Linkspartei: Libertäre gegen Linkskonservative
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Je schriller die libertäre Seite sich positioniert, desto mehr folgt das andere Lager ihrer volkstümelnden Sympathie für die "ganz normale" Bevölkerung – und umgekehrt. Eine Analyse.
In der Linkspartei stehen die "linkskonservative" Position (Wagenknecht 2022, 275, siehe Literaturverzeichnis am Ende des Artikels) und libertäre Positionen in einer sich gegenseitig bestätigenden und eskalierenden Wechselwirkung.
Ein Beispiel für libertäre Auffassungen sind Äußerungen zur Schule. Die Parteivorsitzende Janine Wissler spricht sich für die Abschaffung von schulischen Hausaufgaben aus.
Die Hausaufgaben abschaffen?
"Der alltägliche Hausaufgaben-Stress vergiftet das Familienleben, bedeutet Streit, Überforderung, Tränen und schürt Aggressionen", schreibt Wissler in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. Gewiss gibt es Nachteile für Kinder, die aus sog. bildungsfernen Elternhäusern kommen. Sie erhalten weniger oder keine Hilfe bei den Hausaufgaben.
Die angemessene Antwort darauf wären u. a. mehr Förderstunden für entsprechende Schüler. Daran wird an Schulen gegenwärtig am ehesten gespart. Ein Lernen ohne Eigentätigkeit der Schüler auch außerhalb der Schule ist unmöglich. Beispielsweise bedarf das Lesen-Lernen und das Einmaleins sehr viel Wiederholung bzw. Routine sowie eines direkten Ansprechpartners des Kindes.
In Schulen werden die Schüler in großen Gruppen unterrichtet. Für Lehrer ist ein direktes Eingehen auf die persönlichen Lernschwierigkeiten eines Schülers zeitlich nur jeweils kurz möglich. Diese Eins-zu-Eins-Beziehung können Schulen nicht leisten. Für Kinder, die solche Hilfe zu Hause nicht erhalten, können Lesepaten vermittelt werden. Der Wert einer eigenständigen Bearbeitung von Aufgaben seitens der Schüler außerhalb der Schule ist unumstritten.
Vokabeln kann nur jeder Schüler für sich lernen. Wissler meint hingegen:
Wenn man in der Oberstufe die Literatur für den Deutsch-Leistungskurs zu Hause liest, ist das okay, oder dass man für Prüfungen, Referate und Klausuren auch zu Hause lernt. Aber tägliche Hausaufgaben, deren Erfüllung in der Schule kontrolliert wird, müssen abgeschafft werden.
Janine Wissler, Tagesspiegel
Noch absurder ist die Position eines im akademischen Umfeld der Linkspartei aktiven Publizisten. Alex Demirovic fordert: "In Alternativschulen entscheiden die Schüler*innen über Lernrhythmen und -inhalte" (Demirovic 2016, 75).
Diese Vorstellung sieht vom pädagogischen Paradox ab. "Handlungen können dann als pädagogisch legitim gelten, wenn man mit ihnen jene Freiheit ermöglicht, der sie doch als steuernde Eingriffe immer schon entgegenstehen" (Schäfer 2004, 713). Freiheit hat kein Individuum einfach aus sich heraus, sondern muss zu ihr befähigt werden. Spontanautonomie ist ein Mythos.
Einseitige Parteinahme
Am 9. September 2022 kam es in Berlin-Lichtenberg zu einem Polizeieinsatz bei einem syrischen Ehepaar, in dessen Verlauf der Mann auf den Boden geworfen wurde. Die Syrerin sagte zu dem Polizisten: "Das ist mein Haus, geh raus!" Der wiederum antwortete: "Das ist mein Land und du bist hier Gast!" Die Frau wirkte mit Händen und mit Schreien auf den Polizisten ein.
Er erwiderte daraufhin: "Du bist hier in meinem Land, du hast dich nach unseren Gesetzen zu verhalten! Schrei mich nicht an und fass mich nie wieder an, ich bringe dich ins Gefängnis." Der Linkspartei-Abgeordnete (Landesparlament) Ferat Kocak hat daraufhin eine Pressekonferenz mit den beiden Syrern veranstaltet, in der die Polizei des Rassismus angeklagt wurde.
Es ist richtig, sich gegen Polizeigewalt zu wenden, und es ist angebracht, wenn ausländerfeindliche Äußerungen vorliegen, sie zu kritisieren. Als problematisch erweist sich aber die Einseitigkeit des Linkspartei-Abgeordneten.
Er stellt sich auf die Seite der beiden Syrer und sieht sie allein als Opfer eines Übergriffs. Vom Standpunkt einer Partei, die für ein Gemeinwesen eintritt, das nicht aus lauter Egoisten und Egozentrikern bestehen soll, wären nicht nur übergriffige Polizisten zu kritisieren, sondern auch Leute, die meinen, Gesetze sollten für alle anderen gelten, nicht aber für sie selbst.
Der syrische Mann war dreimal beim Schwarzfahren erwischt worden und bezahlte die fällige Geldstrafe von 750 nicht. Die Polizei rückte nicht nur deshalb an, sondern auch wegen einer Gefährderansprache gegenüber der syrischen Ehefrau. "Nach Tagesspiegel-Informationen wird ihr vorgeworfen, dass sie eine andere Frau mit freizügigen Fotos kompromittiert haben soll. Es geht um Nötigung, Beleidigung und anderes" (Meltzer 2022).
Empathie zeigt der Linkspartei-Politiker allein für das syrische Ehepaar. Er mag sich anscheinend nicht vergegenwärtigen, was es mit einer Person macht, wenn sie tagtäglich mit Leuten zu tun hat, die praktisch anderen Bürgern oder deren Gesamtheit durch Verstöße gegen Gesetze schaden. Die meisten Bürger meiden den Kontakt mit solchen Zeitgenossen eher.
Polizisten können das nicht, sondern müssen sich ihren ganzen Arbeitstag lang mit Regelverletzungen beschäftigen. Gewiss lässt sich aus den schlechten Erfahrungen von Demonstranten mit Polizeigewalt ein pauschales Feindbild entwickeln. Allerdings besteht der Arbeitsalltag von Streifenpolizisten aus etwas anderem.
Dass es sich bei ihnen nicht selten um Personen mit ruppigen Umgangsformen und einem autoritären Bewusstsein handelt, ist die eine Seite der Medaille. Die andere besteht in der Nonchalance von vermeintlich Progressiven gegenüber der Kriminalität.1
Minderheiten stehen an erster Stelle
Bisweilen treten Leute aus der Linkspartei so auf, als wollten sie mit Vorsatz und Fleiß Wagenknechts Vorwürfe bestätigen, es gehe in der Linkspartei zu wenig um die Anliegen der großen Mehrheit der Bevölkerung.
In der Zeitschrift Luxemburg der Rosa-Luxemburg-Stiftung heißt es beispielsweise in einem Beitrag aus dem Jahr 2018:2
Queer-feministische Bewegungen wären aufgrund ihrer besonderen gesellschaftlichen Akzeptanz und Wirkungsmacht diejenigen, die derzeit das größte Potenzial aufweisen, wenn es darum geht, sich gegen rechts und gegen die Neoliberalisierung unseres Lebens zu stellen.
"Feminismus" wird in dieser – wie immer – umfangreichen Ausgabe der Luxemburg, deren Heftüberschrift lautet: "Am fröhlichsten im Sturm: Feminismus", so gut wie gar nicht auf die Anliegen der übergroßen Mehrheit der Frauen in Deutschland bezogen. Vielmehr stehen völlig selbstverständlich "queere" Themen bzw. LGBT-Anliegen sowie Berichte über andere Länder (USA, Nigeria) im Mittelpunkt.
Es spricht nichts dagegen, solche Themen zu behandeln. Fragwürdig ist die Prioritätensetzung.3
Wagenknecht und ihre Freunde vertreten demgegenüber eine republikanische Position. Sie fordert ein starkes politisches Gemeinwesen, das die Menschen befähigt, "über die partikularen Interessen ihres Daseins als bourgeois (Privatbürger) hinauszuschauen, sie zu transzendieren. In der Rolle des citoyens (Staatsbürger) diskutieren und beschließen sie, wie sie leben wollen; sie verstehen dabei, das Allgemeininteresse von den vielen Einzelinteressen zu scheiden. Demokratie ist in diesem Verständnis der Ort der gemeinsamen Entscheidung über das gemeinsame Leben nach dem Prinzip des Allgemeinwillens" (Münch 1998, 364).
Probleme erklärt sich diese Position daraus, dass das Gemeinwesen "zu stark in Einzelgruppen gespalten" oder "durch äußere Verflechtungen in seiner Souveränität beschränkt" ist (Ebd.). Eine republikanische Position legt Wert auf "die Herausbildung einer gruppenübergreifenden Solidarität der Staatsbürger in einer staatsbürgerlichen Gemeinschaft" (ebd., 374) im Unterschied zum Rückzug der Bürger in partikulare Gemeinschaften ethnischer, kultureller, nationaler oder religiöser Zugehörigkeit. Im Unterschied dazu konzentrieren sich Libertäre auf die Freiheit von Individuen oder Gruppen von allen Beschränkungen – z. B. durch Hausaufgaben oder Gesetze.
Wagenknecht plädiert für "demokratische Gesellschaften mit echtem Wir-Gefühl und Vertrauen zu anderen Menschen". Ihre Zeitdiagnose lautet:4
(...) Arbeiter, die einfachen Servicebeschäftigten und die klassische Mittelschicht … wünschen sich Stabilität, Sicherheit und Zsuammenhag und gerade deshalb mehr sozialen Ausgleich und weniger Verteilungsungerechtigkeit. Sie spüren, dass eine globalisierte Marktgesellschaft genau die Gemeinschaftsbindungen, Werte und Traditionen zerstört, die ihnen wichtig sind. Sie fordern Veränderung, weil sie Werte bewahren möchten. Sie spüren, dass die alten Traditionen eine neue wirtschaftliche Ordnung brauchen, um wieder lebendig zu werden"
Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten