Luigi Mangione: Was ist ein Leben wert?

Waage mit Ausrufezeichen und Sarg in den Waagschalen

Der Mord am Chef des Versicherungskonzerns United Healthcare löst in den USA eine Welle von Sympathiebekundungen für den Täter aus. Ein Essay auf die Schnelle.

Ein Mensch wird erschossen. Nicht ungewöhnlich in einem Land, wo täglich durchschnittlich 75 Morde zu beklagen sind. Aber diese Opfer sind selten vielfache Millionäre wie Brian Thompson, Chef des größten Krankenversicherers in den USA.

Nach seinem gewaltsamen Tod Anfang Dezember setzte die New Yorker Polizei alle Hebel in Bewegung, um den Täter zu verhaften. Sie bildete eine Fahndungsgruppe, druckte Plakate, lobte eine Belohnung für Hinweise aus und analysierte Tausende Stunden von Kameraaufnahmen. Der Bürgermeister der Metropole berichtete auf Pressekonferenzen über den Fortschritt der Ermittlungen.

Am 9. Dezember wurde Luigi Mangione verhaftet, alle Indizien sprechen für seine Schuld. Als der New Yorker Bürgermeister stolz den Fahndungserfolg präsentierte, fragte ihn ein Journalist nach einem anderen Mordopfer, das am selben Tag wie Thompson getötet wurde. „Wurden in diesem Fall ebenso viel Ressourcen eingesetzt?“ Reichlich lahm antwortet der Bürgermeister, dass jeder Todesfall einen gewaltigen Verlust bedeute.

Der Begriff der Klassenjustiz lässt sich kaum besser veranschaulichen als an diesem Fall. Die Armen interessieren sie als Täter, nicht als Opfer. Bei Reichen ist es umgekehrt.

Ein Volksheld unserer Zeit?

Luigi Magione hatte die Worte „deny“, „defend“ und „depose“ in die Patronenhülsen geritzt, mit denen er Thompson tötete. Diese Ausdrücke stehen für die Geschäftspraktiken der Krankenversicherer, die Anträge auf die Kostenübernahme von Behandlungen nach Möglichkeit verzögern und ablehnen (deny) und auf Widersprüche mit Gerichtsverfahren reagieren (defend). Dabei verlieren die Unternehmen zwar in aller Regel, aber die meisten Versicherten gehen erst gar nicht vor Gericht. Viele Millionen Anträge jährlich werden in den USA abgelehnt.

Entsprechend fielen die Reaktionen in den sozialen Medien aus. Nutzer berichteten, wie das Versicherungsunternehmen die Bezahlung für eine Dialyse verweigerte. Sie erzählten von Chemotherapien, die aus Kostengründen abgebrochen werden mussten, oder dass sie sich überlebenswichtige Medikamente wie Insulin nicht leisten können.

Eine unbezahlbare Rechnung für die medizinische Behandlung ist die zweithäufigste Ursache für Privatinsolvenzen. Große Versicherer haben die Ablehnung von Anträgen automatisiert: Sie lassen ablehnende Bescheide von KI-Programmen formulieren.

All das ist den Amerikanern wohlbekannt. Aber der weitverbreitete Unmut über die kommerzialisierte und Finanzmarkt-getriebene Krankenversicherung bleibt seit Jahrzehnten folgenlos. Weder Demokraten noch Republikaner haben wirksame Reformen im Angebot. So empfanden es viele Amerikaner als Zumutung, dass von ihnen Betroffenheit erwartet wurde, als Mangione den Vorstandschef von United Healthcare erschoss.

Das Wall Street Journal berichtete am 8. Dezember:

Von Online-Foren und Sozialen Medien bis zu den Straßen von Manhattan feiern Menschen den Verdächtigten als Quasi-Volkshelden der einer verachteten Institution einen Schlag versetzt hat – das profitorientierte Gesundheitssystem des Landes. In den meisten Fällen drückten sie die Daumen, dass er entkommen wird, verteidigten die Tat – oder erwähnten sein gutes Aussehen. Aber in anderen Fällen wurden aus den Sympathiebekunden Überlegungen, wie die Polizeifahndung behindert werden könnte. (…)

Aus der Plattform X beispielsweise schlugen verschiedenen Personen vor, die Polizei mit falschen Hinweisen zu überschwemmen oder sich wie der Mörder zu kleiden, um die Fahnder zu verwirren. Auf dem New Yorker Washington Square veranstaltete eine Gruppe am Sonntag einen Ähnlichkeitswettbewerb.

Internetnutzer veröffentlichten Bilder der anderen Vorstandsmitglieder von United Healthcare. Die Hinweisgeberin, die der Polizei die Verhaftung ermöglichte, wurde mit Häme und Spott überzogen. Allerdings war die offene Unterstützung des Attentats die Ausnahme.

Die häufigste Reaktion war der achselzuckende Hinweis, dass das Leben Brian Thompsons ebenso viel oder wenig zählt wie das derjenigen, die er als Chef von United Healthcare auf dem Gewissen habe.

Die Informationen über den Attentäter, die nun Stück für Stück an die Öffentlichkeit kommen, ergeben das Bild eines normalen Lebenswegs, soweit sich das bisher sagen lässt. Luigi Mangione ist ein junger Mann aus einer wohlhabenden Familie, der von einem anhaltenden und schweren Rückenleiden gequält wurde, das seiner Meinung nach das berufliche Fortkommen und ein familiäres Leben unmöglich machte.

Die Notizen, die die Polizei bei ihm fand, ergeben kein „Manifest“, sondern sie stellen nur eine knappe Mitteilung an die Öffentlichkeit und die Ermittler dar. (Die großen Zeitungen in den USA hielten ihren Lesern diese Aufzeichnungen übrigens vor.) Es tue ihm leid, schreibt Mangione darin, aber:

Es musste getan werden. Zur Erinnerung: Die USA haben das teuerste Gesundheitssystem der Welt, aber wir stehen ungefähr auf Platz 42 bei der Lebenserwartung. United ist nach Börsenwert das größte Unternehmen der USA, nur hinter Apple, Google, Walmart. Es ist gewachsen und gewachsen, aber wie unsere Lebenserwartung?

Und geradezu treuherzig fährt er fort:

Natürlich ist das Problem komplexer, aber ich habe keinen Platz, und offen gesagt, ich behaupte nicht, dass ich die geeignetste Person dafür bin, um eine vollständige Begründung zu liefern.

„Unpolitische politische Gewalt“

Anfang des 20. Jahrhunderts wäre der Mord an dem Versicherungsmanager Brian Thompson vielleicht „Propaganda der Tat“ genannt worden. Anarchisten brachten mit Bomben und Pistolen Herrscher, Richter und Polizisten ums Leben, um die herrschende Klasse einzuschüchtern und den bevorstehenden Aufstand der Massen zu beschleunigen. Solche Vorstellungen sind Mangione gänzlich fremd.

Tatsächlich beginnt er seine Aufzeichnungen damit, dass er der Bundespolizei versichert, er habe Respekt für ihre Leistungen, was einem Anarchisten von damals kaum eingefallen wäre. Die minutiöse Analyse seiner zahlreichen Internetaktivitäten zeigt keine eindeutige politische Orientierung. In Jacobin stellt der Journalist Branko Marcetic fest:

Wenn man will, kann man sich die Rosinen aus den digitalen Spuren herauspicken, die Mangione hinterlassen hat, um ihm nach Belieben irgendeine politische Haltung zuzuschreiben. (…) Seine politischen Ansichten sind querbeet, mit anderen Worten die eines ziemlich normalen Amerikaners.

Die Wirkungslosigkeit von zivilem Protest gegen die Versicherungsunternehmen frustrierte ihn offenbar, wie seine Notizen zeigen. Er selbst unternahm aber keine Anstrengungen in dieser Richtung. Ging es ihm in Wirklichkeit um Rache, weil er sich durch seine Erkrankung um ein Leben betrogen fühlte, auf das er ein Recht zu haben glaubte? Handelt es sich überhaupt um eine politische Tat, was immer darunter zu verstehen ist?

Branko Marcetic zieht eine Parallele zu dem Attentäter, der im Juli 2024 Donald Trump erschießen wollte:

Im Amerika des 21. Jahrhunderts wird Gewalt nicht von ideologischen Extremisten ausgeübt, sondern von Personen mit dem politischen Profil von typischen Wechselwählern. (…) Der Mord an Thompson, den Mangione begangen hat, rettet keine Leben. Er macht United Healthcare kein bisschen weniger habgierig oder bringt eine Gesundheitsversorgung für alle in den Vereinigten Staaten näher. Die einzige Wirkung ist der Tod von Thompson.

Das ist die alte Kritik eines Sozialisten am individuellen Terror. Schon Rosa Luxemburg verurteilte die Propaganda der Tat, allerdings nicht wegen moralischer Skrupel. Ganz im Gegenteil, nach einem erfolgreichen Attentat auf den Generalgouverneur Moskaus – den Statthalter des Zaren und Chef der Stadtverwaltung – schrieb sie geradezu jubelnd im Jahr 1906:

Es atmet sich förmlich leichter, die Luft scheint reiner, nachdem eine der abstoßendsten und beleidigendsten Bestien des absolutistischen Regimes ein so schnödes Ende gefunden hat und wie ein toller Hund auf dem Straßenpflaster verendet ist.

Aber gerade dieses Gefühl einer „moralischen Befriedigung“ ist Luxemburg verdächtig. Denn die „wirksame Vergeltungsmethode der Terroristen“ rufe unvermeidlich "vage Hoffnungen und Erwartungen auf den wundertätigen unsichtbaren Arm des terroristischen 'Rächers' wach“.

Die Befriedigung über die Vergeltung halte ab vom politischen Kampf, daher wirke der Terrorismus letztlich demobilisierend, „eher erschlaffend und paralysierend als aufrüttelnd“. So verhält es sich wohl auch mit der Sympathie, die viele Amerikaner gerade Mangione entgegenbringen.

Nicht wenige von ihnen dürften bei der letzten Wahl Donald Trump gewählt haben, dessen „Kabinett der Milliardäre“ nun plant, Medicare zu privatisieren, der Rest einer öffentlichen und allgemeinen Krankenversorgung im Land. Die zunehmend ungleiche und ungerechte Verteilung von Lebensrisiken und Lebenschancen zerrüttet die Gesellschaft, aber es scheint keine begründbare Hoffnung auf Veränderung zu geben, kein Gegenbild und keinen Ausweg.

Der Vergleich zwischen einem anarchistischen Attentäter im feudalistischen Russland Anfang des 20. Jahrhunderts und Luigi Mangione in den USA von heute ist natürlich schräg. Aber er ist schräg, auf interessante Weise. Den Terroristen von einst schien es offensichtlich, wer zu den Unterdrückten oder Unterdrückern zählte, zu den Ausgebeuteten oder Ausbeutern. Dass eine Gesellschaft sich aus Klassen mit unvereinbaren Interessen zusammensetzt, war für sie selbstverständlich.

Solche Vorstellungen waren Luigi Mangione fremd. Ausweislich seiner Notizen dachte er nicht in Kategorien wie Klassen, sondern er lehnte „Parasiten“ wie die Versicherungswirtschaft ab:

Diese (unleserlich) sind einfach zu mächtig geworden und sie machen weiter damit, unser Land für ihre immensen Gewinne zu missbrauchen, weil die amerikanische Öffentlichkeit sie damit durchkommen lässt. (…) Mittlerweile ist das keine Frage von Bewusstsein mehr (awareness), sondern da sind offensichtlich Machtinteressen im Spiel.

Falls er sein Attentat als Fanal begreift – was sollte es seiner Meinung nach auslösen, wenn doch auf parteipolitischem Weg nichts zu erreichen ist? Sollen andere seinem Beispiel folgen und die „Parasiten“ auslöschen, bis United Healthcare keine Angestellten mehr findet?

Immerhin, im Gegensatz zum politisch begründeten Amoklauf, bei dem die Täter wahllos möglichst viele Zivilisten umbringen, verdient eine Gewalttat wie die Mangiones eine differenzierte politische und moralische Beurteilung, auch wenn sie vom Wunsch auf Rache angetrieben worden sein mag.

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Solche Attentate sind keine „sinnlose Gewalt“, wie es oft heißt, auch wenn sie falsch und moralisch verwerflich sein mögen. Täter wie Mangioni wollen das Opfer „zur Rechenschaft“ ziehen und fordern ethische Standards der Verantwortung und Zurechenbarkeit ein. Er verlangte, dass sein ruiniertes Leben mindestens gleich viel gelten soll wie das seines Opfers Thompson, dem er die Schuld dafür gab.

Dieser Fall berührt die wichtige gesellschaftspolitische Frage, wie viel ein Leben wert ist und ob manche mehr zählen als andere. Deshalb berichten die Medien ununterbrochen darüber.

Trotz der Vermessenheit und Ziellosigkeit dieser Gewalttat lässt sich ihr nicht absprechen, dass sie die öffentliche Debatte verändert hat, begünstigt durch die massenhafte und nur mühsam gefilterte Reaktion in den Internet-Plattformen. Hatte Brian Thompson den Tod verdient, obwohl er „nur seinen Job gemacht hat“? Die Meinung der Bevölkerung könnte Sie überraschen.