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Lieber Bundestag: Afghanistankrieg war kein "strategischer Fehler", sondern Aggressionsakt

David Goeßmann

U.S. Marines bei einer Operation am 3. Juli 2013 in der Provinz Helmand, Afghanistan. Bild: US-Regierung / Public Domain

Enquete-Kommission bilanziert Krieg. Dabei wird das Narrativ vom gut gemeinten Krieg gefestigt. Über einen Fall historischer Amnesie. Kommentar.

Heute stellt die Enquete-Kommission des Bundestags den Zwischenbericht zum Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan vor. Wie Medien vorab berichten, wird darin ein "vernichtendes Zeugnis" ausgestellt, so Tagesschau.de [1].

Die Operation, so zitiert Spiegel Online [2] aus dem 350-seitigen Bericht, sei "strategisch gescheitert, Ergebnisse und gesteckte Ziele dauerhaft abzusichern". Schuld daran sei schlechte Koordination und Abstimmung zwischen den Ressorts.

Die Legende vom wohlmeinenden Krieg

Außerdem seien die Lageberichte nicht an der RealitĂ€t orientiert gewesen. Aus dem militĂ€rischen Einsatz soll die Kommission nach der parlamentarischen Sommerpause Lehren ziehen.

Nun, die einzige Lehre, die man aus dem Krieg und der Beteiligung der Bundeswehr daran ziehen sollte, ist, dass der Krieg ein nicht gerechtfertigter Aggressionsakt gegen ein Ă€rmliches Dritte-Welt-Land gewesen ist, der erwartbar großes Leid und weiteres Chaos ĂŒber die Region gebracht hat.

Aber diese Lehre kann nicht gezogen werden, da in Deutschland, wie auch in den USA, die den Krieg erklĂ€rten und anfĂŒhrten, und anderen beteiligten Nato-Staaten, die Ansicht seit ĂŒber zwei Jahrzehnten vorherrscht, dass man mit guten Absichten an den Hindukusch zog, in Reaktion auf die AnschlĂ€ge vom 11. September 2001.

Bei dem Krieg, so heißt es bis heute unisono, ging es um weltweite Sicherheit, einen Kampf gegen den globalen Terrorismus und die Schaffung eines stabilen, wenn möglich, demokratischen Staats. Dass das nicht gelungen sei und man im August 2021 auf erbĂ€rmliche Weise das Land mit den Truppen verlassen musste, sei das Problem, nicht die Absicht oder der Krieg an sich.

Die Frage nach der LegitimitÀt als Tabu

Dass die Bundestag-Kommission das heute, ĂŒber 22 Jahre nach der Invasion Afghanistans, so sieht, und die Medien dabei folgen, ist kaum ĂŒberraschend. Denn das Narrativ, dass man mit hehren Idealen auszog, aber das Land sich den Idealen nicht recht fĂŒgen wollte – und dann im Westen auch strategische Fehler begangen wurden –, ist tief verwurzelt in der veröffentlichten Wahrnehmung der "humanitĂ€ren Intervention".

Was ausgespart wird, ist die Frage: War der Krieg, der Überfall auf das Land und die militĂ€rische Besatzung ĂŒber einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ĂŒberhaupt legitim?

Spulen wir zurĂŒck. Einen Monat nach den AnschlĂ€gen auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon begannen die USA einen Luftkrieg gegen Afghanistan. Die USA vermuteten dort die HintermĂ€nner der AnschlĂ€ge.

Es gab dafĂŒr durchaus Indizien. Beweise wurden jedoch nicht vorgelegt [3], und, wie sich spĂ€ter im Zuge der FBI-Untersuchungen zeigte, konnten keine beigebracht werden [4].

DĂŒrfen andere Staaten auch bomben?

Die Taliban-Regierung signalisierte den USA ihre Bereitschaft [5], Osama bin Laden auszuliefern, wenn Beweise fĂŒr seine Schuld vorgelegt wĂŒrden – eine international ĂŒbliche Bedingung. Die USA wiesen das Angebot mehrmals zurĂŒck und starteten eine Offensive gegen das Land bzw. setzten sie fort.

Einen intensiven Luftkrieg gegen ein Land zu fĂŒhren, weil dort VerdĂ€chtige fĂŒr ein schwerkriminelles Verbrechen vermutet werden, enthĂ€lt natĂŒrlich keinerlei LegitimitĂ€t. Wenn das der Standard wĂ€re, hĂ€tten wir Krieg aller gegen alle. Vor allem die USA und ihre VerbĂŒndeten wĂ€ren betroffen.

Nur ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: So beherbergten die USA zur Zeit, als man wegen Osama bin Laden Afghanistan mit FlĂ€chenbombardements ĂŒberzog, den notorischen Terroristen Emmanuel Constant [6] ("Toto Constant"), der auf der Gehaltsliste der CIA stand, und ignorierten die wiederholten AuslieferungsantrĂ€ge von Haiti. Constant wurde dort von Gerichten fĂŒr den Tod von insgesamt 5.000 Menschen, MĂŒttern, VĂ€tern und Kindern, bei Massakern verantwortlich gemacht.

HĂ€tte also Haiti Washington, Texas, Boston und New York in Schutt und Asche legen dĂŒrfen, weil die USA den Terroristen nicht auslieferten?

Das Terror-Trainingscamp in den USA

Aber das ist nur ein Beispiel von sehr vielen anderen. An der sogenannten "School of Americas" im Bundesstaat Georgia bildeten die USA regelmĂ€ĂŸig Terroristen, ParamilitĂ€rs und Junta-Befehlshaber aus, die in verschiedenen LĂ€ndern in Lateinamerika wĂŒten sollten. Das Trainingscamp wird auch manchmal als "backyard terrorism" [7] der Vereinigten Staaten bezeichnet.

Und dann sind da die vielen Aggressionsakte der USA mithilfe seiner Partner gegen andere souverÀne Staaten (siehe allein die Indochinakriege, aber auch der Angriffskrieg gegen den Irak). Sie könnten nach der 9/11-Doktrin alle als Rechtfertigung von den angegriffenen LÀndern genommen werden, die "Drahtzieher" und Verbrecher im Westen mittels Krieg gegen die Staaten zur Rechenschaft zu ziehen.

Es gab im Fall der 9/11-Schwerkriminellen zudem eine alternative, zivile Lösung, die von renommierten Historikern, Richtern [8], dem Vatikan und der Friedensbewegung, wie auch der Mehrheit der Weltbevölkerung [9], eingefordert wurde. Sie verlangten eine internationale Polizeiaktion zur Erfassung der VerdĂ€chtigen, wenn nötig mit geheimdienstlicher UnterstĂŒtzung, die dann vor ein Gericht gestellt werden sollten, wo ihnen Beweise fĂŒr ihre Schuld vorgelegt werden mĂŒssten.

Flex Targeting und Opferstudien

Aber das wurde alles ĂŒbergangen, nicht nur von den politischen EntscheidungstrĂ€gern in Washington und seinen PartnerlĂ€ndern in Europa, sondern auch von den meinungsbildenden Massenmedien im Westen, mit sehr wenigen Ausnahmen.

Die Folgen der 9/11-Doktrin und des Kriegs gegen eines der Àrmsten LÀnder der Welt waren von Anfang an absehbar.

Da das US-MilitĂ€r, um eigene Verluste auszuschließen, aus einer extremen Höhe von 10.000 Metern ĂŒber dicht besiedeltem Gebiet bombte und Piloten das sogenannte "time critical" bzw. "flex targeting" ohne AufklĂ€rung verwenden durften, wurden viele unschuldige Afghanen bei den US-Bombardements getötet.

Zwei Monate nach Beginn des Luftkriegs legte die New Hampshire University eine umfÀngliche Untersuchung [10] der direkten zivilen Opfer der US-Bombardierungen in Afghanistan vor, inklusive Rohdaten. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Bomben innerhalb von acht Wochen fast 4.000 Zivilisten getötet hatten, vor allem Frauen und Kinder.

Lasst sie Gras essen

Die Medien gingen darĂŒber hinweg oder stellten die Zahlen infrage. FĂŒr die FAZ und andere Medien war daher unerheblich, dass der von der US-amerikanischen UniversitĂ€t bezifferte "Kollateralschaden" durchaus nicht die "tatsĂ€chliche Zahl der zivilen Toten" wiedergab.

Die Hilfsorganisation "MĂ©decins Sans FrontiĂšres International", die mit Mitarbeitern vor Ort war, nannte zum Beispiel höhere Opferzahlen – die deutschen Leserinnen und Leser erfuhren nichts davon. Ebenso nicht von den Tragödien in den afghanischen Lagern und Bergdörfern, wo VĂ€ter, MĂŒtter und Kinder dazu ĂŒbergingen, Gras vom Boden zu essen [11], um zu ĂŒberleben.

Denn seit dem US-Luftkrieg hatten die USA Hilfslieferungen nach Afghanistan, einem der Ă€rmsten LĂ€nder der Welt, das von humanitĂ€rer Hilfe abhĂ€ngig war, gestoppt. Die BĂ€uche der afghanischen Babys wurden zuerst durch den Grasbrei wie die ihrer Eltern und Geschwister, steinhart, bevor sie in den Armen ihrer MĂŒtter, die keine Milch mehr geben konnten, verstarben.

Kein Thema: Bis zu 20.000 indirekte Opfer

Tausende Afghanen verendeten im Winter 2001/2002 ohne Zugang zu Lebensmitteln – wie die Hilfsorganisation "Christian Aid" vom Lager in Maslakh nahe Herat zu berichten wusste. Die britische Reporterin McKinley bilanzierte, dass Maslakh sich am Rande eines "humanitĂ€ren Desasters im Stil Äthiopiens" [12] befĂ€nde.

Opfer-Berechnungen zufolge, so der britische Guardian [13] in einem Artikel (eine der seltenen Ausnahmen), starben in den ersten Monaten der Offensive als Folge des US-Luftkriegs mindestens 20.000 Afghanen an Bomben-Verletzungen oder medizinischer und humanitÀrer Unterversorgung, zusÀtzlich zu den direkten Opfern der Bombardierungen.

WĂ€hrend die Opfer der AnschlĂ€ge vom 11. September in den USA (zu Recht) eine ausgiebige und einfĂŒhlsame Berichterstattung erfuhren, inklusive Human-Touch-Stories, und bis heute an die Opfer erinnert wird, verschwanden die Opfer "unserer" Aggression im MĂŒlleimer der Geschichte. Genauso wie die IllegitimitĂ€t des Kriegs, der Invasion, der Bombardierungen insgesamt

Die aktuelle Bilanz des Bundestags, kritisch gegenĂŒber den "strategischen Fehlern" der gut gemeinten "humanitĂ€ren Operation", ist nur ein weiterer (und konsequenter) Schritt bei der Entsorgung unangenehmer historischer RealitĂ€ten, wenn es um "unsere" Gewaltakte auf der internationalen BĂŒhne geht.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9632259

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/inland/afghanistan-einsatz-bundestag-100.html
[2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bilanz-des-deutschen-afghanistan-einsatzes-strategisch-gescheitert-a-9736f848-b636-4845-9378-b359458f9929
[3] https://www.washingtonpost.com/archive/politics/2002/06/06/mueller-outlines-origin-funding-of-sept-11-plot/aee754ab-a43e-4db1-90ca-b80c4c550bcc/
[4] https://archives.fbi.gov/archives/news/speeches/partnership-and-prevention-the-fbis-role-in-homeland-security
[5] http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/1599443.stm
[6] https://chomsky.info/20040314/
[7] https://www.theguardian.com/world/2001/oct/30/afghanistan.terrorism19
[8] https://www.zeit.de/2001/44/200144_essay.garzon.xml
[9] https://www.globalissues.org/article/302/world-opinion-opposes-the-attack-on-afghanistan
[10] http://www.afghandata.org:8080/xmlui/handle/azu/20925
[11] http://www.rawa.org/eatgrass.htm
[12] http://www.rawa.org/ignoring.htm
[13] https://www.theguardian.com/world/2002/may/20/afghanistan.comment