Macron: "Große Lust, die Ungeimpften zu ärgern"
Corona-Krise: Der französische Präsident gibt Nicht-Geimpften zu verstehen: "piss off" und rechnet mit dem Einverständnis der Mehrheit für diese Strategie?
Was ist los in einem Land, wenn dessen Präsident einem Teil der Bevölkerung zu verstehen gibt, dass er sie ärgern will, dass sie sich in den Wind schießen sollen, dass sie keine Bürger mehr sind? Emmanuel Macron sagte in einem mehrstündigen Interview, dass er "große Lust habe, die Ungeimpften zu ärgern". Diese würden "einen riesigen moralischen Fehler" begehen.
"Sie untergraben, was die Stärke einer Nation ausmacht. Wenn meine Freiheit die Freiheit anderer bedroht, werde ich unverantwortlich. Ein Unverantwortlicher ist kein Bürger mehr.
Emmanuel Macron
Die Schlüsselworte dieser Aussagen lauten auf Französisch "emmerder" und "citoyen". Im ersten steckt das Wort "merde", zu Deutsch: "Scheiße". Man muss also nicht eigens betonen, dass die Wortwahl ein gewisses Parfum hat. Die Übersetzung der Macron Äußerung "Les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder" ins Deutsche fällt da meist sauberer aus, der Begriff wird, gelüftet und bereinigt, mit "nerven" oder "ärgern" übersetzt: "Ich habe große Lust, die Ungeimpften zu ärgern", bietet zum Beispiel DeepL als Übersetzung an. Auch das Wörterbuch Leo bleibt zurückhaltend.
So kommt die Übersetzung, die die Financial Times für das Englische gefunden hat, der Sache wohl am nächsten: Macrons Strategie gegenüber den Ungeimpften heiße: "piss off", berichtet die britische Finanzzeitung aus Paris, wo es eine große Aufregung über Macrons Aussagen gibt.
Impfpass: 2G statt 3G
Im Plenarsaal der Nationalversammlung kam es gestern Abend zu einem "regelrechten Sturm der Entrüstung" (Le Monde) infolge der Äußerungen Macrons. Eigentlich sollte ein Gesetz verabschiedet werden, das den Gesundheitspass (pass sanitaire) zum Impfpass macht.
Das bedeutet, um es kurz auf deutsche Verhältnisse zu übertragen, in der Alltagspraxis: 2G statt 3G. Zutritt zu Cafés, Restaurants, Bars, Theater, Kino und Veranstaltungen bekommt künftig nur, wer den Impfpass vorweisen kann. Der Nachweis eines negativen Tests liefert keine Eintrittserlaubnis mehr.
Die Abstimmung über das Gesetz wurde vertagt. Heute sind die Medien voll mit Berichten und Kommentaren über Macrons Äußerungen, die er gegenüber der Zeitung Le Parisien gemacht hat. Im Interview (hinter einer Zahlschranke) erklärt Macron unmissverständlich, dass es seine Strategie sei, die Ungeimpften bis zum Ende zu "emmerdieren".
Auf Spaltung setzen
Man kann voraussetzen, dass jedes Wort bewusst gewählt wurde und jedes Wort geprüft wurde, bevor der Interview-Text freigegeben wurde. Die Entrüstung ist einkalkuliert, im April gibt es Präsidentschaftswahlen und Macron setzt auf Spaltung.
Bei einer Quote von knapp 77 Prozent Doppeltgeimpften, was aufgerundet 52 Millionen entspricht (Angaben vom 3. Januar) baut er auf eine Mehrheit, wird kommentiert, die ebenfalls von den Ungeimpften genervt ist, zumal die Infektionszahlen in Omikron-Zeiten in die Höhe schießen. Gestern wurden von der Gesundheitsbehörde Santé publique France 272.000 Fälle binnen 24 Stunden gemeldet.
Möglicherweise geht die politische Rechnung aber nicht so einfach auf. Denn da gibt es noch den oben erwähnten zweiten Schlüsselbegriff "citoyen", die besondere Stellung des Präsidenten, der überparteilich sein soll, und die spezielle Rolle der Einheit in der französischen politischen Kultur. Abzulesen ist dies etwa am vielfachen Gebrauch des Begriffs "rassemblement", der seit de Gaulles Zeiten immer wieder aufgegriffen wird, um die Versammlung aller Französinnen und Franzosen zu beschwören. Der Präsident hat dafür eine besondere Verantwortung, er wird daran gemessen, ob er diese Einheit herstellen kann.
Und es erscheint nicht unplausibel, dass in Frankreich, wie dies in Deutschland auch der Fall ist, nicht alle Geimpften von den Ungeimpften "angepisst" sind, sondern sich solchen politisch militarisierten Frontbildungen verweigern.
"Citoyen" hat seit der französischen Revolution eine wichtige historische Bedeutung für den Status eines Bürgers im Sinne der Gleichheit und Solidarität ("Brüderlichkeit") unter seinesgleichen. Die Besonderheit des Begriffs ist leicht an seinem Gegenpart zu spüren: "Bourgeois". Entsprechend gibt es auch von Seiten, die für Solidarität auch in Hinsicht auf die Covid-Impfung eintreten, scharfe Kritik an Macrons Strategie. So etwa in der linksliberalen Publikation Mediapart:
Brutalität und Bestrafung sind die einzigen Argumente, die Emmanuel Macron für die Bewältigung dieser Gesundheitskrise gefunden hat. Sie signalisieren das Scheitern einer Macht, die ständig laviert und sich mit sich selbst brüstet. Eine Macht, die für "Transparenz" und "Abstimmung" plädiert, während sie ihre Entscheidungen hinter den verschlossenen Türen des Verteidigungsrates trifft und sie in letzter Minute bekannt gibt, um ihre Überraschungseffekte zu schonen - ja, so weit sind wir immer noch.
Mediapart (Übersetzung, Deep L)
Für die breite Opposition auf der rechten Seite – von Valérie Pécresse, der Präsidentschaftskandidatin der Republikaner, über Marine Le Pen bis Eric Zemmour – sind Macrons Äußerungen leichte Beute, die sie für sich kapitalisieren.