Lenin lebt
Es gibt ein Leben nach dem Tod, selbst für Statuen
Man kann es kaum glauben, dass nach Jahrzehnten des Wartens auf den Sturz der Symbole der Tyrannei diese Objekte, die einst Abscheu in ganz Osteuropa erregt hatten, langsam wieder ihr Comeback erleben. Genau das aber geschieht im Augenblick in Ungarn. Die Vergangenheit wurde nicht nur vergessen, sie ist völlig bedeutungslos geworden.
Am letzten Wochenende setzte der Stadtrat von Dunaujvaros in Zentralungarn einen Beschluss um, von dem 10 Jahr zuvor die Menschen nicht einmal zu träumen gewagt hätten: Es wurde eine Lenin-Statue errichtet. Für ein Land, das sich selbst damit gebrüstet hat, in den 1950er Jahren als eines der ersten während einer blutigen Revolution Lenin gestürzt zu haben, ist diese Ehrung des Gründungsvaters des Sowjetkommunismus unerklärlich.
Noch unerklärlicher aber ist das absolute fehlende Interesse für das Ereignis. Als die Entscheidung des Stadtrats das erste Mal bekannt wurde, berichtete man darüber nur flüchtig in den Nachrichten. Die Berichterstattung war so gering, dass die Meisten es schon vergessen hatten, als der Tag der Einweihung schließlich gekommen war. Viele waren sich wohl auch kaum der Bedeutung bewusst, wo Lenin seine Wiederkehr erlebte. Die Stadt Dunaujvaros galt als die ungarische Version von Stalingrad und wurde während der Stalin-Zeit auch so genannt: Stalinujvaros.
Selbst bei Nationalisten schienen das Wissen um und die Reaktion auf die Wiederkehr ausgeblendet zu sein. Die Stadt hatte zweifellos die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen vor dem ergriffen, was sie als großen Aufschrei befürchtet hatten. Die Statue wurde so vor dem geplanten Zeitpunkt mitten in der Nacht errichtet. Anscheinend vollzieht Lenin gerne seine Auf- und Abtritte auf diese Weise: Über 10 Jahre zuvor verschwand die riesige Leninstatue, die Budapest vom Stadtpark aus überragte, auf dieselbe heimliche Art.
Wenn die Stadt Dunaujvaros öffentliche Kritik wegen der Entscheidung, Lenin wieder von den Toten auferstehen zu lassen, fürchtete, dann hätte man dort keine Angst zu haben brauchen. Das Ereignis wurde nicht in den großen Medien behandelt und es kamen auch nur wenige Demonstranten. Es waren sogar so wenige, dass es mehr Polizisten als Demonstranten gab.
Mit der Errichtung der Statue wollte die Stadt an eine große historische Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts erinnern. Auch wenn Lenin eine historische Persönlichkeit von großer Bedeutung ist, stellten seine Statuen und Porträts dennoch für viele Menschen in Osteuropa ein System des Terrors und der Fremdbeherrschung dar. Es gibt viele historische Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts mit großer Bedeutung, aber man würde wohl nicht alle als geeignet befinden, ihrer auf einem öffentlichen Platz zu gedenken. Stalin und Hitler würden nur an der Spitze einer langen Liste solcher Persönlichkeiten stehen.
All das weist darauf hin, wie ziellos und apathisch die Ungarn geworden sind. Der politische und soziale Geist der breiten Bevölkerung ist gebrochen. Die Alten sind vergesslich und sehnen sich zurück in eine illusorische Vergangenheit, die es niemals gegeben hat, aber die mit einem Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit ausgestattet ist. Die Menschen mittleren Alters sind zu sehr mit dem Überleben in einer zunehmend von Konkurrenz und Halsabschneiderei gezeichneten Wirtschaft beschäftigt. Und die Jungen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich viel um etwas anderes als den neuesten kulturellen Schund zu interessieren, der aus dem Ausland, vor allem aus den USA, importiert wird.
Das ermöglicht die Einrichtung einer Orwellschen Gesellschaft, wenn auch auf einer weit subtileren Art wie in der originellen 1984er Version. Die Grundlage für eine solche Negativutopie ist bereits vorhanden: eine trübe Erinnerung an die Vergangenheit, eine konstant überarbeitete Gegenwart und eine Zukunft, die auf permanentem Krieg und Angst basiert. Die einzige Möglichkeit, das alles überstehen zu können, ist der Prozess des "doublethink"..
Wenn dies tatsächlich ein Zeichen für das ist, was in der Zukunft auf uns wartet, dann wäre es interessant zu sehen, wie der Irak in ein oder zwei Jahrzehnten aussehen wird. Vielleicht sollten wir beginnen, die Bilder und Filme über den Sturz der Saddam-Statuen zu archivieren, so dass die Menschen 2020 eine Vorstellung davon erhalten können, wen sie wieder errichtet werden, warum man sie zuerst zerstört hat.