Libanon-Krieg: Die Medien erteilen Israel erneut Freifahrtschein zur Gewalt und Eskalation

Ein Kampfjet der israelischen Streitkräfte, der für einen Einsatz im Libanon vorbereitet wird, 23. September.

Ein Kampfjet der israelischen Streitkräfte, der für einen Einsatz im Libanon vorbereitet wird, 23. September. Bild: IDF

Israels Angriff auf den Libanon ist kein Verteidigungsakt. Westliche Presse erzeugt diesen Eindruck. Über die Fabrikation eines humanen Kriegs. Eine Einordnung.

Nachdem am Wochenende bekannt wurde, dass der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, bei dem Großangriff auf den Hauptsitz der libanesischen Partei, Bewegung und Miliz in Beirut durch das israelische Militär getötet wurde, titelte die Süddeutsche Zeitung am Montag: "Stolz und Genugtuung".

In der Unterzeile des Artikels heißt es: "Israel freut sich über Nasrallahs Tod. Premier Netanjahu kann die Erfolge vor dem Jahrestag des Hamas-Massakers am 7. Oktober gut gebrauchen."

Die Pager-Operation

Der SZ-Beitrag ist wie ein Pressetext der israelischen Regierung verfasst, angefüllt mit Zitaten vom israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu. Man habe eine "Rechnung beglichen", "der Schwung" sei auf "Israels Seite", man habe "Großartiges erreicht", aber die nächsten Tage kämen noch "bedeutende Herausforderungen" auf die israelischen Bürger zu. Abgerundet wird der Beitrag mit den Worten von US-Präsident Joe Biden, der von einer "Maßnahme der Gerechtigkeit" sprach.

Seit die israelische Führung vor zwei Wochen mit der Eskalation ihrer Aggression im Libanon begonnen hat, haben die deutschen, wie die US-amerikanischen und europäischen Medien insgesamt, erneut damit begonnen, die israelische Gewalt zu rechtfertigen und die nun stattfindende Bodenoffensive vorzubereiten, indem sie sie wahlweise als Reaktion, Vergeltung, Anti-Terrormaßnahme, Selbstverteidigung und Kampf um die Existenz des jüdischen Staats dargestellt haben.

Und das begann schon mit der ersten Eskalationsstufe Israels. Am 17. und 18. September explodierten tausende Pager und Walkie-Talkies im Libanon. Die Explosionen ereigneten sich in überfüllten Supermärkten, auf belebten Straßen sowie in Wohnhäusern, Schulen und Krankenhäusern.

Bei den Anschlägen wurden rund 3.500 Menschen verletzt und 42 getötet, darunter auch Kinder. Wie sich schnell herausstellte, obwohl offiziell nicht bestätigt, handelte es sich um eine Operation des israelischen Geheimdienstes Mossad.

Gesichter "präzise" explodieren lassen

Autos und Wohnungen wurden in Brand gesteckt, und die Krankenhäuser waren mit Tausenden von Opfern überfüllt. Da die Sprengsätze vor ihrer Explosion wiederholt zu piepsen begannen, hielten viele Opfer die Sprengsätze nahe an ihr Gesicht, als sie detonierten, was zu schweren Verletzungen führte.

So zum Beispiel erging es der elfjährigen Fatima. Sie war in der Küche, als ein Pager, der auf einem Tisch lag, zu piepen begann. Sie hob das Gerät auf, um es ihrem Vater zu bringen. Auf dem Weg dorthin explodierte es.

Fatimas Gesicht wurde sofort zerfetzt. Der Raum war mit dem Blut der Schülerin getränkt – ein Beleg für die tödliche Kraft der improvisierten Bombe. Das elfjährige Mädchen erlag ihren Verletzungen.

Ein Großteil der westlichen Mainstreammedien hat sich über die "Präzision" und "Raffinesse" der Anschläge gewundert und sie als eine Operation dargestellt, die nur auf Mitglieder der Hisbollah abzielte. Das ist offenkundig falsch, da zahlreiche Zivilisten verletzt und getötet wurden.

Akte des Terrors

Die Explosionen ereigneten sich größtenteils in Wohngebieten, auf Gemüsemärkten, im Supermarkt und im Straßenverkehr, Umstehende wurden verstümmelt. Da die Hisbollah auch mehrere große zivile Einrichtungen betreibt, wurden medizinisches Personal und Beschäftigte im Gesundheitswesen durch die Detonationen von Pagern und Walkie-Talkies getötet, verletzt, während Körperteile weggesprengt wurden.

Es war letztlich ein Angriff, der unterschiedslos die libanesische Bevölkerung traf und ihr das Gefühl gab, dass jeder jederzeit und überall im Land zum Ziel werden kann.

Israel schürte mit den Sprengfallen und Explosionen von zivilen Nutzgeräten sehr bewusst Angst und Massenpanik im Libanon. Beim zweiten Angriff am Mittwoch fanden während der Beerdigung von vier am Vortag getöteten Menschen ebenfalls Detonationen statt. In ganz Libanon fürchten sich die Menschen seitdem davor, elektronische Geräte zu benutzen.

In anderen Zusammenhängen, bei einem anderen Akteur, würden wir von Terrorismus sprechen. Doch in diesem Fall heißt es in den westlichen Medien, dass Israel erfolgreich Schläge gegen die "Terrormiliz" im Libanon verübt hat.

"Liebesgrüße aus Tel Aviv"

Die Normalisierung des Schreckens funktioniert dabei auch über eine Art Fiktionalisierung. So verweist Arno Frank auf Spiegel Online in seinem Artikel "Liebesgrüße aus Tel Aviv" auf Filme wie James Bond oder "The Big Lebowski". Nahost-Korrespondent und Kriegsreporter Thomas Avenarius von der Süddeutschen Zeitung kommt ebenso ins ästhetische Schwärmen über die Operation:

Hätte ein zweitklassiger Drehbuchautor sich das Szenario ausgedacht, hätten seine Produzenten gelacht – und mehr Lebensnähe verlangt. Zu absurd, zu wild, zu unrealistisch. Ob Kino oder Netflix, das glaubt keiner. Tausende kleine Geräte, die vom Geheimdienst mit Sprengstoff gefüllt und auf ein Funksignal am Dienstag und Mittwoch alle gleichzeitig in den Hosentaschen der Feinde explodieren, den Kommandeuren und Schildträgern einer Terrorgruppe Finger und Hände abreißen, ihre Augen blenden, sie an Bauch und Unterleib schwer verletzen.

Fatimas Tod hatte für die vielen westlichen Journalisten und "Sicherheitsexperten", die sich über die Komplexität von Israels verdecktem "Komplott" zur Infiltrierung der Hisbollah in solch "kolossalem" Ausmaß "wunderten", keine oder nur geringe Bedeutung. Und wenn die unangenehme Realität einmal durchscheinen darf, wird sie gleich mit Hinweis auf die Brutalität des Gegners beerdigt.

Ja, bei dem Angriff sind auch Unschuldige zu Schaden gekommen. Unter anderem ist ein kleines Mädchen ums Leben gekommen. Aber sich über die Infamität der Pager-Attacke zu erregen, ist vertane Zeit. Die Spielregeln in diesem Krieg sind frei von jeder Menschlichkeit – ob bei der Hamas, der Hisbollah oder bei den israelischen Diensten. Und die große Mehrzahl der Opfer sind zweifellos Hisbollah-Männer.

Ohne Empirie

So Avenarius. Man beachte, dass die Süddeutsche Zeitung bei der Legitimierung tausendfacher Pager-Explosion und der blutigen Folgen nicht mal von Hisbollah-Kämpfern und Terroristen spricht, wie es in anderen Berichten Standard ist, um die Operation als defensiven Kriegsakt der Netanjahu-Regierung erscheinen zu lassen.

Die "Hisbollah"-Nennung scheint bereits zu reichen, um Libanesen unterschiedslos als legitime Ziele zu markieren, die Israel eliminieren darf. Einschließlich der bedauernswerten, aber nicht intendierten Kollateralschäden, die Kommentatoren hierzulande aber für gering und daher für akzeptabel einschätzen.

Das Erstaunliche ist, dass Journalisten im Westen bereit sind, flächendeckende Tötungs- und Verstümmlungsakte Israels durch die Manipulation und Fernsteuerung elektronischer Geräte von Menschen in einem anderen Land zu legitimieren, obwohl sie gar nicht wissen, wer von den tausenden Explosionen getroffen wurde. Wer ist denn genau verletzt und getötet worden?

Waren die elektronischen Geräte alle in den Händen von aktiv an ablaufenden Angriffsakten gegen Israel beteiligten Kämpfern – eine Voraussetzung, die das Völkerrecht fordert, das Gewalt in internationalen Beziehungen verbietet und nur bei imminenten Verteidigungsakten gestattet. Wie stellte die israelische Führung sicher, dass nur aktiv Kämpfende getroffen wurden? Was sind die unabhängigen Belege dafür?

Medien im moralischen Nirwana

Die Wahrheit ist: Niemand interessiert das im Westen (jedenfalls was die veröffentlichte Meinung angeht) – weil jeder die Antwort darauf kennt. Denn es waren keine Krieger in Kriegseinsätzen, die von den Explosionen getroffen wurden, es waren keine Verteidigungsakte nach internationalem Recht.

Die Netanjahu-Regierung hat die Operation nicht einmal öffentlich eingestanden – und die Medien tun ihr den Gefallen, nicht weiterzufragen oder auf die völkerrechtlichen, geschweige denn moralischen Prinzipien zu verweisen, um die Handlungen daran zu messen. Vielmehr zitieren sie eine Reihe von Politikwissenschaftlern, die der Meinung sind, dass die tausendfachen Sprengfallen-Pager-Explosionen okay seien.

Aber wenn die "Spielregeln in diesem Krieg" "frei von jeder Menschlichkeit" sind (und das Brutalitäten jeder Art erlaubt), dürfen dann Israels Gegner ebenfalls "in Verteidigung" tun und lassen, was sie wollen, genauer gesagt, das tun, was die israelische Führung im Gazastreifen und nun auch im Libanon veranstaltet?

Das Argument geht in beide Richtungen und kann nicht nur gelten, weil Israel gerade am Gewaltdrücker ist – und die Aggression akzeptabel gemacht werden muss, weil Israel der Partner der USA und des Westens ist.

Das Opfer-Monopol

Auch wird die Eskalation von den Medien nicht oder sehr unzureichend, und wenn, dann verzerrend, in die realen Abläufe und historischen Kontexte eingebettet. Die dominierende Erzählung ist, dass Israel Opfer ist und von Gegnern umzingelt ist, gegen die es sich wehrt. So titelte die Bildzeitung am 24. September in Reaktion auf eine Ansprache Netanjahus an die libanesische Bevölkerung: "Verteidigungs-Krieg: Israel im Ausnahmezustand".

Es stimmt, es hat seit dem 8. Oktober 2023 immer wieder Schlagabtausche zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon gegeben, die auf beiden Seiten der gemeinsamen Grenze viele Menschen vertrieben haben. Der Grund dafür ist der Gaza-Krieg Israels in Reaktion auf den Hamas-Überfall. Aus Solidarität für die Palästinenser begann die Hisbollah mit Angriffen.

Der Auslöser und tiefere Grund der erneuten Eskalation wird von den Medien jedoch keine Aufmerksamkeit bei der Einordnung der Geschehnisse geschenkt.

Zur Erinnerung: Der Krieg gegen den Gazastreifen hat in den letzten elf Monaten bisher über 41.000 Palästinenser getötet, davon sind rund 70 Prozent Kinder und Frauen, 10.000 Menschen werden noch vermisst, knapp 100.000 sind verletzt worden. Der größte Teil von Gazas Gebäuden, darunter Schulen, Krankenhäuser, UN-Einrichtungen und Kirchen, ist zerstört. Im Prinzip existiert Gaza nicht mehr.