Long Covid und die Schläfer-Viren

Studie legt nahe: Sars-CoV-2 kann einen alten Virusüberrest aktivieren, der in unserer DNA schlummert. Mit chronischen Folgen für die Betroffenen

Long Covid wurde im Verlauf der Pandemie ohnehin nicht sonderlich breit diskutiert und ist zuletzt im Nachrichtensturm der Zeitereignisse mit untergegangen. Einzelne Beiträge widmeten sich gelegentlich gleichwohl dem Thema, so der Deutschlandfunk in einem Beitrag Anfang Februar.

In der Sendung wurde daran erinnert, dass eine Sars-CoV-2-Infektion auch Monate nach der akuten Covid-Phase noch Probleme bereiten kann. So zeigten zum Beispiel sowohl eine Untersuchung an über 150.000 US-Veteranen als auch Befunde aus Australien, dass Herzmuskelentzündungen durchaus um das Fünffache ansteigen können.

Spätfolgen können gemäß dem Sendebeitrag sogar auftreten, wenn es bei der ursprünglichen Infektion kaum Symptome ab. Man muss dazu sagen, dass allein das chronische Erschöpfungssyndrom, das immer wieder von Betroffenen ins Feld geführt wird, noch weitgehend unerforscht ist.

Unterschätzte Gefahr: die neurologischen Krisenfälle

Akademische Studien deuten darauf hin, dass mehr als zehn Prozent der mit Sars-CoV-2 infizierten Personen sich nicht vollständig erholen und/oder neue Symptome entwickeln.

Auffällig: Dabei ist der Anteil neurologischer und/oder psychiatrischer Erkrankungen hoch. Angesichts von über 500 Millionen bestätigten Covid-19-Fällen weltweit, darunter mehr als 360 Millionen in den USA und Europa, erkennt man dieses Problem zunehmend als beachtenswerten gesundheitlichen Krisenfall, da Millionen von Menschen betroffen sind.

Nun scheint es, was die neuropsychiatrischen Syndrome als Folgen von Covid-19 angeht, dass es einen validen Erklärungsansatz gibt. Wie der Kölner Stadt-Anzeiger in seiner Printausgabe Anfang der Woche schrieb, weckt bei etwa jedem Vierten Betroffenen die Coronainfektion ein im Körper schlummerndes Virus. Mit Potenzial für beachtliche Probleme.1

"The aliens inside us"

Einige der darauf einsetzenden bzw. länger anhaltenden Beschwerden, so etwa starke entzündliche Reaktionen und Begleiterscheinungen, ähneln auffallend der Symptomatik bei MS (Multipler Sklerose).

Eine Studie, auf die das Blatt sich bezieht und die zu Beginn des Jahres als Preprint veröffentlicht wurde, gibt erstaunliche Hinweise, wie Nervengewebe geschädigt wird und was es dabei mit Virusüberresten ("The aliens inside us") auf sich hat, die als Auslöser wirken. Da allein in Deutschland ca. 1,2 Millionen Menschen betroffen sind, ist schon angezeigt, wie groß der Bedarf an einer möglichen Therapie sein mag.

Die Untersuchung, an der 22 Autoren beteiligt waren, trägt den Titel (in dt. Übersetzung): Benjamin Charvet et al: Sars-CoV-2 induziert die Expression des Hüllproteins des humanen endogenen Retrovirus vom Typ W in Blutlymphozyten und in Geweben von Covid-19-Patienten.

Das Autorenteam macht geltend, dass das Sars-CoV-2-Spikeprotein ein Hüllprotein (ENV) aktiviert, das von einem humanen endogenen Retrovirus (Human Endogenous Retrovirus-W, HERV-W) kodiert wird.

Wenn die Nerven blank liegen ...

Diese Aktivierung, etwa in Blutzellen, könnte direkt für viele pathologische Merkmale der Krankheit bzw. Krankheitsfolgen verantwortlich sein, um die es hier geht.

Professor Patrick Küry ist Co-Autor der Studie. Er arbeitet als Leiter der Arbeitsgruppe für Neuroregeneration am Universitätsklinikum Düsseldorf und sagt:

YSars-CoV-2 kann das endogene Retrovirus wecken. (…) Wenn das endogene Retrovirus HERV-W geweckt wurde, dann bedeutet das Ärger.

Kölner Stadt-Anzeiger, Wissenschaft, 2. Mai 2022, a.a.O.

Küry und sein Team haben das Retrovirus seit einiger Zeit im Blick. Mit seinem toxischen Hüllprotein ENV kann es Zellen angreifen und so schädigen, dass buchstäblich Nerven blank liegen. Dabei, so Küry, wird die Myelin-Schicht, die normalerweise als Schutzschicht um die Nerven liegt, degeneriert und abgebaut.

In der Medizin ist das Retrovirus aus mehreren Gründen schon lange kein ganz Unbekannter. Endogene Retroviren sind auch bei Multipler Sklerose (MS) aktiv. Lange hielt man die humanen HERV-Kandidaten für weitgehend harmlos. Immerhin acht Prozent des menschlichen Erbguts bestehen nach Schätzungen aus archaischer viraler DNA.

Pathogenes Protein bei MS-Patienten

Wie Forscherteams schon um die Jahrtausendwende entdeckten, ist HERV bei MS aktiv. Die Ärztezeitung informierte Anfang 2014 über diese interessante Forschung und sprach mit Blick auf die Schläfer von einem "Viralen Jurassic Park". Gelingt es den Retroviren, ihr Erbgut in Keimzellen einzuschleusen, werden sie von Generation zu Generation weitervererbt.

Die Degeneration der Schutzschicht von Nervenfasern liefert nun eine Erklärung dafür, dass Long Covid mit Symptomen einhergeht, die auch bei MS vorkommen. Bei Covid-Patienten konnten deutlich größere Mengen des pathogenen Proteins ENV gefunden werden als bei MS-Patienten.

Zu den Symptomen gehören Sensorikausfälle, Kribbeln am ganzen Körper, überbordende Müdigkeit und anhaltende Schwächezustände.

Dies berichten immer wieder Patienten nach einer Sars-CoV-2-Infektion. Und es trifft, wie oben gezeigt, nicht gerade wenige. Das "Erwachen" der schlummernden Retroviren macht mitunter das Leben anhaltend schwer. Wenn auch - gegenüber MS-Erkrankten - über einen begrenzteren Zeitraum.

Impuls für die Forschung

Das Hüllprotein von HERV-W konnte in der Lunge, im Herzen, im Gehirn und in der Nasenschleimhaut nachgewiesen werden. Das sind auch die Organe und Punkte, an denen sich eine Coronainfektion besonders manifestiert. Weitere Spätfolgen und -schäden, so Studienautor Küry, könnten sich bei Corona-Betroffenen erst in fünf, zehn oder noch späteren Jahren zeigen.

Der Nachweis, dass Sars-CoV-2 jenes endogene Retrovirus weckt, das im Verdacht steht, die Degeneration der Myelin-Schicht bei Multipler Sklerose zu verursachen, gibt der Forschung aktuell neue Impulse.

In klinischen Tests untersucht die biopharmazeutische Firma GeNeuro (Sitz in Genf) die Wirkung von spezifischen Antikörpern in der Behandlung von MS-Kranken. Dabei kommt Temelimab zum Zug, ein monoklonaler IgG4-Anti-Human-Retrovirus-Antikörper.

Möglicherweise ein Hoffnungsschimmer auch für diejenigen, die nach einer Corona-Erkrankung mit dem Phänomen der Neurodegeneration zu kämpfen haben.