Leben im Computer?

Auf der siebten Europäischen Konferenz zum Thema "Artificial Life" ging es auch darum, ob es in diesem Bereich Emergenz tatsächlich gibt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

1987 ist bei einer Konferenz in Los Alamos/USA das Forschungsgebiet des Künstlichen Lebens - Artificial Life (abgekürzt Alife) - begründet worden. Im Zentrum der Forschung steht die Frage nach den grundlegenden Mechanismen des Lebens. Wie kann man die biologischen Prozesse der Selbstorganisation verstehen und sind sie informationstechnisch reproduzierbar? Während einige das weitgesteckte Ziel verfolgen, lebende Systeme aus nicht-lebenden Einzelteilen zu konstruieren und damit die Kluft zwischen wissenschaftlichem Computermodell und physischer Wirklichkeit zu überbrücken, sehen andere die Alife-Forschung vor allem als Beitrag zur theoretischen Biologie. In Dortmund fand vom 14.-17.9. die siebte Europäische Konferenz zu diesem Thema statt, die Ecal 2003.

Robotschlange, die ihre Gestalt wechseln kann, von Peter Bentley.

Während das klassische Gebiet der Künstlichen Intelligenz in eine Sackgassebgeraten ist, hat die Alife-Forschung einen enormen Aufschwung genommen. Die Raumfahrtindustriebbeispielsweise investiert viel Geld, um autonome Robotereinheiten zu entwerfen, die auf anderenbPlaneten sich relativ frei bewegen können. Es geht dabei nicht darum, die Steuerung und Bewegung solcher Roboter "von oben" zu konstruieren (der "Top down"-Ansatz), sondern sie sich "von unten" ("bottom up") entwickeln zu lassen.

Das Programm der European Conference on Artificial Life 2003 war breit angelegt und zeigt, dass sich die Alife-Forschung zu einem respektablen Forschungsgebiet entwickelt hat, das von Biologen, Chemikern, Sprachwissenschaftlern und Robotik-Ingenieuren bearbeitet wird. Titel von Vorträgen lauteten "How to program artificial chemistries", "Artificial organisms that sleep" oder "Evolving fractal gene regulatory networks for robot control". Nähern wir uns diesem komplexen und vielfältigen Gebiet in einigen Schritten.

Digitale Alchemie?

Auf dem Bildschirm sieht man eine Menge roter Punkte, die sich als Formation gegen eine Menge blauer Punkte richten oder um sie herumbewegen. Mit der Zeit laufen Prozesse ab, die dazu führen, dass die roten Punkte die blauen verdrängen. Was wird da vorgeführt? Handelt es sich wirklich um eine (elektronische) Lebensform?

Dass man Leben im Computer erzeugen will, erscheint auf den ersten Blick reichlich mystisch. Tamagotchis und besonders Computerspiele wie "Creatures" haben sich mit dem Etikett "Alife" geschmückt. Während das Leben ein komplexer chemischer Prozess ist, der seine Energie aus der Sonne bezieht, verbraucht Alife im Computer Rechenzeit. Man startet beispielsweise mit einer Zufallspopulation aus Einzelindividuen, setzt diese gegen ein anderes Populationsprogramm und lässt sie nach Regeln der Mutation und des Wettbewerbs interagieren. Dazu Peter Bentley, Informatiker am University College in London:

Wir ahmen sie nicht nach, wir geben nicht vor, dass es "Evolution" ist, sondern wir benutzen sie tatsächlich. Wir haben in einem Computer Populationen von "Individuen"; für das Entwickeln eines Programms haben wir Populationen von kleinen Computerprogrammen. Jedes davon hat seine eigene DNS. Die besseren Programme haben mehr "Nachkommen", und diese Nachkommen tragen die digitalen Gene ihrer Eltern. Nach vielen Generationen produziert die Evolution bessere Gene, was in besseren Programmen resultiert.

Visuelle Darstellung von Tom Rays Simulation "Tierra". Rot: Wirte, Gelb: Parasiten

Man brauche dazu nur das digitale Äquivalent von Genen, das Äquivalent von Zellen, aber der Schlüssel sei, dass diese Bausteine so einfach wie möglich sein müssen. Bentley vergleicht dieses mit Lego-Bausteinen. Je einfacher diese seien, desto vielfältiger würden die Dinge, die man damit anstellen kann, als wenn die Bausteine selbst schon gestaltet wären.

Doch wie wird eine Kontrolle ausgeübt, wie wird Einfluss auf den digitalen Lebensprozess genommen? Das geschehe nicht auf der Ebene des Codes, meint Bentley, schließlich soll das Alife-System seinen eigenen Code schreiben und seine eigenen Lösungen finden. Um aber nützliche Lösungen zu bekommen, gebe man dem Programm eine Umgebung. Man gibt nicht die Lösung des Problems vor, aber einen Rahmen, in dem automatisch eine Lösung gefunden werde. Wenn man sich darüber im Klaren ist, was entstehen soll, setze man eine eingegrenzte Umgebung fest, in der das Programm, das "überleben" will, sich nur in einer "Nische" entwickeln könne. Ansonsten lehne man sich zurück und lasse die Dinge laufen ...

Was ist "Emergenz"?

Ein zentrales Konzept dieser Wissenschaft ist das der Emergenz, des Auftauchens von Komplexität aus dem Zusammenspiel solcher einfacher Bausteine. Was da emergent werde, sei mehr als die Summe seiner Teile. Doch dieses Konzept ist in seiner Anwendung auf die Biologie nicht unumstritten. Peter Bentley erläutert diesen Begriff.

Wenn man eine Ansammlung einfacher Dinge hat, vielleicht eine Ansammlung von Zellen oder von Ameisen, und diese Dinge interagieren auf eine Weise - sie müssen auf die richtige Weise interagieren. Durch wirklich ganz einfache Regeln der Interaktion erhält man Komplexität,Muster, die sich formen, und komplexes Verhalten, das auftaucht. Es sieht irgendwie so aus, als bekommt man mehr raus als man reingesteckt hat.

Als Beispiel dafür sei ein Ameisenvolk genauer betrachtet, das als Ganzes ein Verhalten zeigt, das über die Informationskapazität einer einzelnen Ameise weit hinausgeht. Thomas Christaller, Leiter des Fraunhofer-Instituts für autonome intelligente Systeme in Sankt Augustin, ist allerdings skeptisch, was den Erklärungswert des Emergenz-Begriffs in diesem Zusammenhang angeht.

Hat jemand schon mal eine individuelle einzelne Ameise gesehen, die überlebt hat? Da denke ich, nein. Hat man schon mal zehn Ameisen gesehen, die überlebt haben? Nein. Tausend? Nein. Das heißt also: Erst wenn eine genügend große Population in so einem Ameisenvolk da ist, dann ist überhaupt die einzelne Ameise selbst überlebensfähig. Und nun kann man natürlich heftig darüber streiten, was da emergent und was nicht-emergent ist. Ich denke, dass eben unter dem evolutionären Druck die Ameisen sich so entwickelt haben, dass in dem Individuum genau so viel realisiert wurde - was die "an Bord" haben sozusagen -, dass es ausreichte, um diese anonyme soziale Gesellschaft als Ameisenvolk zu realisieren, damit das Individuum selber überlebensfähig wird. Man könnte auch sagen, die Ameise ist emergent entstanden aus dem Ameisenvolk.

Emergenz sei ein Begriff, der aus der Physik und der Chemie stamme, und es sei schwierig, ihn ohne entsprechende Anpassung der formalen Beschreibung auf biologische Systeme zu übertragen.

Das Problem der "initialen Repräsentation"

Bentley hat erwähnt, dass eine Umgebung für die digitalen Lebewesen eingerichtet werden muss. Was immer die erwähnten Alife-Programme an komplexen Erscheinungen zeigen, ihre "Initialzündung" erfolgt durch den Wissenschaftler. Thomas Christaller ist sogar der Meinung, dass neunzig Prozent der Zeit in die Vorbereitung solcher Software-Experimente gehen und nur zehn Prozent in ihren automatischen Ablauf. Schon deshalb könne es keine Emergenz geben.

In der Alife-Forschung kommt es meines Erachtens nicht vor, weil derjenige, der das Alife-System baut, nie erklären kann, dass er nicht schon grundsätzlich mit Intention behaftet die Ingredienzien dafür eingebaut hat, und anschließend etwas findet, was er dann als emergent bezeichnet. Man steckt das Ergebnis schon von vornherein rein, dann macht man die Augen zu, stellt den Computer ein und lässt ihn laufen. Schließlich guckt man erstaunt auf das Ergebnis, hat vergessen, was man reingetan hat und schreit: Heureka! Es ist intelligent, es ist emergent, es ist Leben."

Der Robotik-Forscher Jordan Pollack äußerte eine ähnliche Kritik, indem er darauf hinwies, dass der verbleibende menschliche "Rest" bei Alife-Programmen groß sei und es sich letztlich um einen evolutionären "Pseudocode" handele, der im Computer gestartet wird. So sei die Annahme eines Wettbewerbs zwischen konkurrierenden Populationen in gewisser Weise Teil des Werteverständnisses westlicher Gesellschaften, und es sei gar nicht ausgemacht, ob man mit anderen Programm-Einstellungen des Miteinander-Entwickelns, der "Ko-Evolution", nicht interessantere Ergebnisse erzielen könne.

Die Perspektive der Robotik

Wenn wir die Kontroverse um die Definition von "Emergenz" oder die "initiale Repräsentation" oder die Frage, ob es sich bei Alife nun tatsächlich um "Leben" handelt, beiseite lassen, so gibt es ein Gebiet, auf dem die unterschiedlichen Herangehensweisen an dieses Thema zusammenfinden und eine gemeinsame Forschungsperspektive entsteht: die Steuerung und Gestaltung von Robotern.

Auch der Alife-Ansatz erreiche nur einen bestimmten Grad von Komplexität, ist sich Peter Bentley bewusst, wenn seine Programme nur im Computer realisiert werden. Die Biologie funktioniere, weil die DNS in einer realen Umgebung verkörpert wird, in der die Gesetze der Physik herrschen. Die Grenze zwischen dem Computer und der äußeren Welt müsse überwunden werden. Physische Artefakte sollten entstehen, die mit diesen Gesetzen interagieren.

Bentley arbeitet an einer "Roboter-Schlange", die über "Muskelverbindungen" aus intelligentem Material verfügt, deren Bewegungen man im einzelnen nicht vorhersehen kann. Der Wissenschaftler entwirft ein "Gehirn" für den Roboter, mit dem dieser selbständig lernen soll, die Antriebsmuskeln zu benutzen und gegebenenfalls den Ausfall einzelner Muskeln auszugleichen.

Die künstlichen Alife-Lebensformen sollten "Blaupausen" für Roboter sein, meinte Jordan Pollack in seinem Vortrag. Er ist ein Pionier der Anwendung von Evolutionsverfahren auf materielle Konstruktionen (Erste sich selbst auch materiell replizierende Roboter sowie Golem@home). Abschließend Christaller:

Das wäre die spannendste Geschichte, dass man diese Verfahren auf das Gesamtsystem anwendet, also nicht nur auf das Kontrollprogramm der Roboter, sondern auf ihre Gestaltung, ihre Bewegungsmöglichkeiten und die Konstruktionsweise. Das könnte uns tatsächlich helfen, Robotersysteme zu entwickeln, die wir mit klassischen Methoden nicht konstruieren können.