Lindner: Große Koalition ist wahrscheinlichstes Ergebnis der Bundestagswahl
Die überraschende Aussage des FDP-Chefs könnte auch taktische Hintergründe haben
In einem Interview mit der Sonntagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) hat der deutsche FDP-Vorsitzende Christian Lindner überraschend verlautbart, die "wahrscheinlichste [Koalitions-]Variante nach der Bundestagswahl" sei für ihn "die nächste Große Koalition" aus Union und SPD. Das Wahlprogramm der CDU lässt sich seiner Meinung nach "in den zwei Worten 'weiter so' zusammenfassen". Allerdings hält er eine Koalition mit CDU und CSU immer noch für wahrscheinlicher als eine Ampelkoalition mit den Grünen und der SPD, weil deren Programm "Ähnlichkeiten mit den Ideen des letzten französischen Präsidenten François Hollande" habe.
In den Umfragen zur deutschen Bundestagswahl liegt Lindners FDP derzeit bei Werten zwischen acht und zehneinhalb Prozent. Weil die Union auf 38 bis 40 Prozent kommt, wäre eine rechnerische Mandatsmehrheit der beiden Parteien den Erhebungen der Institute Allensbach, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen und GMS möglich, was Lindners Einschätzung auf den ersten Blick bescheiden wirken und aus dem Rahmen klassischer Politikerstellungnahmen fallen lässt.
Sie könnte jedoch durchaus einen taktischen Hintergrund haben und potenziellen Wählern vermitteln, dass es die FDP diesmal anders macht als bei den Koalitionsverhandlungen 2009: Dass sie sich nicht mit einer Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers abspeisen lässt und von der Union die ebenfalls imageschädigende Bürde der Krankenversicherungskopfpauschale übernimmt, sondern dass im Zweifelsfall auch eine Regierungsbeteiligung verzichtet, wenn die Union keine ausreichenden Zugeständnisse macht.
"Komplett durchgegrünt"
Bereits in früheren Interviews hatte Lindner den Wählern versichert, die FDP wolle nur dann in eine Koalition eintreten, wenn sie "deren Richtung prägen" und "liberale Projekte umsetzen" könne. Dabei setzte er sich auch von Angela Merkel ab, deren Politik er als "komplett durchgrünt" schmähte.
Die Forderung, dass seine Partei nur dann mit der Union koalieren wird, wenn jemand anderer als Angela Merkel Kanzler wird, vermied Lindner bislang jedoch, obwohl sie der FDP einen weiteren Teil des Unzufriedenenpotenzials zuführen könnte. Dass ein Koalitionspartner solch eine Forderung erhebt, wäre in der Geschichte der Bundesrepublik kein Novum:
1961, als die Liberalen mit dem Wahlslogan "Mit der CDU, aber ohne Adenauer" ihr bis dahin bestes Bundestagswahlergebnis einfuhren, machte die CDU für eine Koalition das Zugeständnis, dass der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen Posten während der Legislaturperiode an Ludwig Erhard abgeben musste. Solch eine Forderung der FDP hätte auch für die CDU und sogar für Merkel Vorzüge: Sie würde ihr einen "ehrenvollen" Abschied erlauben: Nicht von der eigenen Partei verjagt, sondern "freiwillig" in den Ruhestand gegangen, um der Union den Machterhalt zu ermöglichen (vgl. Koalitionsaussagenkarussell).
Schutz des "einzelnen Menschen"
Den Wiederaufstieg der FDP in der Wählergunst erklärt Lindner im Interview mit der NZZ damit, dass man das Rutschen unter die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl 2013 als "Auftrag zur politischen und personellen Erneuerung" begriffen und "umgesetzt" habe. Nun sei die FDP nicht mehr die Partei "einzelner Themen und einzelner Milieus". Zielgruppe sei nicht "der Unternehmer, der […] die Subventionen für seine Windkraftanlage [liebt]", sondern "alle, die unser Lebensgefühl teilen, für dich und dein Recht, im Hier und Jetzt auf die Weise glücklich zu werden, wie du es willst - und nicht, wie andere es dir vorschreiben." Deshalb stelle die FDP "nicht den Staat oder eine Gruppe oder irgendeine Ideologie" in den Mittelpunkt, sondern "den einzelnen Menschen", den sie "vor allem [schützen wolle], was ihn klein macht: vor zu viel Bürokratie, vor zu hohen Steuern […], vor einer Kultur des Shitstorms [und] vor zu viel wirtschaftlicher Machtballung in den Händen weniger, Stichwort Google".
Dass eine Ampelkoalition dabei nicht die erste Wahl der FDP ist, hatte am Sonntag auch Generalsekretärin Nicola Beer angedeutet, als sie die SPD nach der Verwüstung Hamburgs durch Linksextremisten mahnte, "ihre Position zu klären" (vgl. Verfassungsfeindlichen Parteien soll Steuergeld verwehrt bleiben). Vorher hatte sie die Bundestagsabgeordneten vergeblich dazu aufgerufen, gegen das "NetzDG" benannte Social-Media-Zensurgesetz des SPD-Justizministers Heiko Maas zu stimmen. Der Magdeburger FDP-Politiker Holger Franke versprach auf Twitter sogar öffentlich "eine FDP in Regierungsverantwortung" werde "dieses NetzDG kassieren" - wobei der Wortlaut ("dieses") eher auf eine Änderung als auf eine Abschaffung hindeutet - ebenso wie die des bayerischen FDP-Bundestagskandidaten Jimmy Schulz, der auf die Frage "Hat die FDP denn vor im Falle einer Regierungsbeteiligung dieses Gesetz zu verändern?" etwas vorsichtiger antwortete, das sei "der Plan".
Eine Twitter-Anfrage an den FDP-Vorsitzenden, ob die Rücknahme des NetzDG eine Koalitionsbedingung sein wird, blieb bislang allerdings ohne Antwort. Dafür kündigte er eine Verfassungsklage gegen den ebenfalls in Maas' Ministerium ausgeheckten Alltagseinsatz von Staatstrojanern an, den er als "noch weniger mit einem liberalen Rechtsstaat vereinbar als die Vorratsdatenspeicherung" bezeichnete.
[Update: Inzwischen twitterte die ehemalige FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine klarere Ablehnung von Maas' Zensurgesetz: "#NetzDG - Auftrag für den neuen Bundestag im Herbst - Gesetz muss weg."]