Lateinamerika: Wie Ecuador vom zweitsichersten Land zum Kokain-Exporteur für Europa wurde

Jorge Jurado

Polizist bei einer Zeremonie in Ecuador. Bild: Carlos Silva /Presidencia de la República

Ecuador versinkt im Chaos. Kriminelle Gruppen wüten. Das ist erst der Anfang, Es drohen Konsequenzen für die gesamte Region. Ein Hintergrund.

Seit Mitte Januar befindet sich Ecuador nach einem Dekret des Präsidenten in einem bewaffneten internen Konflikt. Auslöser war eine Welle massiver organisierter und koordinierter Gewalt durch verschiedene kriminelle Gruppen. Unser Land erlebt seither sogar die schwerste Gewaltwelle in seiner Geschichte.

Hintergründe des bewaffneten Konflikts

Diese Gewalt äußerte sich in einer Reihe von Morden, Bombenanschlägen, Brandanschlägen auf Fahrzeuge, der Flucht gefährlicher Häftlinge, der Meuterei von Häftlingen in Gefängnissen, der Entführung von Hunderten von Gefängnisdirektoren und sogar dem Angriff auf den staatlichen Fernsehsender TC in Guayaquil mit dem einhergehenden Kidnapping mehrerer Journalisten.

Zur Eskalation kam es gleichzeitig in mehreren Städten. Es kam zur Panik in der Bevölkerung, der Schließung von Geschäften aller Art, der Einstellung des öffentlichen Verkehrs und aller Aktivitäten des Bildungswesens.

Probleme im ecuadorianischen Haftsystem

Am Anfang der verheerenden Kettenreaktion soll der Versuch gestanden haben, zwei Anführer der gefährlichsten Banden des Landes in andere Gefängnisse zu verlegen. Einer von ihnen verschwand buchstäblich aus dem Gefängnis – und das nur wenige Tage vor dem Ausbruch der Unruhen. Schon dieses Detail zeigt die absolute Schwäche des Staates bei der Kontrolle illegaler Aktivitäten innerhalb seiner Haftanstalten.

All das ist die Folge eines mehrjährigen Abbaus sowohl der institutionellen als auch der staatlichen Kapazitäten durch die Anwendung neoliberaler Konzepte. Die Gestaltung und Umsetzung der Sozialpolitik wurde durch drastische Kürzungen der zuvor bestehenden Betriebsbudgets geschwächt, insbesondere während der Covid-19-Pandemie und in der Zeit danach.

Wirtschaftliche Herausforderungen in Ecuador

Nachhaltige wirtschaftliche Aktivitäten im Bereich der Kleinen und Mittleren Unternehmen wurden zerstörte und die Arbeitslosigkeit in die Höhe getrieben.

Unser Gastautor Jorge Jurado war von 2011 bis 2016 Botschafter von Ecuador in Deutschland.

Seit 2020 hat sich die Wirtschaft nicht von dem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 7,8 Prozent erholt, während die extreme Armut von 8,9 Prozent auf 10,7 Prozent angestiegen ist.

Die Rolle des Drogenhandels in Ecuador

Diese Situation hat zu Armut und extremer Armut bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen geführt, etwa bei Kindern und Jugendlichen, die das Bildungssystem verlassen haben oder mit ihren Familien über extrem gefährliche Routen emigriert sind. Ihnen allen bot das Land nur noch ein Leben ohne Chancen und Zukunft.

Vor diesem Hintergrund haben kriminelle Gruppen ein fruchtbares Feld gefunden. Sie konnten ihre Präsenz festigen, indem sie die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen in ihre illegalen Aktivitäten einbezogen haben. Unmittelbare Folge waren Konflikte zwischen kriminellen Gruppen.

Um den Transport und Export von Kokain aus Nachbarländern wie Kolumbien und Peru zu erleichtern, suchten die Drogenkartelle nach einem dritten Exportziel und nutzten dabei die strategische Lage Ecuadors sowohl zum Pazifik als auch zum Amazonasbecken.

Paradoxerweise haben sich die Gefängnisse in regelrechte Zentren der Verwaltung krimineller Aktivitäten verwandelt, mit den daraus resultierenden Machtkämpfen innerhalb dieser Anstalten. Zwischen dem 23. Februar 2021 und dem 18. November 2022 wurden offiziell 413 Opfer in elf Massakern von ungewöhnlicher Grausamkeit gezählt. Dies ist ein Beispiel für die Unfähigkeit des Staates, die Gefängnisse zu verwalten und das Recht auf Leben der Insassen zu garantieren.

Der Einfluss der Korruption auf das Land

Gleichzeitig hat die illegale Tätigkeit des Drogenhandels und -exports die Korruption in praktisch allen Bereichen der geschwächten staatlichen Institutionen verstärkt, insbesondere durch die Verwicklung der Strafverfolgungsbehörden in Skandale der Drogenwäsche, des aktiven Drogenhandels und der geschlechtsspezifischen Gewalt, so die Expertin Carolina Andrade. Die Interessen des Drogenhandels haben verschiedene staatliche Gewalten durchdrungen, wie die Exekutive und die Justiz, aber auch die Provinz- und Kommunalregierungen.

Politische Verflechtungen und Machtmissbrauch in Ecuador

Die soziale Gleichgültigkeit der wirtschaftlichen Eliten hat zugenommen, was wiederum die sozialen Ungleichheiten verschärft hat. Ein Beispiel: Während der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Guillermo Lasso (05/2021-11/2023) wurde nach Erkenntnissen der Generalstaatsanwaltschaft nach Absprachen zwischen den ehemaligen Regierungsmitgliedern und Vertretern der albanischen Mafia ein willfähriger Minister ernannt.

Dieses Manöver ermöglichte die Manipulation der Verwaltungsverfahren zur Regulierung der Bananenproduktion und des Bananenexports und führte zu einer betrügerischen Vergrößerung der Anbaufläche um 20.000 Hektar und der entsprechenden Exportgenehmigungen. Dieser Export wurde offenbar vorsätzlich für die Verbringung von Drogen auf den europäischen Markt genutzt. Auch in Deutschland ist seither immer wieder Kokain in Bananenkisten gefunden worden.

Die Auswirkungen auf die internationale Gemeinschaft

Heute ist die entfesselte Gewalt zu einer neuen Realität geworden, die wir früher nicht kannten. Es gibt Erpressung von Händlern, Klein- und Kleinstunternehmen, aber es gibt sogar Fälle, in denen Schulbusse und Schulen ins Visier der Kriminellen geraten. Sie drohen mit Gewalt und Tod.

In mehreren Küstenstädten, in denen diese Aktivitäten zugenommen haben, wurden bereits zahlreiche Morde an Personen verübt, die sich weigerten, Lösegeld zu zahlen. Auch die Zahl der Entführungen hat im Vergleich zu früheren Zeiten zugenommen. Es ist offensichtlich, dass die Unsicherheit zu einer Geißel der Gesellschaft geworden ist, was durch mehrere Umfragen bestätigt wird.

Noch vor sieben Jahren war Ecuador das zweitsicherste Land Lateinamerikas, dem ungleichsten Kontinent der Welt, sogar vor den USA, wie der damalige Tourismusminister bekräftigt. 85 Prozent der Energie basierte auf erneuerbarer Wasserkraft, was einen wichtigen Beitrag zur Verlangsamung des Klimawandels leistete.

Es gab neben den Erdölexporten eine Produktion verschiedener Agrar- und Aquakulturprodukte wie Bananen, Garnelen, Kaffee, Kakao u.a. Und die Armut konnte reduziert werden. In den zehn Jahren von 2007 bis 2017 entstand so eine Mittelschicht von mehr als einer Million Menschen.

Heute befindet sich das Land in der schwersten Krise seiner über 200-jährigen republikanischen Geschichte.

Ecuador, das in Lateinamerika als beispielhaft galt, hat eine massive Verschlechterung seiner wirtschaftlichen, sozialen, administrativen und institutionellen Situation erlebt, die mit einem Prozess der Verunsicherung der Bevölkerung einhergeht. Im vergangenen Jahr 2023 wurde Ecuador mit 7.878 vorsätzlichen Morden, also 46,5 Morden pro 100.000 Einwohner, zum gewalttätigsten Land Lateinamerikas und überholte sogar Mexiko und Kolumbien, die sich bis dahin durch dieses Merkmal ausgezeichnet und an der Spitze der lateinamerikanischen Statistiken gestanden hatten.

Ecuador als neuer Kokain-Exporteur für Europa

Heute hat Ecuador die traurige Rolle des größten Exporteurs von Kokain nach Europa übernommen. Mehrere Faktoren haben dazu geführt, dass das Land diesem Irrweg genommen hat.

Die wichtigsten Zentren für den Anbau und die Herstellung von Kokablättern und Kokain sind seit Jahrzehnten seine Nachbarn, Kolumbien im Norden und Peru im Süden.

Die Rolle der Dollarisierung in Ecuador

Ecuador, das sich in der Mitte zwischen zwei großen Drogenproduzenten befindet, stellt sich somit als ein günstiges Gebiet für den Transport und den Export dieser Substanzen zu den Verbrauchermärkten dar.

Nach Angaben des Botschafters in Quito, Charles-Michel Geurts, sind mindestens 80 Prozent der über ecuadorianische Häfen verschifften Drogen für Länder der EU bestimmt, in denen ein "signifikantes Konsumwachstum" zu verzeichnen ist. Seit Mai 2021 hat Ecuador mehr als 500 Tonnen Rauschgift beschlagnahmt.

Ein weiterer Faktor von unbestreitbarer Bedeutung ist die Tatsache, dass Ecuador im Jahr 2000 den US-Dollar als Währung eingeführt hat und damit das einzige formal dollarisierte Land Südamerikas ist.

Geldwäsche und ihre Auswirkungen

Die illegale Ökonomie des Kokainmarktes profitiert in hohem Maße davon, dass sie direkt in einer harten und frei verfügbaren Währung handeln kann, ohne die Hürden des Geldumtauschs zwischen verschiedenen Währungen überwinden zu müssen.

In Anbetracht der Tatsache, dass dieser Markt auch als interner Geldwäschemarkt fungiert, der nach Angaben des Thinktanks Lateinamerikanisches Strategiezentrum für Geopolitik (CELAG) zwischen einem und fünf Prozent des ecuadorianischen BIP ausmacht, was durchschnittlich 3,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr entspricht, gibt es ein großes Potenzial für Geldwäsche in verschiedene Wirtschaftssektoren wie Immobilien, der landwirtschaftlichen Produktion und Exporten – und in jüngster Zeit auch im illegalen Bergbau.

Der steigende Kokainkonsum und seine Folgen

Die massiv steigende Kokainproduktion hat zudem zur Entstehung eines Binnenmarkts geführt, der zuvor in diesem Maße nicht existiert hat. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung liegt der durchschnittliche Konsum dieser illegalen Substanzen in Lateinamerika bei 24 Prozent. Nach Angaben der Sekretärin für Sicherheit der Stadtverwaltung von Quito liegt der Konsum in Ecuador um 11,41 Prozent über dem Wert der Vereinten Nationen.

Mit der Erklärung des "internen bewaffneten Konflikts" und der Verhängung des 60-tägigen Ausnahmezustands setzt die Exekutive die Verfassungsrechte auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Unverletzlichkeit der Korrespondenz, Transitfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Informationsfreiheit aus.

Einschränkung der Verfassungsrechte und Ausnahmezustand

Die Erklärung des internen bewaffneten Konflikts überträgt den Streitkräften die Verantwortung, kriminelle Gruppen als terroristische Gruppen und damit als militärische Ziele zu betrachten, um die kriminellen Aktivitäten der verschiedenen Akteure zu kontrollieren.

Die Gewaltphänomene, die sich aus einer Reihe von illegalen Aktivitäten im Kontext der Drogenproduktion, dem Drogenhandel, dem Drogentransit und dem Drogenexport in großem Maßstab ergeben, lassen sich nur durch die Zunahme des Kokainkonsums in den westlichen Gesellschaften – insbesondere in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union – erklären.

Die Wechselbeziehung zwischen dem Verlangen nach Kokain und der Gewalt, die es in Ecuador ausgelöst hat, lässt sich am besten mit den Worten des uruguayischen Schriftstellers Eduardo Galeano veranschaulichen. Er sagte einmal: "Während sie ihre Nasen senken, sinken bei uns die Toten nieder".

Internationale Verantwortung und Handelsabhängigkeit

Es liegt auf der Hand, dass die am weitesten entwickelten Staaten, ihre Politiker, ihr Finanzsektor und ihre Eliten eine klare Verantwortung tragen. Gleichzeitig ist ihre Politik ständig darauf ausgerichtet, alle möglichen Maßnahmen in den Erzeuger- und Exportländern zu fordern, auch unter eklatanter Missachtung ihrer Souveränität.

Solange es keinen wirklichen politischen Willen gibt, einen globalen Ansatz zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels zu entwickeln, wird die Abhängigkeit der Länder des Südens fortbestehen. Man erinnere sich nur daran, auf welch perverse Weise das britische Empire zu Beginn der merkantilistischen Phase des Handels durch die erlaubten Machenschaften eines Privatunternehmens, der East India Trading Company, unermesslich reich wurde, als es Opium aus Indien nach China importierte, um seine Handelsabhängigkeit zu sichern.

Auch das war ein Grund für zwei imperiale Kriege.

Jorge Jurado ist ein ecuadorianischer Politiker und Diplomat. Nach seinem Studium an der Technischen Universität in Berlin arbeitete Jorge zunächst einige Zeit in Deutschland. Von 2008 bis 2010 bekleidete er die Position des Wasserwirtschaftsministers und setzte sich für den Schutz dieser Ressource ein. Von 2011 bis 2016 vertrat Jurado Ecuador als Botschafter in Berlin.