Letzte Generation: Welche Entscheidung die Klimaaktivisten jetzt treffen müssen
Sprühattacke gegen das Brandenburger Tor: Wie sich diese Aktion auf die Klimabewegung auswirkt. Und von wem dem die Aktivisten lernen könnten. Ein Telepolis-Leitartikel.
Was sollte das denn? Aktivisten der Gruppe "Letzte Generation" haben am Sonntagvormittag die sechs Säulen des Brandenburger Tors mit orangeroter Farbe besprüht. Die Aktion war offensichtlich gut vorbereitet: Die Sprayer rückten mit präparierten Feuerlöschern an, den Einsatz einer Hebebühne konnten Einsatzkräfte offenbar verhindern.
Die Polizei war mit gut drei Dutzend Beamten im Einsatz, 14 der Beteiligten wurden festgenommen. Seitdem tobt die Debatte – im Netz, auf der Straße, in der Politik: Wie soll man auf solche Reaktionen reagieren?
Die Aktivisten ficht das nicht an. Sie fühlen sich im Recht, schließlich befinden wir uns im Klimanotstand. Deshalb seien ihre Aktionen, die als ziviler Ungehorsams verstanden werden, gerechtfertigt. Man steht auf der richtigen Seite der Geschichte! Man hat die Wahrheit erkannt! Man muss die anderen – und sei es eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung – zum Einschwenken auf die eigene Linie zwingen.
Doch die Aktivisten der "Letzten Generation", deren Aktionen in der breiten Klimaschutzbewegung umstritten sind, sitzen einem Trugschluss auf, wenn sie sich auf der Seite der historischen Bürgerrechtsbewegungen sehen.
Denn die Bürgerrechtsbewegungen für die Rechte der Schwarzen oder anderer ethnischer Gruppen weltweit, für die Rechte der lokalen Bevölkerung gegen Großkonzerne oder für den Schutz der Gemeinschaft gegen Partikularinteressen haben in ihrer Masse zielgerichtet agiert.
Rosa Parks hat nicht die Busse der Weißen blockiert oder beschädigt, sondern ihr Recht auf Nutzung öffentlicher Ressourcen eingefordert. Die vom Bergbau Betroffenen in Kolumbien nehmen die Konzerne aus den Industriestaaten ins Visier, die ihre Heimat zerstören. Ungerechte Steuerpolitik wurde erfolgreich mit Verweigerung – passivem Widerstand also – bekämpft.
Doch ein Teil der Klimaaktivisten hat sich völlig verrannt. Sie belästigen Pendler und Familien, wenn sie Straßen blockieren. Sie beschädigen Kunst und öffentliches Eigentum. Sie blockieren scheinbar wahllos und mit einem erkennbaren Fanatismus, der sich am Sonntagmorgen in Berlin erneut gezeigt hat.
Ziele des Aktivismus völlig willkürlich
Es gab zaghafte neue Ansätze. Zum Beispiel, als Autokonzerne und Luxusgeschäfte ins Visier genommen wurden, also jene Akteure, die für den exzessiven Ressourcenverbrauch verantwortlich sind. Sehen die Aktivisten wirklich keinen Unterschied zwischen dem Porsche- oder Rolls-Royce-Konzern auf der einen Seite und etwa der Mutter, die mit Kindern auf dem Rücksitz zur Kita fahren will?
Das ist kaum vorstellbar und, man kann es drehen und wenden wie man will, nur mit einem Fanatismus zu erklären, der dieser Art von Aktivismus innewohnt. Denn ohne diesen Fanatismus würde einen schlagartig die kognitive Dissonanz plagen. Die Kognition, also die Erkenntnis: "Diese Mutter mit dem Kind kann nichts für die Situation, gegen die wir uns wenden." Dies geht im Idealfall einher mit einer empathischen Haltung ("Oh, das Kind weint jetzt", "Vielleicht bekommt die Fahrerin/Frau/Mutter Ärger bei der Arbeit...").
Damit soll Klimaschutz-Aktivismus nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Der Klimawandel ist nachweisbar: Mehr noch als eine Debatte darüber müssen Maßnahmen ergriffen werden, um eine Verschärfung zu verhindern.
Wer aber wissenschaftliche Erkenntnisse einseitig zum "Klimanotstand" umetikettiert und auf dieser Basis bisherige Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufkündigt, Unschuldige ins Visier nimmt und Allgemeingut attackiert, muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, Andersdenkende zu terrorisieren.
Zurück zum Brandenburger Tor: Nicht wenige, die der Klimabewegung nahestehen, haben am Sonntag eine False-Flag-Aktion vermutet: Das können sie doch nicht wirklich gewesen sein!
Aber sie waren es. Und sie haben damit bewiesen, dass ein Teil der Bewegung auf dem Weg zu einem unreflektierten Sektierertum ist, das nicht mehr darauf setzt, Debatten anzuregen, Menschen von den eigenen Erkenntnissen und Zielen zu überzeugen, Mehrheiten zu bilden, sondern das die Mehrheit anschreit: WIR HABEN RECHT! WANN BEGREIFT IHR DAS ENDLICH? WANN FOLGT IHR UNS?
Fanatische Klimabewegung: Immer weniger Unterstützung
Dem daraus erwachsenden Eskalationspotenzial liegt die Entkopplung von Aktivismus und Mehrheitsmeinung zugrunde. "Wie bewerten Sie die Klimaproteste (z.B. Straßenblockaden) der Gruppe 'Letzte Generation'?" wurde im November letzten Jahres im Rahmen einer repräsentativen Erhebung gefragt.
Das Ergebnis: Nur 14 Prozent befürworteten diese Art von Aktionismus, der sich zum Teil pauschal und repressiv gegen die Bevölkerung richtet. 81 Prozent fanden diesen Aktionismus falsch, nur fünf Prozent mochten sich nicht entscheiden.
Mitte des Jahres dann ein noch krasseres Bild: Das öffentlich-rechtliche Portal tagesschau.de berichtete, 85 Prozent der Befragten hielten Straßen- und Verkehrsblockaden für "nicht gerechtfertigt".
Nur jeder Achte (13 Prozent) halte solche Protestaktionen für "gerechtfertigt": "Damit ist die Zustimmung zu Straßenblockaden im Vergleich zu früheren Umfragen weiter gesunken. 2019 hielten noch 24 Prozent solche Aktionen für gerechtfertigt, allerdings waren Straßenblockaden damals bei Weitem nicht so verbreitet wie heute."
Wer am Sonntagabend die sozialen Medien verfolgte, konnte ein weiteres Phänomen beobachten. Während die Mehrheit der Bevölkerung die Nötigung von Bürgern und die Beschädigung von öffentlichem Eigentum ablehnt, fühlen sich die Aktivisten dieses Teils der Klimabewegung durch genau diese Ablehnung bestätigt.
Fast stolz wurden die enthemmten Hasskommentare vor dem Brandenburger Tor wiedergegeben. Die Blockierer und Schmierer bestätigten sich gegenseitig in ihrer Opferrolle. Und sie nahmen die Reaktionen als Bestätigung, solche Aktionen zu wiederholen und gegebenenfalls zu radikalisieren.
Diese Tendenz ist verheerend und auf eine doppelte Eskalation angelegt: Entweder von Seiten der Aktivisten, die angesichts des selbst prognostizierten Weltuntergangs ja kaum mehr etwas zu befürchten und zu verlieren haben, oder von Seiten der durch ihren Aktivismus Betroffenen. Warum sieht der Staat dieser Entwicklung eigentlich tatenlos zu?
Wem solche Aktionen nutzen
Weil diese fanatischen Klimaaktivisten vielleicht als nützliche Idioten angesehen werden? Immerhin meldeten sich nach jeder dieser verrückten Aktionen die Neoliberalen, die Verfechter der fossilen Energieträger und die Autoindustrie zu Wort, um die Aktion politisch auszuschlachten – und zwar in ihrem Sinne.
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) kritisierte die Aktion scharf. Das Wahrzeichen sei ein Symbol für Berlin als Stadt der Freiheit. "Einer Stadt, die auch für freie Meinungsäußerung und faire Debatten über unsere Zukunft steht", sagte Wegner am Sonntag:
"Mit diesen Aktionen beschädigt diese Gruppe nicht nur das historische Brandenburger Tor, sondern auch unseren freiheitlichen Diskurs über die wichtigen Themen unserer Zeit und unserer Zukunft."
Justizminister Marco Buschmann (FDP) twitterte: "Das Brandenburger Tor ist ein Symbol für die Einheit unseres Landes in Freiheit. Wer solche Symbole in den Dreck zieht, wird keinen aufrechten Demokraten für sich gewinnen. Das ist Effekthascherei auf Kosten der Allgemeinheit und gegebenenfalls sogar Sachbeschädigung."
Als ob er, der sich offenbar zu den seriösen Demokraten zählt, sich zuvor im Sinne dieser Aktivisten für den Klimaschutz hätte gewinnen lassen.
Die Aktion am Sonntag am Brandenburger Tor in Berlin hat gezeigt, dass die Klimabewegung dringend eine Selbstreflexion braucht. Dazu gehört vor allem, den apokalypsegläubigen Fanatismus zu hinterfragen, um demgegenüber eine auf demokratische Mehrheiten und das hartnäckige Werbung für die eigenen Positionen ausgerichtete Perspektive zu entwickeln.
Dazu gehört vielleicht auch ein Dialog zwischen den Generationen. Denn schon in den Achtzigerjahren waren die Demonstrationen für nukleare Abrüstung von der Einsicht geprägt, dass die menschliche Zivilisation in Gefahr ist, wenn man sich hier nicht durchsetzt. Die Dramatik dieses Kampfes stand dem der Klimaschützer in nichts nach, war aber politisch demokratisch und auf Mehrheiten ausgerichtet.
Uns eben das ist es, was dem radikalen Teil der Klimabewegung heute fehlt.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.