Massaker von Babyn Jar: "Größter Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte"

Seite 3: Holocaust durch Kugeln

An einem bestimmten Punkt des Weges, mussten die nicht-jüdischen Begleiter umkehren. Von dort aus wurden die Juden von deutschen Soldaten und zwei Polizeibataillone zu den jüdischen und orthodoxen Friedhöfen und dahinter zu einer großen Schlucht gedrängt und geprügelt, die im Volksmund Babyn Jar (Altweiberschlucht) genannt wurde. Menschen, die erst nach Sonnenuntergang dort ankamen, wurden über Nacht eingesperrt und am folgenden Tage ermordet.

Die Verwaltungsabteilung der 454. Sicherungsdivision berichtete am 2. Oktober 1941 über die Lage in Kiew:

Die Einwohnerzahl wird auf etwa die Hälfte des Normalstandes, also auf rund 400 000, geschätzt. Die Juden der Stadt waren aufgefordert worden, sich zwecks zahlenmäßiger Erfassung und zur Unterbringung in einem Lager an bestimmter Stelle einzufinden. Es meldeten sich etwa 34 000, einschließlich der Frauen und Kinder. Alle wurden, nachdem sie ihre Wertsachen und Kleidungsstücke hatten abgeben müssen, getötet, was mehrere Tage in Anspruch nahm.

Offiziell bezifferte die Verwaltung des Dritten Reiches die Opferzahl des Massakers vom 29. und 30. Septembers in Babyn Jar mit 33.711. Bis heute wird versucht, die Namen aller Opfer herauszufinden.

Die Ermordung unschuldiger Menschen in Babyn Jar ging noch bis zur Befreiung Kiews durch die Rote Armee weiter und wird Gegenstand eines zweiten Artikels sein. Der dritte und letzte Teil wird die komplexe und tragische Geschichte des Ortes Babyn Jar bis heute und das Gedenken an die Opfer betrachten.

Die Menschen sprechen lassen

Tragischerweise können nur die wenigen Überlebenden das Grauen der brutalen Ermordung zahlreicher Menschen in Babyn Jar in Worte fassen. Eine Warnung vorab an sensible Leser: Die folgenden Texte gehen an die Grenze des Erträglichen.

Genja Batasheva:

Die Straße war mit den ersten Panzersperren blockiert, Deutsche und Polizisten mit Gewehren und Hunden standen zwischen den Bäumen. Sie zwangen die Menschen, ihre Sachen, Dokumente und Schmuck abzugeben.

Hier begann das Schrecklichste. "Schneller", - wir hörten nur diese Worte. Von allen Seiten kamen Schläge. Mama, deckte uns zu, wie sie konnte. Sie versuchte, uns zu retten. (...) Ich habe keine Worte, um das Geschehen zu beschreiben. Die Leute rissen sich die Haare aus, schrien hysterisch, wurden verrückt. Plötzlich sah ich einen schreienden Säugling auf dem Boden liegen. Ein Faschist stürzte sich auf ihn und erschlug ihn mit einem Gewehrkolben.

In diesem Moment verlor ich wahrscheinlich das Bewusstsein, und was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, waren meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder nicht mehr da. Ich fing an, mich wie eine Verrückte umzusehen und nach den Händen der Leute zu greifen. Mehrmals zog mich der Menschenstrom fast in den Gang zwischen den Hügeln, aber ich wich aus und suchte weiter nach meiner Familie. Ich hatte nur einen Gedanken: "Ich werde mit ihnen sterben."

Plötzlich sah ich Manja Pal'ti. Sie war ein Mädchen aus unserem Hof. Sie war allein. Wir reichten uns instinktiv die Hände und ließen einander nicht mehr los. Sie war 13 und ich war 17 Jahre alt und wir wollten nicht sterben. Wir gingen auf einen Polizisten zu und baten ihn: - Bitte, lassen Sie uns gehen, wir sind Russen. Er schaute auf unser blondes Haar und antwortete: - Ich sehe, dass ihr keine Juden seid. Aber wenn ihr hier seid, dann bleibt ihr hier.

Ein anderer Polizist war nachgiebiger. Er führte uns zu den Deutschen, die neben dem Auto standen, und begann ihnen etwas zu erklären. Ich sagte ihnen, dass wir Schwestern seien, die Deutschen schrieben unsere Adresse auf und fragten dann nach unseren Nachnamen. Ich dachte, dass das unser Ende sei.

Ich sagte ihnen: "Mein Nachname ist Bataschewa und Manjas Nachname ist Tscherneckaja" (wir hatten eine Nachbarin in unserem Hof mit einem solchen Nachnamen). Die Deutschen waren überrascht, und ich zeigte ihnen an den Fingern, dass wir Cousinen sind. Sie setzten uns in das Auto. Es gab ein kleines Heckfenster. Ich schaute hinaus und weinte. Ich dachte, ich hätte meine Mutter gesehen, wie sie zur Schlucht ging.

Liudmyla Borodianska (fünf Jahre alt):

Dann hörte ich die hysterischen Schreie einer Frau. Sie nahmen ihr ihre fünfzehnjährige Tochter weg, aber sie gab sie nicht her. Dann schlugen sie sie mit einem Gewehrkolben, sie töteten sie wahrscheinlich, und die Deutschen zogen ihre Tochter und schleppten sie irgendwohin. Da bekam ich große Angst und ging näher zu meiner Mutter (…)

Dann sah ich einen Deutschen mit einem Klappmesser auf einen alten Mann zuging, er sagte etwas zu ihm, dann packte ihn am Bart und fing an, ihn mit aller Kraft am Bart zu ziehen. Der alte Mann schrie laut auf, Blut floss über sein Gesicht, und der Bart blieb in den Händen des Faschisten zurück. Als ich das sah, begann ich zu schreien und zu weinen und bat meine Mutter, diesen schlimmen Ort zu verlassen, an dem Tante und Großvater getötet werden und wir vielleicht auch getötet werden. Dann begannen sie, uns zusammenzutreiben, und wie eine Herde wurden wir immer näher an den Abgrund getrieben.

Yelena Yefimovna:

Ich wartete nicht auf das nächste Kommando, sondern warf mein Mädchen in die Schlucht und fiel auf sie drauf. Eine Sekunde später fielen Körper auf mich. Dann wurde alles still. (...) Ich spürte, dass meine Tochter sich nicht bewegte. Ich lehnte mich an sie heran und deckte sie mit meinem Körper zu. Um sie vor dem Ersticken zu bewahren, machte ich Fäuste aus meinen Händen und legte sie unter ihr Kinn. (...) Die Exekution war seit 9.00 Uhr morgens im Gange, und überall war Blut zu sehen. Wir waren zwischen den Leichen eingeklemmt.

Ich spürte, wie jemand über die Leichen ging und auf Deutsch fluchte. Ein deutscher Soldat prüfte mit einem Bajonett, ob noch jemand am Leben war. Zufällig stand er auf mir, so dass der Bajonettstoß an mir vorbeiging.

Als er wegging, hob ich den Kopf. (...) Ich befreite mich, stand auf und nahm meine bewusstlose Tochter in die Arme. Ich ging die Schlucht entlang. Als ich einen Kilometer zwischen uns und dem Ort der Hinrichtung gelegt hatte, spürte ich, dass meine Tochter kaum noch atmete. Da es nirgendwo Wasser gab, befeuchtete ich ihre Lippen mit meinem eigenen Speichel.

Dina Pronicheva:

Wir waren 25 bis 30 Personen am Rande der Klippe. Nach den Schüssen stürzten die Leute neben mir über die Klippe. Bevor mich die Kugel traf, rannte ich die Treppe hinunter. Ich fiel auf die erschossenen Leute und tat so, als wäre ich tot. (...) Ein Polizist sah, dass keine Spur von Blut an mir war. Er rief einen Deutschen an und sagte ihm, dass ich noch am Leben zu sein schien. Ich hielt den Atem an: Einer seiner Füße stieß mich so, dass ich mit dem Gesicht nach oben lag. Der Deutsche trat mit seinen Füßen auf meine Brust und mein Handgelenk. Dann war er sicher, dass ich tot war und ging weg.

(...) Sie begannen, uns mit Erde zu bedecken. Die Erdschicht war dünn, so dass es mir gelang, herauszukommen. Ich kroch im Dunkeln leise zur Mauer und kletterte mit größter Mühe die Klippe hinauf, in der Nähe der Stelle, an der wir entkleidet worden waren, bevor wir erschossen wurden. Als ich die Klippe hinaufkletterte, rief mich ein Junge, der ebenfalls überlebt hatte. Zusammen mit ihm versuchte ich zwei Tage lang, aus Babyn Yar herauszukommen. Am ersten Tag versteckte ich mich auf einem Baum, und der Junge saß im Gebüsch; am zweiten Tag saß ich in einer Müllgrube. Am Morgen des dritten Tages wurde der Junge getötet. Ich hörte zwei Schüsse, aber ich sah den Schützen nicht.

Irina Khoroshunowa, eine Einwohnerin Kiews, schrieb am 2. Oktober 1941 in ihr Tagebuch:

Schon sagen alle, dass die Juden ermordet werden. Nein, nicht ermordet werden, sondern schon ermordet worden sind. Alle, ohne Ausnahme - Greise, Frauen und Kinder. Jene, die am Montag nach Hause zurückgekehrt waren, sind auch schon erschossen worden. Das ist noch Gerede, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass es den Tatsachen entspricht. Es sind keine Züge von Lukjanowka abgefahren. Leute haben gesehen, wie Autos warme Kleider und andere Sachen vom Friedhof abtransportiert haben. Die deutsche "Sorgfalt". Sie haben sogar schon die Trophäen sortiert!

Ein russisches Mädchen hat seine Freundin auf den Friedhof begleitet und sich von der anderen Seite durch die Umzäunung geschlichen. Sie hat gesehen, wie entkleidete Menschen in die Richtung von Babyn Jar geführt wurden, und Gewehrschüsse gehört. Es gibt immer mehr von diesen Gerüchten und Berichten. Ihre Ungeheuerlichkeit will nicht in unsere Köpfe hineingehen. Aber wir sind gezwungen, sie zu glauben, denn die Erschießung der Juden ist eine Tatsache. Eine Tatsache, die anfängt, uns allen den Verstand zu rauben.

Es ist unmöglich, diese Tatsache anzuerkennen und einfach weiterzuleben. Die Frauen um uns herum weinen. Und wir? Wir haben auch geweint am 29. September, als wir dachten, dass sie ins Konzentrationslager transportiert werden. Aber jetzt? Ist es etwa möglich zu weinen?

Ich schreibe, und die Haare stehen mir zu Berge. Ich schreibe, aber diese Worte drücken nichts aus. Ich schreibe deswegen, weil es notwendig ist, dass die Menschen der Welt von diesem ungeheuerlichen Verbrechen erfahren und es rächen können. Ich schreibe, und in Babyn Jar geht das Massenmorden von wehrlosen und völlig unschuldigen Kindern, Frauen und Greisen weiter, von denen viele, so sagt man, halb lebendig begraben werden, weil die Deutschen ökonomisch denken und es nicht mögen, Kugeln unnötig zu verschwenden. (…)

Gab es jemals irgend etwas Vergleichbares in der Geschichte der Menschheit? Niemand hätte sich etwas Vergleichbares auch nur ausdenken können. Ich kann nicht weiter schreiben. Es ist unmöglich zu schreiben, unmöglich zu versuchen, das Geschehene zu verstehen - denn in dem Augenblick, in dem es uns bewusst wird, werden wir den Verstand verlieren.