Leergefischt: In Nord- und Ostsee schwimmen immer weniger Fische
Fischbestände an deutschen Küsten gehen früher als sonst zur Neige. Zu hoher Beifang beschleunigt Artensterben im Meer. Sterben unsere marinen Biotope?
Der "End of Fish Day" fiel in diesem Jahr auf den 29. Februar – so früh wie nie zuvor. Rein rechnerisch sind die Fischreserven des laufenden Jahres an diesem Tag aufgebraucht. Ohne Importe wären die Fisch-Kühltheken in deutschen Supermärkten seit Ende Februar leer. Denn der Selbstversorgungsgrad mit Fisch und Fischerzeugnissen liegt hierzulande nur bei 16 Prozent.
2020 fiel der End of Fish Day noch auf den 4. April, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von Brot für die Welt, Fair Oceans und Slow Food Deutschland. Mit diesem Tag wollen die drei Organisationen auf den Zustand von Nord- und Ostsee aufmerksam machen. Denn Fisch, der nicht aus der Nord- und Ostsee stammt, werde aus anderen Meeresregionen geholt, erklärt Kai Kaschinski, Vorstand von Fair Oceans.
Glaubt man dem BUND, so wird hierzulande wieder mehr Fisch gegessen. Mit zunehmendem Fischkonsum jedoch wächst auch unsere Importabhängigkeit. Deutsche Konsumenten sind für den weltweiten Zustand der Meere und die globale Ernährungssicherheit also mitverantwortlich.
Fische in Meeresschutzgebieten sind nicht ausreichend geschützt
Meere werden verschmutzt, marine Lebensräume zerstört. Klimawandel, Offshore-Projekte, Schifffahrt und Überfischung haben massive ökologische, soziale und ökonomische Folgen für Meere und Küsten. Damit sich die Fischpopulationen erholen können, brauchen sie Rückzugs- und Ruheräume. Doch die gibt es bisher nicht mal in den Meeresschutzgebieten.
Zum Beispiel im Schutzgebiet Doggerbank, die größte Sandbank der Nordsee. Hier schwimmt reichhaltiges Plankton im Wasser, millimetergroße Tiere leben in den Sandlücken des Bodens. Vielfältige Muscheln und Vielborster, gefährdete Schneckenarten, Stachelhäuter und Krebse sind Teil eines dicht verwobenen Nahrungsnetzes. Viele von ihnen bilden die Nahrungsgrundlage zahlreicher Fischarten und bedrohter Meeressäugetiere.
Ausgerechnet in diesem wertvollen Biotop dürfen Grundschleppnetze weiter uneingeschränkt eingesetzt werden, kritisiert Valeska Diemel. Die Fischerei-Expertin des BUND fordert ein grundsätzliches Verbot der Fischerei mit Grundschleppnetzen in den Schutzgebieten.
Interessenkonflikte zwischen Naturschutz und Fischerei
Fischen stehen immer weniger Laichgebiete zur Verfügung, in denen sie ihren Nachwuchs in aller Ruhe aufziehen können. Ein Verbot der grundberührenden Fischerei könnte dazu beitragen, dass sich Bestände bestimmter Arten wieder erholen.
Auch die Fischer tragen Verantwortung für streng geschützte Riffe, für Seegraswiesen, Muschelbänke und klimarelevante Schlickgründe, mahnt NABU-Meeresschutzexperte Kim Detloff. Schließlich dürften auch die Fischer daran interessiert sein, dass sich die Bestände erholen, denn nur wenn es genügend Fische gibt, können sie guten Fang machen.
Vor etwa zwanzig Jahren hat Deutschland 45 Prozent seiner Meeresfläche in Nord- und Ostsee als Schutzgebiete ausgewiesen, in den Küstengewässern sogar mehr als die Hälfte. Doch erst vor etwa einem Jahr traten erste einschränkende Fischereimaßnahmen in den Naturschutzgebieten der deutschen Nordsee in Kraft.
Gerade mal weniger als ein Prozent soll komplett frei von Fischfang sein – zu wenig, um etwa den Zielen der EU-Biodiversitätsstrategie gerecht zu werden, kritisiert der NABU Niedersachsen.
Im Februar 2023 hatte die EU-Kommission einen Fischerei-Aktionsplan vorgelegt. Dieser sieht unter anderem vor, die Grundschleppnetzfischerei in Natura-2000-Gebieten bis 2030 ausschließen. Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, den Beifangs von sensiblen Arten zu reduzieren, Lebensräume am Meeresboden sowie Laichgebiete zu schützen.
Bis Ende März habe Deutschland noch Zeit, den Fischerei-Aktionsplan in konkrete Maßnahmen für Nord- und Ostsee zu übersetzen, erklärt Valeska Diemel.
Doch anstatt mit konstruktiven Vorschlägen aufzuwarten, verweigern die Fischereiministerien in Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen auf Druck der Krabbenfischer ihre Mitarbeit bei der Umsetzung des Aktionsplans.
Schleppnetze mit hohem Beifang zerstören Arten am Meeresgrund
Beifänge machen jährlich bis zu 40 Millionen Tonnen aus. Zum Beispiel bei Grundschleppnetzen: Sie werden für den Fang von am Meeresboden lebenden Arten eingesetzt – wie Plattfische und verschiedene Krebsarten. Um die vor dem Netz in den Sand geflüchteten Tiere aufzuscheuchen, werden oft tonnenschwere Ketten zwischen die Netzöffnung gespannt, die alles zerstören, was ihnen im Weg steht.
Aber auch die Treib- und Stellnetzfischerei verursacht unerwünschte Beifänge. Ein Opfer ist etwa der Schweinswal, der zu den am stärksten gefährdeten Walpopulationen in der Ostsee gehört. Jährlich ertrinken viele Schweinswale und tausende Seevögel in den Maschen der Netze.
Einem EU-Beschluss zufolge darf zwar seit Januar 2015 Beifang nicht mehr zurück ins Meer geworfen, sondern muss mit an Land gebracht und auf die Fangquoten angerechnet werden. Dieses Rückwurfverbot sollte Fischer dazu motivieren, selektivere Netze und bestimmte Techniken einzusetzen.
Doch die Umsetzung dieser Auflagen sind in der Praxis kaum kontrollierbar. Deshalb wird Beifang immer wieder und in großem Stil zurück ins Meer geschmissen.
Daten des Internationalen Rates für Meeresforschung (Ices) legen nahe, dass das Rückwurfverbot nicht greift und versehentlich mitgefangene Fische weiter in hoher Zahl im Meer landen. Im Jahr 2017 identifizierten die Ices-Forscher 2017 für die Dorschfischerei in der östlichen Ostsee mindestens elf Prozent Beifänge: Von den knapp 31.000 Tonnen Fang waren hochgerechnet mindestens 3.450 Tonnen Beifänge.
Zudem bietet das Gesetz ein Schlupfloch für den Fang von bedrohten Arten wie etwa Haie.
Millionen Tonnen Fische werden jedes Jahr zu Tierfutter verarbeitet
Hinzu kommt: Jedes Jahr enden weltweit über 30 Millionen Tonnen Fisch als billiges Futter für Hühner, Schweine oder auch Garnelen und Lachse in der Aquakultur. In der Fischmehl-Fischerei in der Nord- und Ostsee werden zum Teil noch lebende Fische, etwa Sandaal und Sprotte, zu Fischmehl und Fischöl verkocht. So können für die Produktion von nur einem Kilogramm Lachs bis zu vier Kilo Fischmehl oder Fischöl nötig sein.
NABU fordert wirksame Meeresschutzgebiete
Um den Artenverlust vor unseren Küsten zu stoppen, braucht es Bereiche, in denen die Natur kompletten Vorrang hat. Noch in ihrem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 verpflichtetes sich die Bundesregierung, zehn Prozent der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) gemäß EU-Biodiversitätsstrategie streng zu schützen, also Zonen frei von schädlicher Nutzung auszuweisen.
Demnach soll ein strenger Schutz alle lebensraumverändernden Aktivitäten in Nord- und Ostsee ausschließen. Der NABU unterstützt die wissenschaftlich basierte Forderung, dass 50 Prozent der Meeresschutzgebiete frei von jeglicher schädlichen Nutzung sein müssen. In diesem Sinne entwickelt er einen Plan für streng zu schützende Gebiete in der deutschen AWZ der Nord- und Ostsee.
Die hier ausgewählten Gebiete decken Bereiche mit der höchsten Dichte an streng geschützten Arten und Lebensräumen ab. Darunter befinden sich artenreiche Riffe, Schlickgründe und Sandbänke, Schweinswale und eine Vielzahl an Seevögeln wie Prachttaucher und Eisenten.