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Marx, dieser Linksextremist!

Hat da jemand "Marx" gesagt? Bild: duncan c, CC BY-NC 2.0

Auch im Bundestag feierte man unlängst den Welttag der Pressefreiheit. Zugleich warnte das Innenministerium vor extremistischen Abgründen im öffentlichen Diskurs

Als sich der Deutsche Bundestag am 7. Mai im Zusammenhang mit dem Internationalen Tag der Pressefreiheit vier Tage zuvor mit der Lage Medienschaffender beschäftigte, kam auch die Beobachtung der linken Tageszeitung junge Welt durch den Verfassungsschutz zu Sprache. Die Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linken bietet aufschlussreiche Einblicke: Darin wird die Überwachungspraxis, zu der die Linksfraktion eine Kleine Anfrage [1] gestellt hatte, verteidigt.

Die Stellungnahme, die in der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde – im Blick auf Pressefreiheit machen "uns" ja andere Länder Sorgen, nicht das eigene –, bringt für alle, die publizistisch tätig sind und frei informiert werden wollen, interessante Klarstellungen. Das betrifft vor allem zwei Dinge.

Wo der Extremismus beginnt

Erstens wird mit dieser Beobachtung, die seit mehreren Jahren erfolgt und wegen der Bekanntmachung in den jährlich vorgelegten Verfassungsschutzberichten für die Zeitung negative wirtschaftliche Folgen hat, der Aufgabenbereich des Inlandsgeheimdienstes in bemerkenswerter Weise ausgedehnt.

Laut Verfassungsschutzgesetzgebung sollen Organisationen beobachtet werden, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen. Das teils jahrelange Zögern der Behörden, Bewegungen wie etwa Pegida in diesem Sinne als Beobachtungsobjekt einzustufen, sind bekannt.

Bei der jungen Welt handelt es sich nun offenkundig nicht um eine Organisation. Das Innenministerium nimmt dies auch zur Kenntnis, wertet aber andererseits die Tatsache, dass sich die Redaktion auf die Marx'sche Theorie beruft und dementsprechend vor allem Autoren aus dem linken Spektrum zu Wort kommen lässt, als "Aktionsorientierung", die die Gleichsetzung mit einer Organisation erlauben soll.

Somit werden Redakteure, Autoren, Leser und Abonnenten gewissermaßen als ein einheitliches, zumindest vernetztes, tendenziell verfassungsfeindlich agierendes Kollektiv in Haftung genommen, obwohl von einem Organisierungs- oder Vereinheitlichungsprozess keine Rede sein kann und obwohl die Beiträge und Leserbriefe im Blatt eindeutig ein Spektrum unterschiedlicher bis gegensätzlicher Positionen erkennen lassen. Jedenfalls muss man festhalten, dass bereits der Diskussionsprozess, der an den Marxismus anknüpft, vom Verdikt des Extremismus getroffen werden soll.

Zweitens wird die Verfassungsfeindlichkeit inhaltlich begründet, und zwar mit der Bezugnahme dieses Diskussionsprozesses auf die marxistische Theorietradition. Marxisten hätten die Absicht, so das BMI, "nicht nur zu informieren, sondern eine ‚Denkweise‘ herauszubilden, um bei den Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete identifizieren, Verständnis und die Bereitschaft zum Widerstand hervorzurufen".

Die Verfassungsfeindlichkeit des Marxismus wird dabei paradigmatisch - und angesichts der allseits konstatierten Erfahrungen sozialer Ungleichheit wohl auch nicht ganz zufällig - am Begriff der Klassengesellschaft festgemacht. Laut Innenministerium "widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln."

Also ist über die Diskussion hinaus bereits die theoretische Grundlage ein Fall für den Verfassungsschutz.

Redaktionelle Verantwortung neu gefordert

Ich jedenfalls sehe mich durch diese offiziellen Auskünfte direkt in die Verantwortung genommen und habe mich in diesem Sinne an verschiedene Redaktionen gewandt, zum Beispiel im Bereich der (außerschulischen) politischen Bildung, für die ich mitunter Texte verfasse. Zuletzt war das die Rezension des Buches Ungleichheit in der Klassengesellschaft (Köln 2020) des Politologen und Armutsforschers Christoph Butterwegge für die Zeitschrift Außerschulische Bildung (Nr. 1/21).

Ich habe die Redaktion jetzt darauf hingewiesen, dass ich gelegentlich in der jungen Welt veröffentliche, zuletzt einen Essay [2] über Heideggers Sein zu Faschismus und dass Professor Butterwegge ebenfalls in dem Blatt veröffentlicht, nämlich zuletzt im September 2020 eine Kurzfassung seiner Studie zur sozialen Ungleichheit [3].

Nach den Klarstellungen des Innenministeriums müssen Redaktionen jetzt in doppelter Weise auf der Hut sein. Formal wären Butterwegge und sein Rezensent als Autoren ein Fall der vom Verfassungsschutz inkriminierten Strategie des Blattes, auf die Öffentlichkeit einzuwirken; sie vertreten dort "eine bestimmte inhaltliche Linie", die die "Meinungsbildung der Bevölkerung" beeinflussen will, so dies die vom BMI benannten linksextremistischen Merkmale. Sie tragen dies sogar in andere Medien.

Inhaltlich würde das ebenfalls zutreffen, denn Butterwegges letzte Publikation bezieht sich explizit auf die Diagnose der Klassengesellschaft, der aktuelle Relevanz zugesprochen wird. Der Autor greift auf die Theorie von Karl Marx zurück und kritisiert auf dieser Basis unter anderem die moderne Armutsforschung, die die unterschiedliche Stellung der Menschen im marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnis und damit den Gegensatz von Kapital und Arbeit ignoriere.

Als Rezensent habe ich dies zustimmend aufgenommen und festgehalten, dass sich der Befund vom grundlegenden Klassencharakter der bundesdeutschen Gesellschaft in der gegenwärtigen pandemischen Krisenlage wie unter einem Brennglas zeige.

Laut der neuesten Aufgabenbestimmung des Verfassungsschutzes, wie sie in der Bundestagsdebatte zur Sprache kam und aus dem Regierungslager verteidigt wurde, wären demnach der Autor Butterwegge wie auch der Rezensent Schillo und die verantwortlichen Redakteure der betreffenden Fachzeitschriften den verfassungsfeindlichen Bestrebungen, wie sie von der Tageszeitung jung Welt ausgehen sollen, tendenziell zuzuordnen.

Angesichts der neu definierten Extremismuslage müssten sie sich jedenfalls, um diesen Verdacht auszuräumen, von solchen Bestrebungen distanzieren.

Meinungsbildung unter antiextremistischer Kontrolle

Es geht also um einen Vorgang, den die schreibende Zunft, aber auch alle, die mit Bildungsarbeit in Schule oder außerschulischem Bereich zu tun haben, aufmerksam registrieren sollten. Hier wird eine Linie fortgesetzt, die der Verfassungsschutz bereits vor Jahren eingeschlagen hat, als hier und da eine Marx-Renaissance ausgerufen wurde.

Der Marxismus wurde, so der Extremismusforscher Armin Pfahl-Traughber, als verfassungsfeindliches Programm identifiziert, und zwar im Blick auf den Modus der Rezeption. 1 [4]

Wer also Marxens Ausführungen für richtig hält, ist ein Extremist und wird damit tendenziell aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt; wer sich aus einer Distanz heraus auf die Theorie bezieht und sie weiterentwickelt, revidiert, kritisiert etc., darf das ungehindert tun. Wobei diese Vorschrift noch ohne die Beanstandung der theoretischen Leistung von Marx auskam: Die Freiheit, sich bei der Kritik der politischen Ökonomie wie in einem Steinbruch zu bedienen, wurde gewährt. Die Auswahl der Theoriebausteine wird nun begrenzt, der Klassenbegriff kann demnach nicht mehr ohne Weiteres verwendet werden.

Speziell betrifft dieser Vorgang die politische Bildung. Seit Längerem versteht sich ja der Verfassungsschutz als eigenständiger Bildungsakteur, was in der Praxis zu weit ausgreifenden Maßnahmen führt. Ob Rechts- oder Linksextremismus, ob Islamismus und Salafismus oder Gewaltbereitschaft bei Fußballfans, ob Hatespeech oder Desinformation im Internet, ja sogar bei förderungsrechtlichen Fragen oder geschichtspolitischen Veranstaltungen – überall fühlt sich der Dienst zuständig, wie zuletzt noch einmal eine Gemeinschaftspublikation von VVN-BdA und Humanistischer Union deutlich gemacht hat.2 [5] Und in der Extremismusfrage beansprucht er sowieso die politisch-theoretische Deutungshoheit.

Das jüngste Beispiel für einen solchen expansiven Kurs war die Konstruktion eines neuen extremistischen Tatbestands - "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" [6] - zur Überwachung der "Querdenker-"Szene. Wenn dieses Konstrukt Bestand hat, müssen also jetzt Redaktionen, die über kritische Wortmeldungen oder Publikationen informieren, in ihrem Rezensionsteil etwa vor der genannten Publikation von Kerth/Kutscha warnen. Denn sie bezweifelt die offizielle staatliche Darstellung, dass der Verfassungsschutz die Verfassung schützt.

Professor Hajo Funke, der als Wissenschaftler die diversen NSU-Untersuchungsausschüsse begleitete, hat in einem Telepolis-Interview [7] ebenfalls auf diesen Punkt aufmerksam gemacht und sich als "Delegitimierer" bekannt: Er bezweifelt nämlich, dass die Untersuchungsausschüsse zu den letzten Staatsschutzskandalen wirklich das Ziel der rückhaltlosen Aufklärung verfolgten.

Man sieht, die Zulassungsbedingungen zum öffentlichen Diskurs werden neu geregelt - und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Bundesregierung nachdrücklich die Unterdrückung der Pressefreiheit in Ländern wie China oder Russland anprangert. Was bleibt, ist die Frage, was man zur Aufklärung gesellschaftlicher Sachverhalte heute noch sagen darf, ohne ins extremistische Fahrwasser und damit ins Visier des hochgerüsteten deutschen Sicherheitsapparates zu gelangen.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/289/1928956.pdf
[2] https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/395567.bürgerliche-philosophie-sein-zum-faschismus.html?sstr=schillo
[3] https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/386030.coronapandemie-pandemischer-kapitalismus.html?sstr=butterwegge
[4] https://www.heise.de/tp/features/Marx-dieser-Linksextremist-6045658.html?view=fussnoten#f_1
[5] https://www.heise.de/tp/features/Marx-dieser-Linksextremist-6045658.html?view=fussnoten#f_2
[6] https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Dann-bin-ich-auch-ein-Delegitimierer-6033873.html