Marode Brücken: Notstand mit Ansage

Die Rheinbrücke Leverkusen ein Jahr vor ihrer Sperrung für schwere Fahrzeuge 2012. Der Neubau soll 2025 abgeschlossen sein. Foto: A.Savin / CC-BY-SA-3.0,2.5,2.0,1.0

Studie schlägt Alarm: 873 Brücken allein in NRW "besonders sanierungsdürftig". Risse im Beton – Sperrungen und Verkehrschaos in Sicht. Nun gibt es Handlungsempfehlungen.

Nordrhein-Westfalen, mit mehr als 18 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands, mit einem überdurchschnittlichen Verkehrsaufkommen, hat ein Riesenproblem mit maroden Brückenbauwerken. Die Erkenntnis an sich ist nicht überraschend, nur brennt es inzwischen auf den Nägeln: Brücken sind so etwas wie der Knackpunkt der in die Jahre gekommenen Infrastruktur.

Dadurch, so die warnende Botschaft einer aktuellen Studie, drohen dem Land zunehmend Verkehrschaos und ernste Folgen für die Industrie. Rheinlandweit wurden für die Expertise der rheinischen Industrie- und Handelskammern in Kooperation mit Ingenieuren der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen Brücken unter die Lupe genommen – alle in der Zuständigkeit von Bund oder Land (NRW).

1.000 Brücken in "bedenklichem Zustand"

Einige Zahlen: Gut 17 Prozent des Autobahnnetzes Deutschland finden sich in Nordrhein-Westfalen. Die durchschnittliche tägliche Verkehrsbelastung liegt hier 22 Prozent über dem Bundesdurchschnitt: In NRW werden 20 Prozent der gesamten Fahrleistung Deutschlands erbracht. Die Zahlen beruhen auf der amtlichen Statistik, Stand 2018.

Mehr als 6.000 Brückenbauwerke zählt das rheinische Bundesland, davon entfallen auf Bundesstraßen 2.583 Brücken (97,5 Kilometer), auf Landstraßen 3.839 (79,2 Kilometer), auf Kreisstraßen 268 (4,5 Kilometer). Allein 873 Brücken in NRW gelten laut Bundesverkehrsministerium, Stand Januar 2023, als "besonders sanierungsbedürftig". Die rheinischen IHK‘s attestieren zudem 1.000 Brücken einen "bedenklichen Zustand".

Schon 2015 hieß es, fast alle Brücken in NRW müssten bis 2024 saniert werden. Das ist nun bereits nächstes Jahr. Gerade einmal 64 wurden im vergangenen Jahr saniert, das heißt verstärkt, instandgehalten oder neu gebaut, berichtet der WDR. Es wartet also eine Mammutaufgabe. Seit dem 1. Januar 2021 liegt die Zuständigkeit für die Autobahnen in NRW bei der Autobahn GmbH des Bundes. Der Landesbetrieb "Straßen.NRW" bleibt zuständig für die Bundes- und Landesstraßen sowie Radwege.

2012: Hiobsbotschaft aus Leverkusen

Die Hiobsbotschaften kommen nicht von ungefähr. Seit Jahren drückt sich die Politik um die unbequeme Wahrheit. Ein Großteil der Brückenbauwerke stammt aus den 1960er und -70er Jahren. Damals gab es weit weniger Verkehr als heute, auch die damaligen Prognosen lagen falsch: Nicht nur das Verkehrsaufkommen entwickelte sich dramatisch, sondern auch die statische Beanspruchung (zulässige Achslasten, Gesamtgewichte) erreichte neue Dimensionen. Auch bekannt: Das frühere Baumaterial war nicht gerade das beste.

In Kombination mit den heutigen wesentlich höheren Verkehrslasten und -mengen ergeben sich Defizite, die bei vielen Bauwerken auch mit den seinerzeitig eingerechneten Sicherheiten nicht mehr vollständig zu kompensieren sind.


Petra Beckefeld

Das leidige und kostenträchtige Thema wurde in der Öffentlichkeit lange Zeit kaum wahrgenommen. Bis zum Jahr 2012, als eine Nachricht die Region aufschreckte und schließlich sogar die ganze Republik aufhorchen ließ: Die Leverkusener Rheinbrücke der A1, eine der rheinischen Verkehrsachsen schlechthin und ein Nadelöhr für die gesamte Region, musste für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen gesperrt werden.

Risse im Beton machten die Sperrung unausweichlich für den Schwerlastverkehr; Zigtausende Lkw durften sich auf weiträumige Ausweichmanöver einstellen. Konzipiert war die Leverkusener Rheinbrücke ursprünglich für eine vierspurige Nutzung – zuletzt wurde sie mit einem Tempolimit von 100 km/h auf sechs Fahrstreifen befahren. Doch 2012 war auch damit erst einmal Schluss, die Geschwindigkeit auf der Brücke wurde auf 60 Stundenkilometer beschränkt.

"Teufelskreis bei Großprojekten"

Die Leverkusener Rheinbrücke war anfangs für 40.000 Fahrzeuge pro Tag ausgelegt. Die Zunahme des Verkehrs und der Ausbau des Kölner Autobahnrings hatten schließlich 120.000 Fahrzeuge täglich auf die Brücke gebracht, darunter 14.000 Lkw. Der Ersatzneubau besteht aus zwei einzelnen, parallelen Brückenüberbauten, ein Ausbau auf acht Fahrstreifen ist vorgesehen.

Seit 2012 attestierten Experten der Leverkusener Brücke einen "kritischen Bauwerkzustand". Ex-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) befand damals über den Zustand: "Hier kann man nichts mehr reparieren." Groschek heute:

Es gab damals Gutachten, die schon zehn Jahre alt waren und das Drama von Leverkusen mehr oder weniger ausführlich vorhergesehen haben. Die sind aber sehr schnell wieder in der Schublade verschwunden.


NRW-Ex-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD)

Das Brückendrama setzt sich fort und "kratzt an der Milliardengrenze", wie es im Kölner Stadt-Anzeiger heißt. Das Land kündigte nach Qualitätsmängeln mit dem Generalunternehmer den Vertrag, der Bau wurde unterbrochen, weitere zwei Jahre Verzögerung. Eine Giftmülldeponie erwies sich als Risikofaktor bei den Ausbauplänen, Ausweichrouten (die Fleher Brücke, die Mülheimer Rheinbrücke in Köln) sind teils selbst akute Sanierungsfälle. Der ADAC spricht von einem "Teufelskreis bei Großprojekten"

Das Rahmede-Desaster

Bundesweit Schlagzeilen machte auch die Talbrücke Rahmede, eine 453 Meter lange Brücke der vielbefahrenen Bundesautobahn 45 ("Sauerlandlinie"). Diese Brücke liegt zwischen den Autobahnanschlüssen Lüdenscheid-Nord und Lüdenscheid. Die A45-Talbrücke wurde am 2. Dezember 2021 gesperrt, nachdem bei einem Laserscan Verformungen im Überbau und letztlich gravierende Schäden am Tragwerk festgestellt worden waren.

Mit kolossalen Folgen: Der gesamte Fernverkehr musste weiträumig über A4, A3, A1 und A44 umgeleitet werden. Für Pendler, Fernfahrer, Lkw-Verkehr, Transportunternehmer, Händler, Gewerbetreibende und Industriebetriebe der Region eine Katastrophe. Die Umleitungen führten überdies zu extremen Belastungen entlang einiger Umleitungsstrecken, das ging bis hinein in Bereiche von Wohngebieten, Schulen und Kitas und brachte genervte Anwohner auf die Barrikaden.

Die Rahmede-Brücke, Baujahr 1965 bis 1968, Höhe bis zu 70 Metern, wurde am 7. Mai 2023 gesprengt – der Neubau wird noch Jahre beanspruchen. Die Folgen lassen sich kostenmäßig überhaupt nicht beziffern.

Tempo, Verschlankung, neue Bauweisen!

Das Papier der rheinischen IHK‘s legt nunmehr den Finger erneut auf die Wunde und identifiziert Hemmnisse, die, wie es heißt, einem zügigen Ausbau im Weg stehen. Zu den Hindernissen gehörten eine mangelnde Digitalisierung der Daten, zu lange Planungsprozesse und ein fehlendes effektives Monitoring der beschädigten Brücken. Die Bestandsaufnahme ("Risikofaktor Brücken") wurde am 17. Mai von Vertretern der IHK-Initiative Rheinland auf einer Landespressekonferenz vorgestellt.

Hauptgeschäftsführer Uwe Vetterlein befürchtet für die Zukunft ein noch größeres Desaster:

Mit diesem Wissen schlittern wir sehenden Auges in das nächste großflächige Verkehrschaos – im schlimmsten Fall mit Komplettsperrungen und Abriss der Bauwerke. Es muss sofort gehandelt werden – auf allen politischen Ebenen!


IHK-Hauptgeschäftsführer Uwe Vetterlein

Die Forderungen der Studienautoren mögen allesamt nicht nagelneu sein, könnten aber helfen, die Dringlichkeit in die Politik zu transportieren: Mehr Geschwindigkeit bei Planung und Bau, Verschlankungen und Standardisierung von gesetzlichen Auflagen, entschlossener Kampf gegen Personalengpässe.

Gemeinsam mit der RWTH Aachen gibt es auch Handlungsempfehlungen, etwa zur Planungsbeschleunigung, zu den Themen Verkehrsmanagement und Infrastruktur – unter anderem zur Erhöhung der Haltbarkeit oder, speziell was Brücken angeht, zum Einsatz von modularen Bauweisen, wie sie in China vorgemacht werden. Thema auch: Intelligente Umleitungskonzepte. Hier hegen letztendlich die in Mitleidenschaft gezogenen Anwohner verzweifelte Hoffnungen.

Noch einmal auf den Punkt: Allein rund um Köln werden akut 115 Brücken mit dem schlechtesten Traglastindex 5 bewertet. Laut IHK Köln heißt das, dass die momentane Traglast bereits dem heutigen Verkehr nicht mehr gerecht wird. Kritisch bewertet werden aber nicht nur die Brücken selbst, sondern auch manche der Zubringer samt Auf- und Abfahrten müssten dringend saniert werden.

Von Verkehrskonzepten der Zukunft und der damit verbundenen Sisyphusaufgabe ist hier noch nicht einmal die Rede.