Leere Couch, volle Pillendose

Das berühmte Antidepressivum Prozac und sein Nachfolger, Prozac II

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Durch die hemmungslose Marketingstrategie des Unternehmens Eli Lilly & Co. ist Prozac weit über den Status eines bloßen Medikaments hinausgewachsen. Es ist in den Augen der Amerikaner zum Symbol ihrer tiefsten und unschuldigsten Sehnsucht geworden: der Sehnsucht, sich besser zu fühlen. Jetzt sind Studien erschienen, die zeigen, dass oft das Gegenteil geschieht.

"Dear America, your children are so sad." Kim Fowley

Prozac liegt im Schnittpunkt von zwei typisch amerikanischen Urzwängen: dem Druck, etwas zu verkaufen und dem, schnell alles klar zu machen. 28 Millionen Amerikaner (weltweit 38 Millionen Menschen) haben diese kleine grünbeigefarbene Pille genommen ohne von Spätfolgen oder Erbschäden zu wissen. Wenn ein Manager sich abends ausgebrannt fühlte, schluckte er Prozac. Wenn seine Kinder Angst hatten, in die Schule zu gehen, bekamen sie Prozac. Und wenn sein Hund traurig in den Regen blickte, wurde ihm pulverisiertes Prozac ins Futter gemischt. Prozac war ein Kultmedikament, dem Zeitschriften ganze Titelgeschichten widmeten. Zu einem wahren Objekt der Begierde wurde die Pille, als sich herumsprach, dass sie sogar die Fettsucht günstig zu beeinflussen vermöge. Im Vergleich zu den extremen Suchtrisiken von Benzodiazepinen, bekannt als Tranquilizer (Valium, Mogadan oder Rohpynol) und den bösen Nebenwirkungen vieler Neuroleptika und Antidepressiva schien endlich eine arglose Glückspille aufgetaucht zu sein. Nachdem Anfang der neunziger eine Prozac-Euphoriewelle durch das Land ging, ist die Wirk-und Wunderkraft der kleinen Kapsel jedoch heute, dreizehn Jahre nach ihrem ersten Einsatz, mit einer Menge Fragezeichen und vielen traurigen Erfahrungen verquickt.

Da war die Geschichte von Joseph Wesbacker. Ein Journalist, depressiv und suzizidgefährdet, der unter dem Einfluss von Prozac einen Wutanfall bekam, loszog und in Kentucky mit einer 47er Magnum acht Menschen und schließlich sich selbst niedermähte. Klagen gegen Eli Lilly (eine Name wie aus einem Märchen mit Feen und Elfen) wurden erhoben und da das Unternehmen sich keinen Skandal leisten wollte, wurden die Kläger mit Summen abgefunden, welche, betrachtet man den Prozac-Jahresumsatz von über zwei Milliarden Dollar, sicher beiden Seiten finanziell nicht geschadet haben. Etwa 200 ähnliche Klagen gab es , fast alle wurden im Vorfeld unterdrückt. Der Psychiater Joseph Glenmullen von der Harvard Medical School erzählt in seinem Buch Prozac Backlash ausführlich von der dunklen Seite Prozacs. Er hat Geschichten wie die von Wesbacker recherchiert und er warnt sein Land vor dem trügerischen Glücksboten.

Glenmullen hat bei Patienten, die Prozac oder ähnliche Medikamente wie Zoloft oder Paxil nehmen, schwere Nebenwirkungen beobachtet, die man sonst nur von Tranquilizern kennt und deren Auftreten bis jetzt fast vollkommen verschwiegen wurde. Bei längerer Einnahme verlieren viele Prozacjunkies wieder von ihrer erworbenen Strahlkraft. Oft kaufen sie das sichere Lächeln zum Preis von Angstzuständen, manischen Tics, Spasmen und Zitteranfällen die, je nach Dosierung, so stark sein können, dass die Patienten keinen Löffel mehr halten können. Doch die dramatischste Nebenwirkung ist der wachsende Drang zu Gewalt und Selbstmord.

Forscher vom Jefferson Medical College in Philadelphia haben kürzlich feststellen müssen, dass Gehirnzellen von Ratten sich verändern, wenn sie hohe Dosen Prozac bekommen. In manchen Fällen schrumpften die Zellen, welkten oder nahmen Korkenzieherähnliche Formen an. Obwohl man nicht weiß, wie sich diese Veränderungen medizinisch auswirken, zeigt die Studie, dass Prozac nicht bedenkenlos über einen längeren Zeitraum hinweg verschrieben werden sollte.

Fluoxetin wurde 1972 von Wissenschaftlern der Eli Lilly & Co. entdeckt. Der Wirkstoff, der in Deutschland unter dem Namen Fluctin gehandelt wird, war auch für viele Depressive in Deutschland ein Weg, das schwarze Loch ein wenig heller zu machen. Er ist ein hochspezifischer Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Man glaubt zu wissen, dass Serotonin unseren Schlaf-Wach-Rhythmus mitreguliert und beim Lernen, Erinnern, Wahrnehmen und Schmerzempfinden eine Rolle spielt. Serotonin steckt im Nervensystem, im Verdauungstrakt und im Blut. Indem man den Serotoninspiegel im Gehirn anhebt, hofft man auch die Stimmung des Patienten zu heben. Auf die Wiederaufnahme anderer Neurotransmitter hat Fluoxetin keinen oder nur einen minimalen Einfluß. Der Steady-state wird ca. 30 Tage nach Beginn der Therapie erreicht.

Jeder Zehnte erkrankt einmal im Leben an Depression. Die Seelenfinsternis kann schon bei dreijährigen Kindern auftreten. Und sie ist nicht nur ein Problem entfremdeter und gelangweilter Großstadtmenschen. Nach Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO steht sie in Industrieländern an zweiter, in der Dritten Welt immerhin an vierter Stelle der gesamten Krankheitslast. Eine schwere Depression ist lebensgefährlich. Es wird geschätzt, dass sich etwa 10 bis 15 Prozent der Erkrankten umbringen. Bei Menschen unter 40 ist Selbstmord die zweithäufigste Todesursache. Gerade in ihrer erschreckenden Vielfalt gibt die Depression immer wieder Rätsel auf. Man rechnet damit in zehn Jahren mindestens zehn verschiedene Arten von Depressionen zu kennen. Langsam werden auch ihre Ursprünge klarer. Zum Beispiel weiß man, dass die Gene eine Rolle spielen. Leidet ein eineiiger Zwilling an Depression, so besteht eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, dass sein Geschwister auch krank wird. Im Dschungel der Therapien und Medikamente gibt es unter den Erkrankten ebensoviel Hoffnung wie Verwirrung. Im Netz tauschen Kranke zum Beispiel Erfahrungen aus, die sie zum Beispiel mit dem Prozac-Wirkstoff gemacht haben und versuchen, sich gegenseitig Ratschläge zu geben.

Hallo Robi! Ich hab ca. 8 Monate Fluctin genommen und es hat super geholfen. Täglich eine Kapsel und später dann zwei. Die Depris sind dadurch fast verschwunden und ich konnte ein normales Leben führen. Habe das Medi aber abgesetzt, weil ich dadurch vollkommen gefühlskalt geworden bin. Konnte weder lachen noch weinen und der Sex war auch nicht mehr doll bzw. fast weg.

Noch letztes Jahr wurde Prozac vom Fortune magazine zu einem der "Produkte des Jahrhunderts" gekürt, neben illustren Größen wie Radio, Fernsehen, Penicillin, und dem World Wide Web. Gerade entsteht ein Hollywoodfilm mit der kleinen Pille als Held. "Prozac Nation" ist die Verfilmung eines Romans von Elisabeth Wurtzel: Eine Harvard Studentin und ehrgeizige Journalistin verzweifelt am Leben und dreht komplett durch - bis sie Prozac bekommt. Unter dem etwas saloppen Domainnamen Ihatemyselfandwanttodie.com finden sich Produktionsnotizen zum Film. Hauptdarstellerin und Koproduzentin ist Christina Ricci, eine Schauspielerin, die es bisher fast immer geschafft hat, in den richtigen Filmen aufzutauchen.

Letzte Woche verkündete Eli Lilly, dass es die Genehmigung der FDA bekommen habe, Prozac unter einem zusätzlichen zweiten Namen zu vermarkten. Als Sarafem soll der gleiche Wirkstoff gegen eine neuentdeckte Form des PMS, des Prämenstruellen Syndroms verschrieben werden. Das sogenannte PMDD, "Pre-Menstrual Dysphoria Disorder", ist eine extreme Form der zyklisch bedingten Depression vor der Menstruation. Lässt man beiseite, dass es Ärzte gibt, die bezweifeln, dass diese extreme Verstörtheit als Krankheitsbild wirklich existiert und lässt man ebenso beiseite, dass es Geisteswissenschaftler gibt, die das PMDD für den Selbstmord der Dichterin Sylvia Plath verantwortlich machen, dann bleibt eigentlich nur die Tatsache übrig, dass Lilly eine "brand extension", eine Markenerweiterung gelungen ist, mit deren Hilfe das Unternehmen in Zukunft noch mehr Pillen verkaufen wird

Laut Glenmullens Buch "Prozac Backlash" müssten im Gegenteil 75 Prozent aller Amerikaner, die Prozac nehmen sofort damit aufhören oder zumindest die Dosis stark reduzieren. Zu der Verschleierungspolitik des Konzerns Eli Lilly, wegen der die Gefahren so lange totgeschwiegen wurden, sagt er:

"Lillys Anstrengungen alle Ärzte, Wissenschaftler und Journalisten vom Platz zu fegen die über Prozac diskutieren wollten, ist eines der schändlichsten Kapitel in der Geschichte der amerikanischen Unternehmenskultur."

Glenmullen steht mit seiner Kritik nicht allein und es ist ein seltsamer Zufall, dass diese Kritik gerade jetzt aufkommt, zu einem Zeitpunkt nämlich, an dem das alte Patent für Prozac ausläuft. Prozac II, das wahrscheinlich 2002 auf den Markt kommt, wird ganz anders, verspricht das Unternehmen: keine Angstzustände, keine Selbstmordgefahr. Absurderweise leugnet Eli Lilly weiterhin, dass es diese Nebenwirkungen überhaupt gab. Das Szenario ist ganz und gar Amerika: Derjenige der als erster auf die prozacimmanente Suizidgefahr aufmerksam machte, war Harvard Psychiater Dr.Martin Teicher. Er ist nun der Mann, der - zusammen mit dem Pharmakonzern Sepracor - das neue Prozac entwickelt hat. Lilly zahlte an Teicher und Sepracor 90 Millionen Dollar für die exklusiven Rechte an Prozac II, sowie jährliche Tantiemen von 200 Millionen, wenn das neue Prozac soviel Gewinn einschiebt wie das alte. Dann können Amerikas Kinder wieder glücklich sein.