zurück zum Artikel

Lindner will die "breiten Schultern der Gesellschaft" entlasten

Thomas Pany

Die Umverteilung von unten nach oben wĂŒrde durch die SteuerplĂ€ne weitergehen, werfen Kritiker dem FDP-Finanzminister vor. Der sieht ganz im Gegenteil "Fairness" als Prinzip seines Vorschlages.

Der FDP-Finanzminister stellt seine PlĂ€ne fĂŒr Steuerentlastungen vor. Die BĂŒrger sollen im nĂ€chsten Jahr insgesamt zehn Milliarden weniger zahlen. Ob das angesichts der Teuerungswellen reicht? Kritiker sehen ein prinzipielles Problem.

Der Konsum geht zurĂŒck. Die deutschen EinzelhĂ€ndler verzeichneten im ersten Halbjahr 2022 den stĂ€rksten Umsatzeinbruch seit 28 Jahren [1], hieß es Anfang August. Seit Wochen beherrschen BeitrĂ€ge ĂŒber die Gas-Krise und Teuerungen die Top-Nachrichten. Es stehe ein "heißer Herbst" und "Wutwinter" vor der TĂŒr, der den sozialen Frieden in Deutschland auf die Probe stellt, lauten viele Prognosen.

Jetzt, in der Sommerpause, schlĂ€gt die Stunde von Christian Lindner, dem FDP-Chef und amtierenden Finanzminister, der durch seine VIP-Hochzeit auf Sylt und seiner flapsigen Bemerkung zur Gratis-MentalitĂ€t [2] einen abgehobenen, elitĂ€ren Eindruck auf die Öffentlichkeit machte. Dazu kommt, dass sich manche FDP-WĂ€hler wie auch FDP-Abgeordnete Unzufriedenheit und Kritik [3] ĂŒber die von Justizminister Buschmann und Gesundheitsminister Lauterbach ausgehandelten Corona-Maßnahmen Ă€ußerten.

FĂŒr die "StabilitĂ€t unseres Landes"

So kommt die AnkĂŒndigung des Entlastungspakets des Finanzministers zur rechten Zeit. 48 Millionen BĂŒrgerinnen und BĂŒrger soll es ĂŒber den Ausgleich der "kalten Progression" [4] zu mehr Kaufkraft verhelfen. Lindner will die "breiten Schultern", die fĂŒr die "StabilitĂ€t unseres Landes" bedeutend sind, Fairness zuteilwerden lassen, wie er in der FAZ erklĂ€rt.

In Zeiten der Inflation werden aber selbst steigende Bruttolöhne von steigenden Preisen absorbiert. Es erhöht sich fĂŒr die Menschen ihr Steuersatz, obwohl ihre Kaufkraft stagniert oder schwindet. Aus der beabsichtigten Progression wird somit die "kalte" Progression. Profiteur ist der Fiskus. Sollte sich der Staat aber auf Kosten der BĂŒrgerinnen und BĂŒrger bereichern? Nein, wir sollten diese demokratisch nicht legitimierten Einnahmen zurĂŒckgeben.

Christian Lindner [5]

Bereits der erste Satz gibt ein Credo wider: das Prinzip der LeistungsfĂ€higkeit, auf das, so Lindner, das Steuersystem beruhe. Faktisch lĂ€uft das fĂŒr den Finanzminister darauf hinaus, dass man von den "breiten Schultern", fiskalisch nicht noch mehr verlangen soll.

Jedenfalls bleibt ab einem Einkommen von 61.972 Euro, ab dem der Spitzensteuersatz zu zahlen ist, die Entlastung in absoluten BetrĂ€gen konstant. Das sind natĂŒrlich gute GehĂ€lter. Aber selbst der Spitzensteuersatz betrifft eben nicht Spitzeneinkommen, sondern bereits die Mitte unserer Gesellschaft. Wer hier Mehrbelastungen akzeptiert oder gar einfordert, der verkennt die Bedeutung dieser breiten Schultern fĂŒr die StabilitĂ€t unseres Landes.

Das Steuersystem ist Ausdruck der Gerechtigkeitsvorstellung unserer Gesellschaft. Es hat eine vermittelnde Funktion. Zwischen jenen, die Formen der Umverteilung und SolidaritÀt empfangen. Und zwischen den anderen, die die Ergebnisse ihrer Schaffenskraft zu teilen haben. Ein an nachhaltiger Fairness orientierter Staat darf sich nicht exklusiv auf eine Seite schlagen.

Christian Lindner [6]

ElitÀre Statements

Was Lindner hier mit der Formulierung "nicht exklusiv auf eine Seite schlagen" andeutet, wird in einem FAZ-Kommentar mit einer Überschrift, die das Leitmotiv der "GratismentalitĂ€t" arrogant aus dem Ledersessel bespielt ("Auch das Geld kommt bald aus der Steckdose"), genauer erlĂ€utert: zu viel UnterstĂŒtzung fĂŒr die Ă€rmeren Schichten, zu viel Umverteilung, die den Staat ĂŒberfordert:

An einer Entlastung fĂŒhrt kein Weg vorbei. SPD und GrĂŒne werden dabei aber nicht bevorzugt Bezieher der Grundsicherung im Auge haben dĂŒrfen. Die sind ĂŒber ZuschĂŒsse fĂŒr Wohnung und Heizkosten besser abgesichert als die Leute, die in Lohn und Brot stehen, damit aber schon in normalen Zeiten kaum ĂŒber die Runden kommen.

Jasper von Altenbockum [7]

Und die RĂ€nder?

Lindners Zielgruppe ist die arbeitende Mitte, wie das hier kĂŒrzlich im Vorgriff auf die PlĂ€ne des Finanzministers mit einem Blick auf die RĂ€nder dargestellt wurde: Christian Lindner auf der Suche: Wer ist die "arbeitende Mitte"? [8].

Die Steuersenkungen, die Lindner vorschlÀgt, sehen vor, wie es die SZ zusammenfasst, dass die Tarifwerte bei der Einkommenssteuer nach oben geschoben werden.

Der jeweilige Steuersatz greift also erst ab einem höheren Einkommenswert. Ab einem Jahreseinkommen von etwa 60.000 Euro sollen die SteuersÀtze nicht mehr an die Inflation angepasst werden. Damit solle die breite Mitte der Gesellschaft entlasten werden. Er habe bewusst darauf verzichtet, den Eckwert der Reichensteuer zu verschieben, sagte Lindner.

Neben Senkungen bei der Einkommenssteuer sollen das Kindergeld und der Kinderfreibetrag erhöht werden. Zugleich sieht Lindner in seinem Entwurf eine Erhöhung des Grundfreibetrags vor, also des Einkommens, bis zu dem keine Steuer gezahlt werden muss. Der Finanzminister will diese Grenze von derzeit 10.347 Euro auf 10.632 Euro im kommenden und 10.932 Euro im Jahr 2024 anheben.

SZ [9]

Laut Lindner profitieren von den neuen Grenzwerten "Arbeitnehmerinnen und Geringverdiener, Rentnerinnen und SelbstÀndige, Studierende mit steuerpflichtigen Nebenjobs und vor allem Familien".

Das sehen Kritiker nicht ganz so plakativ. So hĂ€lt dem Finanzminister etwa der Fraktionsvize des Koalitionspartners und politischen Rivalen der FDP, Andreas Audretsch von den GrĂŒnen vor, dass sein Vorschlag, Topverdiener dreimal stĂ€rker begĂŒnstige [10] als Menschen mit kleinen Einkommen. "Das ist einer so schwierigen Lage nicht angemessen. Wir brauchen das Gegenteil: #Entlastung von Menschen mit wenig Geld, mit kleinen u. mittleren #Einkommen."

Die Rechnungsbasis dazu hat Audretsch dem Handelsblatt unterbreitet [11]. Wie aus dem Bericht der Finanzzeitung hervorgeht, "sollen Steuerzahler mit einem Einkommen von 25.000 Euro im Jahr um 213 Euro entlastet werden. Bei einem Einkommen von 60.000 Euro sind demnach Entlastungen von 486 Euro geplant, bei Einkommen von 100.000 Euro im Jahr wĂ€ren es 672 Euro. Prozentual fĂ€llt die Entlastungen bei niedrigen Einkommen grĂ¶ĂŸer aus als bei hohen - in absoluten Zahlen jedoch nicht [12]".

Fragt sich, ob die hier erwĂ€hnten Summen ĂŒberhaupt reichen, um den Teuerungswellen, die weiter auf die Bevölkerung zurollen, ernsthaft zu begegnen?

Der Kritiker der Stunde

Als Kritiker der Stunde des Regierungspolitikers der Stunde erweist sich wieder einmal [13] der HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrer des ParitĂ€tischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Die PlĂ€ne von Bundesfinanzminister Christian Lindner fĂŒr neue Steuerentlastungen hĂ€tten einen "völlig falschen Ansatz [14] mit einmal mehr beachtlicher sozialer Schieflage".

Zwar sei zum Beispiel die Kindergelderhöhung ein "an sich gutes Signal", aber "absolut unzureichend". Die Anhebung des Kindergeldes um acht Euro gleiche noch nicht einmal die aktuelle Inflation aus, so Schneider: "Wer Familien wirklich entlasten will, kann nicht mit KleckerbetrÀgen hantieren."

Die Inflation habe verheerende Folgen fĂŒr arme Haushalte, so Schneiders prinzipielle Kritik am Lindnerschen Entlastungsoeuvre. Es wĂŒrden völlig falsche PrioritĂ€ten gesetzt. Von einem höheren Grundfreibetrag wĂŒrden Reiche deutlich stĂ€rker als Niedrigeinkommensbezieher profitieren. Die Umsetzung dieser SteuerplĂ€ne wĂŒrde "die ohnehin eklatante Einkommensungleichheit in Deutschland sogar noch vergrĂ¶ĂŸern".


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7216336

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/einzelhandel-verzeichnet-groessten-umsatzeinbruch-seit-1994-inflation-daempft-kauflaune-a-599ff203-5bfd-478f-b2ce-90cd6dc03c55
[2] https://www.rnd.de/politik/christian-lindner-scharfe-kritik-an-gratismentalitaet-bei-9-euro-ticket-ERE4NURBPVGOLLVXN5URVSKTVE.html
[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus240344571/Corona-Massnahmen-Widerstand-wird-massiv-sein-So-spaltet-das-Corona-Schutzkonzept-die-FDP.html
[4] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kalte-progression-das-aufgepumpte-monster-1.1949606-0#seite-2
[5] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/steuerreform-wegen-kalter-progression-lindner-erklaert-steuerplaene-18232496.html
[6] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/steuerreform-wegen-kalter-progression-lindner-erklaert-steuerplaene-18232496.html
[7] https://www.faz.net/aktuell/politik/lindner-und-kalte-progression-richtiger-schritt-fuer-mittelschicht-18232951.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Christian-Lindner-auf-der-Suche-Wer-ist-die-arbeitende-Mitte-7193747.html
[9] https://www.sueddeutsche.de/politik/lindner-steuersenkungen-inflation-entlastungspaket-1.5636866
[10] https://twitter.com/AnAudretsch/status/1556988781663764482
[11] https://twitter.com/AnAudretsch/status/1556988783874248707
[12] https://app.handelsblatt.com/wirtschaft-gruene-kritisieren-lindners-steuerplaene-topverdiener-beguenstigt/28585678.html
[13] https://www.rnd.de/politik/christian-lindner-scharfe-kritik-an-gratismentalitaet-bei-9-euro-ticket-ERE4NURBPVGOLLVXN5URVSKTVE.html
[14] https://www.verbaende.com/news/pressemitteilung/kritik-an-plaenen-von-christian-lindner-paritaetischer-nennt-kindergelderhoehung-absolut-unzureichend-149518/