oder gar dem Unmut keinen Raum bietet.

Der Wert der Toten

Das staatliche Gedenken an die Corona-Toten wirft in seiner moralischen Dimension noch eine weitere zentrale Frage auf, um die man nicht umher kommt. Wessen wird hier eigentlich gedacht, wer zählt als Opfer der Pandemie? Schon jetzt weisen Fachgesellschaften und -organisationen auf die zu erwartenden verheerenden Folgen gleichermaßen der Pandemie wie der Pandemie-Maßnahmen hin. Die Debatte um die Entwicklung der Suizidzahlen hat gerade erst begonnen und entwickelt sich bisweilen in einer für die Maßnahmenverantwortlichen unangenehme Richtung.

Wie mag das Gedenken in Berlin auf jene gewirkt haben, die – noch inmitten der Seuche – Angehörige durch Suizid verloren haben, durch nicht behandelte onkologische Erkrankungen oder ischämische Leiden? Seit einem Jahr laufen Gesundheitswesen und Krankenhäuser in Notbetrieb, viele notwendige Behandlungen bleiben aus, Prävention findet kaum mehr statt. Wer zählt die Opfer der staatlichen Entscheidung, die zu dieser andauernden Notlage geführt haben, wer steht ihren Hinterbliebenen zur Seite?

Und, dieser Disclaimer scheint stets nötig, entsprechende Fragen relativieren das Leid der Corona-Toten nicht. Die Bilder von den Corona-Intensivstationen und die Berichte von Ärzten sowie Pflegepersonal sind deutlich: Auch wenn die Pandemie keine Bedrohung für die Masse der Menschen ist, bleibt sie für die Betroffenen eine unberechenbare und tödliche Gefahr, angesichts derer die gesamtgesellschaftliche Verantwortung diskutiert werden muss.

Pathetische und moralingetränkte Schauveranstaltungen, wie sie in Berlin stattgefunden haben, verfolgen aber mindestens auch einen weiteren Zweck: die ebenso wichtige Debatte um die Folgen der Pandemie-Maßnahmen mitsamt ihrer politischen Implikationen zu verhindern und die Verantwortlichen in Konsequenz vor notwendigen Fragen zu schützen. Es ist, wenn man so will, eine Instrumentalisierung der Toten und der Trauer.

Es bleibt dabei: Die Pflicht des Staates ist in erster Linie, die Lebenden zu schützen. Nicht die Toten zu betrauern.


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