Machtwechsel in Großbritannien: Erdrutschsieg für Labour bei vorgezogener Neuwahl
Historische Flaute für Konservative: Neuer Premier des Vereinigten Königreichs wird Keir Starmer. Neuwahl endet für Sunak in erwartbarer Katastrophe.
Großbritannien erlebt gerade die größte Niederlage konservativen "Tories" in der Geschichte und der größte Labour-Erfolg nach Tony Blairs Triumph im Jahr 1997. Der größte Sieger der Wahlbacht ist allerdings Nigel Farages neue Partei Reform UK, die den europäischen Rechtsruck auch auf den britischen Inseln dokumentiert.
Konservative Partei am Boden
Im Jahr 1997 sprachen die Tories von einem "Blutbad", damals errang man allerdings immerhin 165 Mandate. Eine Anzahl die heute in weiter Ferne ist. Es werden wohl nur gut hundert konservative Abgeordnete ins britische Unterhaus einziehen.
Zahlreiche Tory-Minister werden im neuen Parlament nicht mehr vertreten sein: Gillian Keegan (Bildung), Penny Mordaunt (Führerin des Unterhauses), Grant Shapps (Verteidigung), Alex Chalk, (Justiz), Lucy Frazer (Kultur) und Michelle Donelan (Wissenschaft).
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Auch der Ex-Minister Jacob Rees-Mogg, einer der striktesten Brexit-Verfechter, verlor seinen Sitz. Mit Mordaunt und Schapps verabschieden sich zugleich zwei Nachfolgekandidaten für den ehemaligen Premier Rishi Sunak.
Sunak selbst bleib die größtmögliche Blamage erspart. Er konnte seinen eigenen Sitz in Richmond trotz 15 Prozent Stimmenverlust halten. Ein solcher Verlust an Spitzenpolitikern ist sicherlich einmalig in der Geschichte der konservativen Partei und wird ihr die Neuaufstellung nach der Wahlschlappe erschweren.
Labour im Glück
Ist für Labour alles eitler Sonnenschein? Nun, es besteht keine Frage, dass der 4.Juli 2024 als ein rauschender Sieg in die Parteigeschichte eingehen wird. Die misserfolgsgeplagte Partei wollte den guten Umfragewerten lange Zeit nicht Glauben schenken, zu tief sitzen die Enttäuschungen der letzten Jahre.
Die Tories hatten sich himmelschreiende Skandale erlaubt, furchterregendes Missmanagement betrieben und das Spitzen-Personal zeitweilig im Monatstakt ausgewechselt. Dennoch hielt sich in der Bevölkerung die Einschätzung, Labour wäre genauso schlimm.
Jetzt hat sich der Erfolg dann endlich manifestiert und da Labour fast hundert Abgeordnete mehr gewonnen hat, als zum Erreichen der Mehrheit von 326 Sitzen nötig ist, wird sich das Regieren einfach gestalten. Innerparteiliche Revolten sind fast ausgeschlossen, da nur eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Abgeordneten den zukünftigen Premierminister Keir Starmer stoppen könnte, indem sie gemeinsam mit der Opposition stimmen würden.
Geringe Wahlbeteiligung
Ungewöhnlich wenige Briten gingen zur Wahl, vermutlich weil für die das Ergebnis längst feststand. Das muss allerdings dem Wahlsieger Labour zu denken geben, denn umso leichter ist ein Umschwung bei den nächsten Wahlen.
Vermutlich war auch die letzte Wahl von einem Einmaleffekt für die Tories geprägt gewesen. Auch damals war die Begeisterung für Boris Johnson überschaubar. Sein Wahlspruch "Get Brexit done" zog allerdings. Nach Jahren des zermürbenden Streits über die schwierigen Modalitäten des Austritts aus der Europäischen Union hatten die Öffentlichkeit mürbe gemacht.
Johnson versprach zu liefern und die Menschen haben ihm deshalb das Vertrauen geschenkt. Johnsons damaliger Gegner bei Labour Jeremy Corbyn hatte sich mit seiner hochkomplexen Haltung ("Wir finden die EU schlecht, halten den Brexit aber für falsch, wollen ihn zwar durchführen, aber irgendwie anders als die Tories") selbst ins Abseits gestellt.
Jeremy Corbyn, der von Starmer aus der Labour-Fraktion geworfen worden war, gewann übrigens sein Mandat als unabhängiger Kandidat gegen die ehemalige, eigene Partei.
Labour-Sieg auch im Norden
Strategisch wichtig für Labour ist, dass in Schottland die SNP (Schottische Nationalpartei) einen herben Verlust einfuhr. Nach einigen Skandalen, die die langjährige Parteiführerin Nicola Sturgeon zum Rücktritt 2023 bewogen hatten, verlor sie 37 ihrer 45 Sitze. Ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum ist damit in weite Ferne gerückt.
Auch inszenierten sich die SNP gerne als die wahren Sozialdemokraten, die neben ihrem offenkundigen Nationalismus sozialer als Labour sein wollten und energisch gegen die Austerität gekämpft haben. Mit der wiederhergestellten Labour Dominanz ins Schottland ist dieser Spuk zunächst vorbei.
Strahlender Gewinner Reform UK
Kaum am Boden bleiben konnte Nigel Farage. Im achten Anlauf gelang es ihm endlich einen Wahlkreis zu gewinnen. Seine neue Partei "Reform UK" ist selbstverständlich so neu nicht, denn sie ging aus UKIP und der Brexit-Partei hervor.
Aufgrund des britischen Wahlrechts sind die für Reform UK mindestens vier Sitze ein beachtlicher Erfolg. Die Partei konnte in vielen Wahlkreisen, den Labour von den Tories erobert hat, den zweiten Platz machen und ihr landesweiter Stimmenanteil hätte ihr bei einem Verhältniswahlrecht vermutlich den zweiten Platz eingebracht, weshalb sich Farage naturgemäß für eine Wahlrechtsreform einsetzen will.
Stramm rechte Opposition
Farage sieht sich als die wahre Opposition zu Labour und sein hart rechter Kurs, der im Vorfeld der Wahl bereits für einige Entgleisungen gesorgt hatte, wird für die Konservativen zu einem großen Problem werden. Reform UK gelobte in der Wahlnacht bereits Besserung: Antimuslimische, antisemitische und transphobe Äußerungen seien nur dem schnellen Wachstum geschuldet gewesen. Diese Stimmen würden jetzt aus der Partei verband werden.
Wahrscheinlich ist dies nicht, aber wenn es Reform UK tatsächlich gelingen sollte ein wenig staatstragender zu werden, dann haben die Konservativen eine dauerhafte Konkurrenz im eigenen Lager.
Wie geht es weiter?
In der Wahlnacht wurden viele Witze darüber gemacht, dass das Wahlkampfgetöse nun endlich enden müsse. Somit wurde kaum über Inhalte geredet. Die einen sind besoffen vor Glück, die anderen am Boden zerstört. Was dies konkret politisch bedeutet, werden die nächsten Monate erst zeigen.
Festzuhalten ist aber heute bereits: 14 Jahre Tory-Regierung gehen zu Ende. Labour hat ein starkes Mandat, mit Reform UK etablieren sich Rechtspopulisten im Unterhaus. Kein Stein steht mehr auf dem anderen.