Massaker an Schule in Erfurt 2002: "Ja, dann ist Schluss!"

Götz Eisenberg

Vor zwanzig Jahren erschoss ein 19-Jähriger am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen. Inwieweit können oder müssen wir uns in der Tat wiederfinden?

Ich war zwanzig. Niemand soll sagen, das sei die schönste Zeit des Lebens.
Paul Nizan

Als Robert S. sich am Morgen des 26. April 2002 anschickt, das Haus zu verlassen, drückt ihn der Vater an der Tür an seine Brust und sagt: "Jetzt geht’s um die Wurst!" Die Mutter wundert sich, dass Robert eine uralte Hose mit großen Seitentaschen trägt. Kann man in einer schäbigen Cargo-Hose zur letzten schriftlichen Abiturprüfung erscheinen? "Lass den Jungen in Ruhe", denkt sie und sagt zu ihm: "Heute ist endlich Schluss." Im Gehen erwidert er: "Ja, dann ist Schluss."

Kurz vor elf Uhr betritt Robert S. mit Rucksack und Sporttasche die Schule und sucht eine Toilette auf. Ganz in Schwarz gekleidet und maskiert, kommt er wenig später heraus. Es ist, als hätte er sich durch diese Metamorphose in eine Figur aus einem seiner Ego-Shooter verwandelt.

Dieser liefert ihm nun auch die Choreografie für sein weiteres Vorgehen: Mit Pistole und Pumpgun bewaffnet, durchkämmt er systematisch das ganze Gebäude, geht von Klassenzimmer zu Klassenzimmer, von Stockwerk zu Stockwerk.

Sobald eine Lehrerin oder ein Lehrer in sein Blickfeld gerät, feuert er gezielt auf deren Kopf. Zwei Mitschüler tötet er eher zufällig beim Durchschießen einer geschlossenen Tür. Gegen 11:15 trifft er im ersten Stock auf seinen ehemaligen Geschichtslehrer Heise. Inzwischen hat Robert S. angesichts chaotischer Zustände im Schulgebäude, fliehender und schreiender Schüler, leerer Räume und nahender Polizeisirenen die Kontrolle über die Situation verloren.

Er ist nicht mehr Herr der Lage und am Ende mit seinem mörderischen Latein. Der Amoklauf implodiert, die Metamorphose ist beendet, er verwandelt sich aus einer Ninja-Figur in Robert S. zurück.

Das ist Rainer Heises Rettung. Robert S. zieht die Maske vom schwitzenden Gesicht und steht ihm, mit der Waffe in der Hand, direkt gegenüber. "Du, Robert!", sagt Lehrer Heise: "na, dann erschieß mich auch!"

Robert erwidert: "Für heute reicht’s!" Der Lehrer schiebt ihn in eine Kammer und schließt von außen ab. Innen schießt Robert S. sich eine Kugel in den Kopf.

Seinem Amoklauf fielen zwölf Lehrerinnen und Lehrer, ein Mitschüler und eine Mitschülerin, eine Sekretärin und ein Polizist zum Opfer. Ihre Namen sind:

Peter Wolff, Hans-Joachim Schwertfeger, Dr. Birgit Dettke, Helmut Schwarzer, Hans Lippe, Monika Burghardt, Gabriele Klement, Susann Hartung, Ronny Möckel, Ivonne-Sofia Fulsche-Baer, Heidemarie Sicker, Carla Pott, Heidrun Baumbach, Anneliese Schwertner, Rosemarie Hajna, Andreas Gorski.

Gedenktafel am Gutenberg-Gymnasiums. Bild: Christoph Hoffmann / CC-BY-SA-2.0

Die Sache war die: Robert S. ging seit einem halben Jahr gar nicht mehr zur Schule. Das Gutenberg-Gymnasium hatte sich seiner Anfang Oktober 2001 durch einen Akt bürokratischer Exklusion entledigt, nachdem er geschwänzt und Atteste gefälscht hatte. Da Robert S. volljährig war, brauchte die Schule seine Eltern nicht zu informieren.

Der Schulverweis entzog seinem Lebensentwurf die Grundlagen und stürzte ihn wegen einer Besonderheit des damaligen thüringischen Schulgesetzes ins Nichts. Ohne jeden Bildungsnachweis drohte er zu dem zu werden, was man im sozialdarwinistischen Jargon der Gegenwart einen "Loser" nennt.

Am Abend des Schulverweises hob er Geld ab, zwei Wochen später kaufte er sich die Tatwaffe und wurde Mitglied des Schützenvereins "Domblick".

Da er sich von der realen Welt zurückgewiesen fühlte, zog er sich mehr und mehr in die virtuelle Welt der Computerspiele zurück, die sein lädiertes Selbstwertgefühl aufpäppelte und ihm ein Gefühl von Macht und Stärke vermittelte, dem in der Realität immer weniger entsprach.

Parallel dazu verstrickte er sich der Familie gegenüber in ein komplexes Lügengebilde. Das emotional kühle und leistungsfixierte Klima in der Familie S. hielt ihn davon ab, von seinem Schulverweis und seinem drohenden Absturz ins Bildungs-Nirwana zu berichten.

Er verließ morgens das Haus und verbrachte den ganzen Vormittag in einem Café. "Wie war dein Tag?", fragte die Mutter, wenn er nach Hause kam. "Ganz okay", sagte er und erzählte von der Schule, von wachsendem Druck und dem bevorstehenden Abitur. Dann verschwand er in seinem Zimmer und seiner Computerwelt.

Das Trainingsprogramm im Kinderzimmer: Wie man im Laufschritt und im Sekundentakt kaltblütig tötet, wie man Gebäude und Gelände strategisch sichert, wie man am schnellsten seine Waffe nachlädt. Alles per Mausklick, über Jahre, Level für Level.

Er trainierte sich systematisch das Mitleid ab, schwelgte in Rachefantasien und begann, sich intensiv mit Eric Harris und Dylan Klebold zu beschäftigen, die 1999 an der Columbine-Highschool in Colorado zwölf Mitschüler und einen Lehrer erschossen hatten.

Die Bilder der Überwachungskameras, die ihren mörderischen Auftritt in der Schulcafeteria festhielten, gelangten ebenso ins Internet wie die Handy-Notrufe der Opfer. So wurde Littleton zum Symbol für Schießereien an Schulen und Universitäten und liefert seither eine Art Blaupause für alle Nachfolger.

Indem Robert S. den Schulverweis zu Hause verschwieg und so tat, als wäre alles in Ordnung, begann er, wie Gerhard Mauz einmal gesagt hat, mit seiner Umgebung "Federball mit Dynamit" zu spielen. Denn zwangsläufig musste der Tag kommen, an dem seine Lügen auffliegen würden und er seinen Eltern mit dem Geständnis seines Scheiterns unter die Augen treten müsste.

Der letzte Tag der schriftlichen Abiturprüfungen wurde so zum Tag der Entscheidung, und er beschloss, die Widersprüche in der realen Welt, in die er sich heillos verstrickt hatte, nach dem eingeübten Modus der virtuellen Welt gewaltsam zu lösen.

"... dass ich nur ein einziges Mal hätte reagieren müssen."

In einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom 28.4.2003 hat Roberts Mutter ein Jahr nach der Tat eigene Versäumnisse eingestanden. Sie habe damals aus Zeitmangel und wegen privater und beruflicher Belastungen vieles übersehen oder nicht sehen wollen. Sie erinnert sich an eine bestimmte Szene:

Ein paar Monate vor der Tat saß Robert am Küchentisch und sagte: ‚Es hat alles keinen Sinn’. Ich habe nur geantwortet: "Was redest du für einen Quatsch?" Heute sage ich mir ständig, dass ich nur ein einziges Mal hätte reagieren müssen.

Ich erinnere mich, dass mir in den Tagen nach dem Massaker von Erfurt in der Stadt ein junger Mann begegnet ist, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck trug: "Erfurt – sind wir nicht alle ein bisschen Robert?"

Der junge Mann wirkte so, als ginge es ihm nicht lediglich darum, durch die provokative Verfremdung eines dümmlichen Werbeslogans Aufsehen zu erregen und einen Unterscheidungsmehrwert einzuheimsen. Seine auf dem Leib getragene Frage forderte sich und uns auf, den Täter nicht zu isolieren und zur Inkarnation des Bösen zu erklären, sondern uns in ihm und seiner Tat wiederzuerkennen.

Hätte unser junger Mann die Tagebücher von Max Frisch gekannt, hätte er auch - in leicht abgewandelter Form - die 22. Frage eines der dort formulierten Fragebögen auf sein T-Shirt drucken können: "Gesetzt den Fall, Sie sind noch nie Amok gelaufen: Wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?"

In Gedanken sind wir alle schon einmal Amok gelaufen. Wer hat nicht gelegentlich ein Gefühl der Klaustrophobie und verspürt die Lust, das grausame Spiel zu beenden und die Figuren mit einer wütenden Handbewegung vom Brett zu fegen? Wer könnte nicht gelegentlich alles kurz und klein schlagen? Im Internet kann man T-Shirts mit dem Aufdruck bestellen: "Ich lauf hier gleich Amok" – wohl einer der häufigsten stillen oder halblauten Stoßseufzer in Büros, Fabrikhallen und auf den Gängen von Behörden.

Die Halbwertszeit der öffentlichen Betroffenheit - und die Abschlussberichte

Die Halbwertszeit der öffentlichen Betroffenheit nach dem Massaker von Erfurt erwies sich als erstaunlich kurz. Vier Wochen befand sich die Republik in Aufregung und auf der hektischen Suche nach Erklärungen, dann legte sich der Sturm und es ging "normal" weiter.

Der damalige thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel eröffnete den Verdrängungsprozess und gab die Richtung vor, indem er unmittelbar nach der Tat von einem "Unheil" sprach, "das vom Himmel gefallen ist." Das Massaker war ein Ereignis wie das Erdbeben von Lissabon, und gegen so etwas kann man nichts tun, da hilft nur Beten.

Der Staat lebt vom Glauben seiner Bürger, durch ihn vor Unsicherheiten und Gefahren aller Art bewahrt zu werden. Da es gegen den Amoklauf so gut wie keine kurzfristig wirksamen Präventionsmöglichkeiten gibt, muss der Staat wenigstens so tun, als gäbe es sie.

Um die durch die monströse Erfurter Tat erschütterte Innerlichkeit und Loyalität der Bürger zu restabilisieren, verabreichte man ihnen die üblichen Palliativa aus der sicherheitspolitischen Hausapotheke: Man verschärfte das Waffenrecht geringfügig, novellierte das Jugendschutzgesetz und änderte das Schulgesetz von Thüringen, das Robert S. ins Bodenlose hatte stürzen lassen.

Ein im Juni 2002 vorgelegter "vorläufiger Abschlussbericht" erklärte die Tatmotive für geklärt. Dieter Althaus, Vogels Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten, verkündete noch Anfang 2004: "Zu Gutenberg ist alles gesagt. Der Fall ist geklärt und durch den vorläufigen Abschlussbericht des Innenministeriums ausreichend dargestellt." Althaus fuhr kurz und knapp fort: "Robert Steinhäuser ist ein Mörder, und das hat nichts mit der Schule oder dem Schulsystem zu tun."

Für Althaus stand fest: Der "Böse" ist der andere, er heißt Robert S. und ist tot. Damit konnte alles so bleiben, wie es war, und so weitergehen wie bisher.

Nach Protesten gegen die Inhaltslosigkeit und Vagheit des vorläufigen Abschlussberichts und wegen der vielen weiterhin offenen Fragen, setzte man dann doch eine "Kommission Gutenberg-Gymnasium" ein, die im April 2004 einen voluminösen Bericht vorlegte. Er war mit seinen 371 Seiten vor einer breiteren Rezeption geschützt und begrub die Zweifel unter einer Unmenge sogenannter Fakten und Details.

Das Gutenberg-Gymnasium wenige Tage nach dem Amoklauf. Bild: ASK / CC-BY-SA-3.0

Einem Täter, der sich am Ende seines mörderischen Wütens selbst tötet, kann man keinen Prozess machen, eine forensische Auseinandersetzung mit Tat und Schuld findet nicht statt. Unsere Bedürfnisse nach Aufklärung der Hintergründe der Tat, einer Verantwortungsübernahme durch den Täter und seiner Bestrafung gehen ins Leere.

Ein Amoktäter, der sich am Ende selbst tötet, bringt uns um die Erfahrung, der irdischen Form der Gerechtigkeit bei der Arbeit zusehen zu können und frustriert unsere Erklärungs-, Kausalitäts- und Vergeltungsbedürfnisse. "Aha, das ist es also!" würden wir irgendwann gern sagen können, um dann erleichtert zur Tagesordnung zurückzukehren.

An die Stelle einer forensischen Aufklärung treten in einem solchen Fall Fantasien, Spekulationen über "das Böse im Menschen", simple mediale Konstrukte oder das Versprechen der Wissenschaft, demnächst "Muster", "Patterns" zu finden, die eine Früherkennung potenzieller Täter und damit eine wirksame Prävention ermöglichen sollen. Oder, können wir im Erfurter Fall hinzusetzen: regierungsamtliche Abschlussberichte.

Im August 2005 wurde der Schulbetrieb im umgebauten und gründlich sanierten Erfurter Gutenberg-Gymnasium mit einer Feierstunde wieder aufgenommen. Neben dem Eingang brachte man eine Gedenktafel mit den Namen der sechzehn Getöteten an. Gesellschaften und Gemeinschaften brauchen Orte der Erinnerung und kollektive Rituale zur Bewältigung eines Traumas, um ihr erschüttertes Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Es gibt allerdings Formen der Erinnerung, die in Wahrheit eher das Vergessen befördern. Man schafft, salopp gesagt, "Kranzabwurfstellen", Orte, an denen man an Jahrestagen Blumen niederlegt, Kerzen entzündet und sich einer ritualisierten Gedächtnisübung unterzieht, um hinterher umso schneller vergessen zu können und über die Ursachen der Gewalt nicht reden zu müssen.

Auf der Erfurter Gedenktafel findet sich über den Namen der Opfer die Inschrift: "Verbunden mit der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Gewalt." Das ist angemessen und klingt gut, aber hat man auch etwas unternommen, damit die am Ort des Schreckens artikulierte Hoffnung zu einer aufgeklärten, fundierten und geprüften Hoffnung wird, die mehr und etwas anderes ist als ein frommer Wunsch und Beschwichtigung?

Wer nach dem Massaker auf eine Form von Katastrophendidaktik gesetzt hatte, sah sich bald enttäuscht. Selbst die größten anzunehmenden zwischenmenschlichen Unfälle scheinen keinen prinzipiellen und nachhaltigen Zweifel an der Gangart des gesellschaftlichen Prozesses auszulösen. Staat und Gesellschaft lassen es sich etwas kosten, die Ursachen der Gewalt bestehen zu lassen und ihre Folgen mit technischen und repressiven Mitteln zu bekämpfen.

Die Erfurter Schülerinitiative "Schrei nach Veränderung" stellte schon wenige Monate nach der Tat fest, dass "vielerorts wieder Normalität eingekehrt" sei. Das mögen die meisten von der Tat Betroffenen und auch die Bürger der Stadt Erfurt mit Erleichterung zur Kenntnis genommen haben, wenn aber Massenmörder nicht, wie Bernhard Vogel anzunehmen scheint, von einem fremden Stern stammen, sondern unserer Normalität entspringen, ist die Rückkehr dieser Normalität eher ein Grund zur Besorgnis.

Am 18. Juli 2002 veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Aufruf Erfurter Schüler und Studierender, in dem gefordert wurde, sich "verstärkt mit den gesellschaftlichen Ursachen dieser Tat auseinander zu setzen", weil nur deren Kenntnis es ermögliche, ähnlichen Taten vorzubeugen.

Insbesondere müsse der Leistungsbegriff hinterfragt werden, der das Bildungssystem beherrsche und dafür verantwortlich sei, dass unablässig Verlierer produziert würden, die den vorherrschenden Idealen nicht entsprächen und in der Folge leicht in eine Position abseitiger Verzweiflung gerieten.

Was hat man gelernt? Was hätte man lernen können?

Was ist aus den Forderungen der Schüler und Studierenden geworden? Was hat man gelernt oder: was hätte man aus der Katastrophe von Erfurt lernen können?

In Familien sollte ein Klima herrschen, das es Kindern und Jugendlichen ermöglicht, alles sagen zu können. Wer die Erfahrung macht, dass man erlittene Niederlagen eingestehen darf, ohne die Zuwendung der Eltern zu riskieren, und in Notsituationen von einem unzerstörbaren Netz emotionaler Bindungen aufgefangenen zu werden, wird es selbst mit peinlichen Kränkungen und schlimmen Zurückweisungen aufnehmen können, die das Leben "draußen" bereithält.

Unwissenheit, die die Eltern von Robert S. für sich reklamiert haben, beruht zu einem großen Teil auf einem wie auch immer begründeten Desinteresse, oder andersherum: Eltern, die wissen wollen, ob ihr Sohn tatsächlich die Schule besucht und dort etwas lernt, erfahren das auch. "Wer denkt, es ist alles in Ordnung, obwohl nichts in Ordnung ist, der will auch glauben, es sei alles in Ordnung, weil er angesichts der erahnten Unordnung resigniert hat", kommentiert Wolfgang Schmidbauer die Haltung vieler heutiger Eltern.

Hätte sich Frau S. an jenem von ihr geschilderten Morgen zu Robert an den Küchentisch gesetzt und ihm Gelegenheit gegeben, zu erzählen und sein schulisches Scheitern einzugestehen, wäre es möglicherweise zur Tat nicht gekommen.

Am Ende von Fritz Langs Film M – eine Stadt sucht den Mörder fällt der Satz: "Wir müssen uns mehr um unsere Kinder kümmern." Was so einfach und banal klingt und die einzig wirksame Form der Prävention wäre: Dass für keinen und niemand die Kommunikation und der Bezug zur Welt abbricht, ist doch zugleich das Schwierigste.

Die Bereitschaft, sich umeinander und vor allem um Kinder zu kümmern, lässt sich nicht dekretieren, und solange mächtige Tendenzen, die in der Grundstruktur dieser Gesellschaft verankert sind, daran arbeiten, die Menschen in gegeneinander isolierte und miteinander konkurrierende Sozialatome zu verwandeln, werden viele Familien nicht mehr sein als das bloße Nebeneinander von sprach- und lieblosen Einsamkeiten.

Nach wie vor gilt, was Adorno in seinem berühmten Aufsatz "Erziehung nach Auschwitz" aus dem Jahr 1966 gesagt hat: "Vor allem aber kann man Eltern, die selber Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch."

Dass rund um die Jahrestage des Massakers in den Medien – und auch in diesem Text – der Name des Robert S. erneut genannt wird, gehört zu seinen posthumen Erfolgen und belehrt uns zugleich über ein möglicherweise zentrales Motiv solcher Täter. "Ich möchte, dass mich eines Tages alle kennen", hatte er im Vorfeld der Tat einer Mitschülerin anvertraut – und so ist es nun auch gekommen.

Wem es auf gesellschaftlich akzeptierte Weise nicht gelingt, Anerkennung zu finden, kann als Massenmörder und Negativ-Held in die Annalen der Zeitgeschichte eingehen. Die Medien erweisen sich als mächtige Komplizen von Tätern, die auf Anerkennung aus sind. Der Täter produziert den Schrecken in der sicheren Gewissheit, dass die Medien ihn verbreiten.

Im "Zeitalter des Narzissmus" (Christopher Lasch) besteht nur dann Hoffnung auf eine Eindämmung des School Shootings, wenn die mediale Resonanz möglichst gering ausfällt und jede Heroisierung der Täter unterbleibt. Gäbe es den medialen Hype nicht und würden Meldungen über Schulschießereien auf Seite sieben der Lokalzeitungen landen, gäbe es die Schulmassaker nicht oder doch in viel geringerem Ausmaß.

Vor allem dürfen keine Bilder des Täters in Aktion und Kampfmontur in Umlauf gesetzt werden, weil diese den "bösartigen Narzissmus" amokgefährdeter Jugendlicher auf besondere Weise stimulieren und sie zur Nachahmung geradezu animieren. Am besten wäre es, nicht einmal Fotos und Namen der Täter zu verbreiten.

Da jedes neuerliche Massaker uns ein zum medialen Paroxysmus gesteigertes Gegenbeispiel geliefert hat, könnte man auf die Idee verfallen, dass diese Gesellschaft – und damit wir alle – den Amoklauf unbewusst fördern, weil er uns mit Bildern beliefert, die wir schaudernd genießen, und weil er uns kurzfristig ein panikinduziertes Gefühl der Zusammengehörigkeit beschert.

Gesamtgesellschaftlich wäre aus der Erfurter Katastrophe zu lernen gewesen, dass wir gesellschaftliche Verhältnisse herstellen müssten, unter denen der Mensch dem Mensch kein Wolf mehr ist und sein muss und ihm weniger Bosheit eingepresst wird.

Wir müssten der Demontage des Sozialstaats Einhalt gebieten, den Wahnsinn der losgelassenen Märkte stoppen und Solidarität an die Stelle des entfesselten Konkurrenzkampfes setzen. Das wäre eine Form von sozialer Prävention, die langfristig den Nährboden austrocknen könnte, auf dem der Amoklauf gedeiht.

Universum permanenter Verteidigung und Aggression

Die Menschen des neoliberalen Zeitalters leben in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression und werden von der Angst umgetrieben, aus der Gesellschaft, ja aus der Welt herauszufallen und einen sozialen Tod zu sterben. Wer seine Arbeit verliert, verliert ja weit mehr als seine Arbeit. Er büßt seine Gesellschaftlichkeit ein, das Gefühl gebraucht zu werden, die Bindung an einen Ort, an dem man abends zu ihm sagt: "Schönen Feierabend und bis morgen!"

Wer von der Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess ausgeschlossen wird, kann leicht fallen – und wohin fällt er dann unter heutigen Bedingungen? Welche Netze halten seinen Sturz auf? Da ist kein Glaube mehr, der tröstet, kein gewerkschaftlich-politisches Milieu, das den Verlust mit Sinn ausstattet und in gemeinsamen Widerstand überführt. Persönlichkeitsstörungen, die im geregelten Alltag leidlich eingekapselt waren, können nun aufbrechen.

Gelingt der Rückweg in die Normalität nicht, wird der aus der Welt gefallene Mensch mehr und mehr von seiner Tagtraumwelt aufgesogen. Er brütet über seinen inneren Unglücksvorräten und droht in den Bann einer destruktiven Dynamik zu geraten, die sich schließlich suizidal oder amokartig entladen kann. Es ist gewiss kein Zufall, dass sich der Amoklauf im neoliberalen Zeitalter aus einem zuvor seltenen Ereignis zu einer grausigen Mode entwickelt hat.

Seit Mitte der 1970er Jahre hat es weltweit weit mehr als 100 sogenannte School-Shootings gegeben, die meisten davon in den USA, gefolgt von Kanada und Deutschland. Aber das School Shooting ist nur die jugendliche Variante dessen, wofür sich der aus dem Malaiischen stammende Begriff "Amok" durchgesetzt hat.

Das Gros der amokartigen Taten wird von Männern um die vierzig begangen, die im Vorfeld der Tat einen sozialen Tod gestorben sind und nun ihre verlorene Gesellschaftlichkeit nur noch tödlich wiederherstellen können, indem sie in ihren Untergang so viele Menschen wie möglich mitreißen.

Wenn der mit den Zwängen der weltweiten Konkurrenz begründete Trend zu Rationalisierung und Stellenabbau sich fortsetzt, große Teile der Jugend ohne jede Perspektive bleiben und ältere, leistungsschwächere, psychisch labile und mental unflexible Menschen weiter aus dem Arbeitsprozess heraus- und in eine Anomie-Position hineingedrängt werden, droht der Amoklauf zur kriminellen Signatur des Zeitalters des globalen Kapitalismus zu werden.

Die Schulen haben sich in den letzten Jahrzehnten von Markt und Industrie unter Kuratel stellen lassen, statt "Erfurt mitzudenken" und sich in Richtung einer menschlicheren Schule zu entwickeln, wie es Erfurter Schüler nach dem Massaker gefordert hatten.

Dabei quittiert die Rede von den "Sachzwängen", denen man sich zu beugen habe, nur den Umstand, dass wir – die Bürger eines dem Anspruch nach demokratischen Gemeinwesens – es nicht wagen, die "Sachen", die ja in Wahrheit menschliche und von Menschen hervorgebrachte Verhältnisse sind, in eine andere, menschenförmige Richtung zu zwingen.

Man will uns die Funktionsweisen der herrschenden Ökonomie und Gesellschaft als Naturgesetze verkaufen und Menschen, die das nicht akzeptieren wollen, in die Position desjenigen rücken, der so töricht ist, einem Erdbeben Vorwürfe zu machen.

Mit großem medialem und propagandistischen Aufwand soll verhindert werden, dass jene angeblich ehernen Marktgesetze, deren perfekte Grausamkeit man uns gegenüber als ein Naturfaktum darstellt, den Menschen plötzlich gestehen würden, dass sie sie ja selbst gemacht haben und also auch verändern können.

Wenn wir uns auf unsere Stärke und gestalterischen Möglichkeiten besännen, könnten wir also durchaus darauf bestehen, Schulen und Universitäten dem Zugriff des Kapitals zu entziehen und sie in der Tradition der Aufklärung an der regulativen Idee der Mündigkeit auszurichten.

Das aufsteigende Bürgertum hatte Mündigkeit zu seinem Kampfbegriff gemacht und Bildung zu einem Instrument der Emanzipation. Freilich blieb der Anspruch, Bildung mit Mündigkeit zu verbinden, auf die bürgerliche Klasse beschränkt, die ihn, zu Reichtum und Macht gelangt, immer stärker einschränkte und schließlich wieder loszuwerden versuchte.

Mündigkeit und ihre Strangulierung wachsen auf dem gleichen Holz, und es käme heute darauf an, den ursprünglichen Gehalt von Bildung wieder freizulegen, sie von ihren klassenspezifischen Beschränkungen zu befreien und als Instrument der Befreiung aller zu konzipieren.

Wenn wir soweit wären, würden wir schnell feststellen, dass sich das Kapital seine kostenlosen Bildungszulieferbetriebe nicht kampflos entreißen lassen wird und wir nicht umhinkommen, den betriebswirtschaftlichen Imperialismus insgesamt zu bekämpfen und der Ökonomie vernünftige gesellschaftliche Ziele vorzugeben, denen sie zu dienen und sich unterzuordnen hat.

"Es hätte nur jemand mit mir reden müssen"

Was hätten wir aus Erfurt lernen können und was gilt es nach wie vor zu verändern? Je mehr die Elternhäuser in ihren sozialisierenden, prägenden und Kinder und Jugendliche bergenden und haltenden Aufgaben und Funktionen ausfallen, desto mehr müssen Schulen zu Schutzräumen und "verlässlichen Orten" (Oskar Negt) werden, in denen sie sich unter Bedingungen raum-zeitlicher Kontinuität und Verlässlichkeit zu Menschen entwickeln können.

Es ist nicht länger hinzunehmen, dass in unseren Schulen Subjektivität und Innerlichkeit der Schüler (fast) nur als Störung vorkommen.

Die Subjektivität der Schüler muss noch in ihren verqueren Ausdrucksformen ernst genommen und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen leibhaftigen Menschen werden, die sich gerade in solchen Auseinandersetzungen als Menschen zu erkennen geben. Es kann nicht sein, dass Schüler, die leistungsschwach sind oder "stören", bürokratisch entsorgt werden. Kinder und Jugendliche brauchen Zuwendung am meisten, wenn sie sie am wenigsten "verdienen".

Das einzige Antidot gegen die Gewalt sind emotionale Bindungen der Schüler untereinander, an ihre Schule und Lehrer und ein lebendiges, offenes Schulklima, das es möglich macht, über alles zu reden. Nur auf diese Weise kann verhindert werden, dass einzelne Schüler oder ganze Gruppen aus von der Schule gestifteten Bezügen herausfallen und dauerhaft an den Rand gedrängt werden.

"Es hätte nur jemand mit mir reden müssen", hat ein amerikanischer School Shooter auf die Frage geantwortet, was hätte passieren müssen, um seinen Amoklauf zu verhindern. Schulen benötigen das, was bürokratischen Institutionen eigentlich wesensfremd ist, also widrigen Verhältnissen abgerungen werden muss: Einfühlungsvermögen und Sensibilität für besondere Umstände.

Nur so sind Schulgemeinschaften imstande, die Folgen von Verletzungen wahrzunehmen, die die Schule einzelnen Schülern zufügt, und die Warnsignale aufzufangen, die die Verletzten und Gekränkten aussenden, bevor sie zur Gewalt greifen.

Routine, Bequemlichkeit und Indifferenz sorgen im Schulalltag dafür, dass solche Vorzeichen übersehen werden: die Äußerung von Suizidabsichten oder tiefer Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, dauerhafte Mobbing- und Dissing-Attacken gegenüber bestimmten Schülern, das Abdriften in gewaltgesättigte virtuelle Welten, apokryphe oder offene Andeutungen, dass "demnächst irgendetwas passieren wird", das Erstellen von "Todeslisten", die intensive heroisierende Beschäftigung mit anderen Amokläufern und die Übernahme von deren Zeichen- und Symbolsystemen.

Bei all dem präventiven Eifer, den man seit Erfurt an Schulen betreibt, wird häufig übersehen, dass alle spektakulären Schulschießereien in Deutschland nicht von aktuellen, sondern von ehemaligen Schülern begangen wurden. Die Täter von Freising, Erfurt, Emsdetten und Winnenden kehrten nach mehr oder weniger großem zeitlichem Abstand an ihre ehemaligen Schulen zurück, um dort für vergangene und gegenwärtige Kränkungen Rache zu üben.

Ein noch so ausgefuchstes "Bedrohungsmanagement" an diesen Schulen hätte also gegen diese Taten nichts auszurichten vermocht. Es sei denn, man hätte in Erfurt die bürokratische Entsorgung eines Schülers verhindert oder fürsorglich aufgefangen.

Ehemalige Schüler befinden sich häufig auf irgendwelchen Abstellgleisen im Niemandsland zwischen Schule und Beruf, Pubertät und Erwachsensein und wissen nicht, gegen wen sie ihre ohnmächtige Wut wenden sollen. Diese sucht sich dann ein Ersatzopfer, einen Sündenbock, der die Wut auf sich zieht, weil er verletzlich und greifbar ist und/oder weil er mit vergangenen Kränkungen assoziiert wird, die sich mit den gegenwärtigen trübe verfilzen.

Die wirksamste Form der Prävention gegen eskalierende Gewalt ist und bleibt eine soziale: ein von Empathie und Vertrauen getragenes Klima der Aufmerksamkeit und wechselseitigen Sorge.

Jedes hysterische Agieren, das auffällige Schüler vorschnell verdächtigt, droht das informelle Frühwarnsystem, das eine halbwegs intakte Schulgemeinschaft hervorbringt, zu zerstören. Nicht jede Verhaltensauffälligkeit darf behördliche Nachstellungen und sozialarbeiterische oder psychotherapeutische Zwangszuwendung auslösen. Die Ausbreitung einer Fahndungsmentalität würde Gewaltphantasien in den Untergrund abdrängen, wo sie sich der kommunikativen Bearbeitung und Entschärfung entziehen.

Götz Eisenberg ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete als Gefängnispsychologe und ist Autor zahlreicher Bücher. Eisenbergs Durchhalteprosa erscheint regelmäßig bei der GEW Ansbach.