Leben in Zeiten der Gefahr

Seite 3: Flaneur und Verbrechen

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Warum entstand im 19. Jahrhundert der Kriminalroman? Man kann vermuten, dass es mit der Entwicklung der modernen, als chaotisch, unübersichtlich und gefährlich empfundenen Großstadt zu tun hatte. Der Detektiv bringt Ordnung ins Durcheinander, indem er Spuren sucht, seine Beobachtungen zu einem sinnvollen Ganzen verbindet, scheinbar unerklärliche Ereignisse für uns deutet und einen Täter identifiziert. In der Realität ist das meistens nicht so einfach. Wer ist schuld an der Lage der Menschen aus der Unterschicht, die Thomas für seinen Bildband photographiert? Der Chef einer Großbank oder einer Ratingagentur? Der Aktionär? Der Konsument, der Geiz geil findet, auch wenn es auf Kosten anderer Leute geht? Am Ende landet man wieder bei einem anonymen System. Der Krimi ordnet der strukturellen und deshalb schwer fassbaren Gewalt ein klar erkennbares Verbrechen zu, am besten einen Mord, und gibt dem Bösen ein Gesicht.

Ganz wichtig ist das Sammeln von Indizien, die Spurensuche. Sie knüpft den Ariadnefaden, der durch das Labyrinth der modernen Welt führt. Der Detektiv ist ein Verwandter des Fährtensuchers aus dem Wilden Westen. In Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris (1842-43) wird die Großstadt zur urbanen Form von Urwald und Prärie. Sue nennt im Vorwort zur Buchausgabe James Fenimore Cooper, den Erfinder von Lederstrumpf und des letzten Mohikaners, als sein Vorbild. Bei ihm werden die Verbrecher und die Slumbewohner zu den Indianern der Metropole. Auch Alexandre Dumas erwies Cooper die Referenz, als er einem seiner Romane den Titel Die Mohikaner von Paris (1854-55) gab. Der Held überlässt ein Stück Papier dem Spiel des Windes, läuft hinterher und erlebt dann Abenteuer in der Großstadt.

Walter Benjamin nimmt das auf, wenn er in seiner Studie zu Charles Baudelaire über den Flaneur schreibt, die Antwort der urbanen Welt auf Coopers Natty Bumppo:

Seine Indolenz ist eine nur scheinbare. Hinter ihr verbirgt sich die Wachsamkeit eines Beobachters, der den Missetäter nicht aus den Augen läßt. […] Kriminalistischer Spürsinn mit der gefälligen Nonchalance des Flaneurs vereinigt gibt den Aufriß von Dumas’ "Mohicans de Paris". […] Welche Spur der Flaneur auch verfolgen mag, jede wird ihn auf ein Verbrechen führen.

Damit sind wir zurück bei David Hemmings, der im Cabrio durch die Straßen von London und seine Wohnviertel für Arm und Reich fährt, beobachtet und Photos macht und schließlich in einen Park spaziert, wo er die Spur findet, die ihn, wie von Benjamin vorhergesagt, auf ein Verbrechen führt - oder vielleicht auch nicht, weil die ordnungsstiftenden Gewissheiten des Kriminalromans 1966 schon wieder in Auflösung begriffen waren.

Auch in Profondo rosso ist Hemmings Alias Marcus Daly ein Flaneur. Dario Argento lässt ihn nachts durch die Straßen Roms streifen und dabei Zeuge eines Mordes werden, womit er dazu auffordert, den Film mit Blowup zu vergleichen. Und weil Argento ein Bewunderer von Antonioni ist, dem Meister der Doppelung und des Spiels mit den Perspektiven, gibt es den Mord gleich zweimal. Das Opfer heißt Helga Ulmann. Helga ist ein Medium und kann Gedanken lesen; wenn sie intensiv genug sind sogar solche, die bereits gedacht wurden, bevor sie diese empfängt. Die Erinnerung und die Rekonstruktion der Vergangenheit interessieren Argento sehr, weil sie dabei helfen können, die Gegenwart zu verstehen - dies allerdings eher assoziativ und nicht in dem Sinne, dass am Schluss ein der Logik sowie den von Hollywood favorisierten Erzählmustern verpflichteter Detektiv kommt und uns lückenlos erklärt, was geschehen ist.

Profondo rosso

Helga ist Gast bei einem Kongress der Parapsychologen und nimmt die Gedanken einer Person auf, die getötet hat. Weil sie auch die Identität der Person kennt, wird sie in der Wohnung, in der man sie untergebracht hat, ermordet. Der Mörder schlägt mit einem Fleischhacker auf sein Opfer ein. Spätestens mit Helgas Tod erwarb sich Argento den Ruf eines gewaltverherrlichenden Blutspritzimpressarios, eines Metzgers auf dem Regiestuhl. Unsere famose Bundesprüfstelle, deren Inquisitoren immer viel verbieten müssen und darum keine Muße zum Verweilen haben (da geht dann eben auch die Wachsamkeit von Benjamins flanierendem Beobachter verloren), war fortan äußerst flink, wenn es galt, den Titel des neuesten Argento-Films in eine ihrer vorfabrizierten Verbotsbegründungen einzufügen. Das Lexikon des internationalen Films erkennt an, dass gewisse formale Aspekte in Profondo rosso interessant sein könnten, was "jedoch die substanzielle Inhaltslosigkeit des Films nicht überdecken" könne. Würde man das Medium Film dort ernst nehmen, hätte man längst begriffen, wie unsinnig eine solche Behauptung ist, weil die Form den Inhalt erst bestimmt.

Profondo rosso

Der letzte Hieb mit dem Beil (in Profondo rosso gibt es diverse Querverweise zu Fritz Langs M sowie zu Fritz Haarmann, dem "Mörder mit dem Hackebeilchen", und von den singenden Kindern bei Lang führt eine Assoziationskette zum Thema des Films) durchtrennt in Nackenhöhe Helgas Wirbelsäule. Jetzt ist sie also tot. Darauf folgen mehr als vier Minuten Leinwandzeit, die Argento mit einem Dialog zwischen Marc und seinem alkoholkranken Musikerkollegen Carlo füllt. Die beiden stehen auf der Straße vor dem Haus, in dem Helga soeben ermordet wurde. Am Ende dieser Szene hört Marc den Schrei einer Frau. Er blickt nach oben. Hinter dem Fenster ihrer Wohnung steht Helga, die um ihr Leben kämpft, obwohl sie es doch eigentlich schon ausgehaucht hatte. Der Mörder schlägt von hinten auf sie ein. Helgas Kopf fällt nach vorn auf die zerbrochene Fensterscheibe. Ihre Kehle wird durchschnitten wie viereinhalb Minuten früher ihr Rückenmark durchtrennt wurde.

Profondo rosso

Wir haben jetzt zwei spiegelbildlich angelegte Morde an derselben Frau gesehen. Man kann es sich einfach machen und sagen, Argento sei ein verabscheuungswürdiger Gewaltpornograph, der vor nichts zurückschreckt, um die finsteren Triebe eines verrohten und zur sozialen Desorientierung bereiten Publikums zu befriedigen. Intellektuell anregend ist das nicht. Wie wäre es mit der Überlegung, dass Argento womöglich mit Verschiebungen auf der Zeitachse operiert? Könnte es sein, dass er gleichzeitig stattfindende Ereignisse (Helgas Ermordung und das Gespräch unter Musikern) hintereinander montiert hat? Aber warum zwei Morde? Hat nur einer wirklich stattgefunden, der andere hingegen in der Phantasie? In wessen Phantasie? Und wie wirklich ist dann noch die Wirklichkeit? Man muss diese Fragen nicht sofort beantworten können, sollte jedoch an dieser Stelle verstanden haben, dass es sinnlos ist, Profondo rosso nach den Gesetzen des realistischen Filmemachens zu beurteilen.

Mord mit Musik

Zum doppelten Mord an Helga gibt es eine schöne Entsprechung in der Hochkultur. Bei Opernaufführungen in Italien war es früher keineswegs ungewöhnlich, dass eine Arie bei entsprechender Begeisterung des Publikums zweimal hintereinander gesungen wurde. Das war erlaubt, weil man damals ein anderes ästhetisches Verständnis und mehr Toleranz der offenen, nicht in ein Korsett gezwängten Form gegenüber hatte. Argento wiederholt nicht nur, er fragt auch nach der Perspektive und ändert beim zweiten Mal den Modus operandi. Die Morde in seinen Filmen haben durchaus eine Funktion und sind keineswegs so "selbstzweckhaft", wie von Zensoren oft unterstellt. In Marcs Gespräch mit Carlo geht es um das Wesen der Kunst sowie darum, dass der eine Geld besitzt und der andere es erst verdienen muss, was wiederum Auswirkungen auf die Kunstausübung hat. Für Profondo rosso ist das sehr relevant.

Die Unterhaltung der beiden Musiker fungiert als Spiegelachse zwischen zwei Versionen einer Sterbeszene, die den chronologischen Ablauf der Zeit genauso problematisiert wie die Erinnerung. Wenn man dazu noch berücksichtigt, dass das Medium umgebracht wird, weil es die Präsenz einer Person gespürt hat, die in der Vergangenheit getötet hat und in der Zukunft wieder töten wird, wird aus dem Gespräch zweier Musiker und zwei Variationen auf einen Mord eine erstaunlich komplexe Meditation über Fragen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und eine über die Zukunft bestimmende Rekonstruktion der Vergangenheit.

Kim Newman, Autor von Nightmare Movies, nennt Argento den Vincente Minnelli der Gewalt. Da ist was dran. Die virtuos inszenierten Morde sind Schaunummern und als solche mit den Gesangs- und Tanzeinlagen im Musical vergleichbar. Indem sie länger dauern, als es realistischerweise zu erwarten wäre, scheinen sie den Fortgang der Handlung zu unterbrechen (deshalb der Vorwurf des "Selbstzweckhaften"). Die Kunst besteht aber darin, sie in diese zu integrieren und wichtige Informationen in sie einzubauen - Informationen, die auf einen Zuschauer treffen, dessen Sinne geschärft sind, weil er durch das Spektakel stark emotionalisiert ist. Man schaut auch genauer hin, wenn Fred Astaire mit Ginger Rogers oder - noch viel besser - Eleanor Powell tanzt. Minnelli war neben Stanley Donen der Musical-Regisseur, der die Tanznummern am eindrucksvollsten integrierte und so einen künstlerischen Mehrwert schuf. Der Vergleich mit Argentos durch Musik intensivierten Mordszenen (in Profondo rosso ist es erstmals die von Goblin) ist nützlich und bringt durchaus einen Erkenntnisgewinn.

Profondo rosso

Stellvertretend für uns, das Publikum, beobachtet Marc den Mord (oder wenigstens eine Version davon) und läuft dann in die Wohnung, in der er stattgefunden hat. Seine Sinne sind angespannt, weil der Mörder noch im Raum sein könnte. Genaues Hinsehen kann lebenswichtig sein. Später wird er das Gefühl haben, dass ein Kunstwerk verschwunden ist, das an der Wand hing, als er die Wohnung das erste Mal betrat. Um den Mörder zu identifizieren, muss er sich erinnern. Der Weg zur Erinnerung führt in die Vergangenheit, während in der Gegenwart weitere Menschen getötet werden, die etwas darüber erzählen könnten, was gewesen ist. Profondo rosso folgt der Logik der Träume. Sigmund Freud geht davon aus, dass jeder Trauminhalt sowohl aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart stammt. Argento, ein begeisterter Freud-Leser, hat sich bemüht, das umzusetzen.

Profondo rosso

In Blowup entdeckt Hemmings den Mord auf den Photos aus dem Park. In Profondo rosso bringt ihn ein altes Photo in einem Buch zu einem Spukhaus. Unter einem abblätternden Wandverputz findet er die Malereien eines Kindes, in denen ein traumatisches Erlebnis dargestellt ist. Die Kunst wird so zum Talisman gegen böse Geister, weil hinter der Wand ein Toter sitzt. Am Ende aber, in Marcs Erinnerung an den Anfang, erweist sich das scheinbar aus Helgas Wohnung verschwundene Gemälde als ein Spiegel, in dem das Abbild des Mörders zu sehen war. In diesem Spiegel erkennt sich Marc auch selbst - zusammen mit den Reflektionen von Gemälden, die aussehen, als habe Edvard Munch den Regisseur Dario Argento porträtiert.

Profondo rosso

So münden die detektivischen Ermittlungen in einen stummen Schrei, mischen sich Vergangenheit und Zukunft sowie die unterschiedlichen Bewusstseinsebenen mehrerer Personen. Für einen Film, der angeblich nur Gewaltverherrlichung betreibt, ist das nicht schlecht.

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