Magie und Revolution
Wie politisch kann Science Fantasy sein?
China Miéville hat mit "Perdido Street Station" und "The Scar" bereits Beweise dafür vorgelegt, dass Science Fiction und Fantasy auf hohem erzählerischem Niveau miteinander kombiniert werden können (vgl. Zauberer zwischen den Welten). In seinem neuesten Buch "Iron Council" geht er nun einen Schritt weiter und betreibt Revolutionstheorie im Gewand der Phantastik.
"Le Surréalisme au Service de la Revolution" hieß eine Zeitschrift der historischen Surrealisten um André Breton aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Darin wurde der politische Anspruch einer Bewegung von Künstlern formuliert, die sich selbst als Ausdruck und als Katalysator gesellschaftlicher Revolutionen sahen, als Vermittler zwischen der Revolution der Psyche nach Freud und der kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft nach der Oktoberrevolution von 1918.
Diese Emphase des Aufbruchs, in abgeschwächter Form Ende der Sechziger noch einmal aufgeflammt, hat sich weitgehend aus der Kunst zurückgezogen, der Trend zur Entpolitisierung scheint unumkehrbar, und wo sich Kunst als politisch versteht, befindet sie sich nicht einmal dem eigenen Verständnis nach im Angriff.
Seltsamerweise geht aber das neue Buch des Science-Fantasy-Autoren China Miéville in sehr ähnlicher Weise in den Angriff, wie die Surrealisten das mit ihren Manifesten auch taten. Methode und Kontext sind sicher unterschiedlich, aber der Gestus ist der gleiche.
Insektoide und Kakteenmenschen
Die Welt, in der Miéville sein Drama ansiedelt, kennt man aus "Perdido Street Station". Wieder einmal steht New Crobuzon im Mittelpunkt, der Stadtmoloch mit seinem aus verschiedenen Spezies und Kulturen zusammengesetzten Gesellschaft. Wir treffen die insektoiden Khepri wieder, die im Wasser lebenden Vodyanoi, die stachelbewehrten Kakteenmenschen, und die "normalen" Menschen, nebst den Remade, Arbeitssklaven menschlichen Ursprungs, die zur Strafe grotesken biotechnischen Veränderungen unterworfen wurden und den Bodensatz der Gesellschaft in New Crobuzon bilden. Die fliegenden, nur halbintelligenten Wyrmen sowie die Gierfalter tauchen ganz am Rande auch auf, und verschiedene magische Kreaturen wie die Ghuls, die Weaver, Handlinger und anderes phantastisches Getier sind ebenfalls wieder mit dabei. Allerdings gibt es kaum noch Konstrukte, die dampfbetriebenen, zur künstlichen Intelligenz fähigen Roboter aus "Perdido Street Station".
Die Handlung setzt zwanzig Jahre nach dem sogenannten Konstruktkrieg ein, in dessen Verlauf die Stadtregierung die rebellischen Automaten besiegt und zum größeren Teil vernichtet oder unter strengste Aufsicht gestellt hat. Mittlerweile ist der Betrieb eines Konstruktes so teuer geworden, dass sich nur die reichsten Bürger New Crobuzons eines leisten können. Die Arbeitskraft der Konstrukte ist durch Golems ersetzt worden, Kunstmenschen, die von spezialisierten Magiern geschaffen und gegen Entlohnung an Kunden weitervermietet werden.
Ein noch wichtigerer Unterschied zu dem New Crobuzon aus "Perdido Street Station" besteht darin, dass der zentrale Konflikt diesmal nicht magischer, sondern sozialer Natur ist. Durch den endlosen Krieg mit dem Nachbarstadtstaat Tesh und ein fehlgeschlagenes spekulatives Eisenbahnprojekt, das New Crobuzon zum Herren über das gesame Umland machen sollte, sind die ökonomischen und sozialen Spannungen in der Stadt so groß geworden, dass sie am Rand eines Bürgerkriegs steht.
Revolutionäre Demokratie auf Rädern
Nur mit Hilfe der brutalen städtischen Miliz hat die soziale Unruhe, die sich in Streiks, rassistischen Ausschreitungen, und immer wieder kurz aufflackernden Aufständen äußert, bisher unterdrückt werden können. Das Eisenbahnprojekt aber ist nicht nur deswegen gescheitert, weil es die Stadt ökonomisch ausgezehrt hat, sondern weil die Eisenbahnarbeiter, hauptsächlich bestehend aus einer Arbeiteraristokratie von "normalen" Menschen und Remade-Zwangsarbeitern, gemeutert haben. Sie haben den gigantischen Zug übernommen, vor dem die Eisenbahn hergebaut wurde, sie haben ihn in den "Iron Council" verwandelt, eine revolutionäre Demokratie auf Rädern, die sich ständig in Bewegung befindet, weil sie auf Schienen dahinfährt, die an ihrem Ende immer wieder abgebaut und vor der Hauptlokomotive, am Kopf des Zuges, immer wieder neu gelegt werden.
Dieser ewige Zug, eine Art Magical Mystery Tour mit utopisch-kommunistischem Gesellschaftssystem ohne Geld und Staat, hat sich der Verfolgung durch die Regierung von New Crobuzon bisher entziehen können, aber die ehemaligen Eigentümer haben die Revolte nie vergessen, und wollen immer noch ein Exempel an ihr statuieren. Was leichter wäre, wenn die Situation in der Stadt nicht immer unkontrollierbarer würde. Eine ganze Palette von Widerstandsbewegungen mit unterschiedlichen Programmen und Strategien machen der Miliz zu schaffen. Selbstverständlich ist für die Aufständischen die Erinnerung an die Rebellion des "Iron Council" eine ständige Ermutigung. Miéville treibt die Handlung durch ein kompliziertes Wechselspiel zwischen den Geschehnissen in der Stadt und in dem Zug der Revolution voran. Ebenso komplex ist das Beziehungsgeflecht zwischen den Protagonisten und den zahlreichen Nebenfiguren.
Kräftige Dosis Realismus
Ohne noch mehr von der Handlung zu verraten, kann man behaupten, dass Miéville wie in seinen vorhergegangenen Romanen Spannungsbögen von großer Effizienz schafft und seinen Plot mit Bestimmtheit durchexerziert. Dass sich "Iron Council" dennoch nicht so flüssig liest wie die beiden Vorgänger, liegt an der politischen Aufgabe, die Miéville seinem Roman zugemutet hat. Er diskutiert die Fragen der revolutionären Gewalt, der Avantgarde, der Massenagitation, des Rassismus, des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität mit einem Nachdruck, der in der phantastischen Literatur selten ist.
Auch die Romane Ken MacLeods (vgl. Der Countdown läuft, Genossen), der "Kultur"-Sozialismus von Iain Banks, und der sehr verfeinerte utopische Sezessionismus eines Kim Stanley Robinson können da nicht mithalten. Miéville bringt sie alle: den Stadtguerillero Ori, den revolutionären Propheten Judah Low mit seinen Anhängern, die Feministin Ann Hari, die mit ihrer Arbeitsverweigerung als Prostituierte die "Iron Council"-Revolte seinerzeit mitausgelöst hat, es gibt Gewerkschaften und Gewerkschaftsführer, es gibt Untergrundmagazine wie den "Runagate Rampart" (auch schon aus "Perdido Street Station" bekannt), es gibt die revolutionären Künstler, "Nuevists" genannt, und einen sogenannten "Caucus", der als eine Art Plenum der verschiedenen Fraktionen dient.
Allein schon, dass Miéville all diese Strömungen in einer konsistenten Handlung untergebracht hat, ohne aus seinem Buch ein Lehrstück über soziale Kämpfe oder eine langweilige Chronik der Ideologien zu machen, ist eine große Leistung. Er erliegt nicht der Versuchung, seine Charaktere in Typen zu verwandeln, er impft sie immer mit einer kräftigen Dosis Realismus, die aus den "Tendenzträgern" wieder Individuen macht.
Miéville weiß eine Menge über Macht und Gewalt, und er weiß auch viel zu viel über die chaotische Natur und die Widersprüchlichkeit der Realität, um der Propaganda und den Überzeugungen, die er seinen Figuren in den Mund legt, selbst zu glauben. Aber er ist auch viel zu sehr von der Notwendigkeit eines radikalen sozialen Wandels überzeugt, um über seinem Skeptizismus zum Zyniker zu werden. Für einen phantastischen Schriftsteller geht er in "Iron Council" ein unerhörtes Risiko ein: Wo er mit Hilfe seiner enormen Phantasie und seines epischen Stils mühelos eine der typischen phantastischen Endlossagas von Band zu Band quälen könnte, bezahlt er den Preis dafür, ein politischer Kopf zu sein, und eine Literatur politisch aufzuladen, die sich von Haus aus eher an Leser mit reinen Unterhaltungsbedürfnissen richtet. Wenn man so will ist das, was er macht, Surrealismus im Dienst der Revolution, aber nicht als bloßes Manifest, sondern in Form eines gelingenden phantastischen Romans. Dafür verdient er großen Respekt.