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Massaker von Odessa 2014: Gericht, wirft Ukraine Fehler und Vertuschung vor

Harald Neuber
Brandspuren im GewerkschaftsgebÀude von Odessa, 2014

Hier verbrannt Menschen, Kiew interessiert das wenig. Bild: A_Lesik/ Shutterstock.com

Ukraine wegen schwerer VersĂ€umnisse beim Brand 2014 verurteilt. 48 Menschen starben in Gewerkschaftshaus. BegrĂŒndung liefert brisante Details.

Der EuropĂ€ische Gerichtshof fĂŒr Menschenrechte (EGMR) hat die Ukraine wegen schwerwiegender VersĂ€umnisse der Behörden bei den gewaltsamen Unruhen in der ukrainischen Stadt Odessa am 2. Mai 2014 verurteilt. In deutschen Medien wurde das Urteil des EGMR erstaunlich zurĂŒckhaltend aufgenommen: Nur wenige und nur bestimmte Medien berichteten ĂŒber die Entscheidung.

Dabei sah es Gericht mit Sitz in Straßburg sah es als erwiesen an, dass der ukrainische Staat [1] nicht alles getan habe, um die Eskalation der Gewalt zwischen proukrainischen und prorussischen Demonstranten zu verhindern, die Ausschreitungen zu stoppen und die im brennenden Gewerkschaftshaus eingeschlossenen Menschen rechtzeitig zu retten.

Außerdem habe es keine effektive Untersuchung der VorfĂ€lle gegeben. Damit habe die Ukraine gegen Artikel 2 (Recht auf Leben) der EuropĂ€ischen Menschenrechtskonvention verstoßen, urteilte die Kammer einstimmig.

Dem Urteil lagen die Klagen von insgesamt 28 Personen zugrunde. 25 der BeschwerdefĂŒhrer verloren bei den Ausschreitungen oder durch den Brand Angehörige, drei ĂŒberlebten das Feuer mit Verletzungen.

Die KlĂ€ger stammten sowohl aus dem proukrainischen als auch aus dem prorussischen Lager. Sie machten geltend, dass die ukrainischen Behörden das Leben ihrer Angehörigen oder ihr eigenes nicht ausreichend geschĂŒtzt und keine effektive Untersuchung durchgefĂŒhrt hĂ€tten.

Hintergrund der Tragödie

Am 2. Mai 2014 hatte sich die Lage in Odessa nach monatelangen Spannungen zwischen Maidan-BefĂŒrwortern und -Gegnern im Zuge des Machtwechsels in Kiew und der russischen Krim-Annexion zugespitzt.

Eine proukrainische Demonstration wurde von prorussischen Aktivisten angegriffen. Es kam zu schweren StraßenkĂ€mpfen mit Schusswaffen und Molotowcocktails. Sechs Menschen starben.

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Die Gewalt verlagerte sich zu einem Zeltcamp von prorussischen Aktivisten. Als proukrainische Demonstranten die Zelte in Brand setzten, flĂŒchteten die prorussischen Aktivisten in das Gewerkschaftshaus.

Darin brach aus ungeklĂ€rter Ursache ein Feuer aus. Obwohl die Feuerwache nur einen Kilometer entfernt war, trafen die Löschfahrzeuge erst mit 40-minĂŒtiger VerspĂ€tung ein, da der Leiter des Brandschutzes den Einsatz verzögerte. 42 Menschen erstickten oder verbrannten im GebĂ€ude, einige stĂŒrzten beim Fluchtversuch aus den Fenstern zu Tode. Insgesamt kamen 48 Menschen um, ĂŒber 250 wurden verletzt.

Feststellungen des Gerichtshofs

Der EGMR wies darauf hin, dass die Situation in Odessa durch Desinformation und Propaganda aus Russland ĂŒber die neuen ukrainischen Machthaber angeheizt worden sei.

Die ukrainische Regierung habe auf eine mögliche Destabilisierung der Lage durch Russland hingewiesen, was angesichts der strategischen Bedeutung Odessas und des massiven Engagements Russlands auf der Krim und in der Ostukraine nicht abwegig erscheine.

Dennoch bleibe es die Pflicht des Staates, die ihm zur VerfĂŒgung stehenden Mittel zu nutzen, um Gewalt zwischen BĂŒrgern abzuwenden.

EGMR: Ukrainische Behörden haben eklatant versagt

Dabei hĂ€tten die ukrainischen Behörden eklatant versagt, so der EGMR. Obwohl Geheimdienst und Polizei Warnungen vor möglichen gewaltsamen ZusammenstĂ¶ĂŸen und Aufrufen zur Gewalt in sozialen Medien registriert hĂ€tten, sei die Polizei nur mit einem Standardaufgebot vor Ort prĂ€sent.

Als prorussische Aktivisten die proukrainischen Demonstranten angriffen, habe die Polizei nicht eingegriffen. Es gebe sogar Anzeichen fĂŒr eine Komplizenschaft zwischen Polizei und prorussischen Aktivisten. Die UntĂ€tigkeit der Polizei sei einer der HauptgrĂŒnde fĂŒr die Eskalation gewesen.

Verantwortliche vor Ort ließen die Katastrophe geschehen

"Die den staatlichen Beamten und Behörden zuzurechnende FahrlĂ€ssigkeit ging ĂŒber einen Beurteilungsfehler oder eine Unachtsamkeit hinaus", urteilte das Gericht. Selbst nachdem die ZusammenstĂ¶ĂŸe begonnen hatten, sei kein Notfallplan aktiviert worden. Die PolizeifĂŒhrung habe angeblich an Besprechungen teilgenommen und sei ĂŒber Stunden nicht erreichbar gewesen, was das Gericht als "unerklĂ€rlich" bezeichnete.

Auch bei der Brandkatastrophe im Gewerkschaftshaus hĂ€tten die Behörden nicht alles getan, was man vernĂŒnftigerweise von ihnen erwarten konnte, um Menschenleben zu retten. Die Entsendung von Löschfahrzeugen sei bewusst um 40 Minuten verzögert worden. Die Polizei habe nicht geholfen, Menschen schnell und sicher aus dem GebĂ€ude zu evakuieren. "Der Staat hat es versĂ€umt, rechtzeitige Rettungsmaßnahmen sicherzustellen", so der EGMR.

Danach begann die Vertuschung

Bei den Ermittlungen habe es gravierende VersÀumnisse gegeben. Anstatt den Tatort im Zentrum abzusperren, seien als Erstes Reinigungs- und Wartungsdienste geschickt worden. Auch das Gewerkschaftshaus sei 17 Tage lang frei zugÀnglich geblieben. Es habe schwere Auslassungen bei der Sicherung und Auswertung forensischer Beweise gegeben.

Umfangreiches Foto- und Videomaterial von den ZusammenstĂ¶ĂŸen und dem Brand sei nicht ausgewertet worden, um alle TĂ€ter zu identifizieren. So sei niemand identifiziert worden, der wĂ€hrend der ZusammenstĂ¶ĂŸe auf Fotos beim Abfeuern von SchĂŒssen oder nach dem Brand beim Angreifen von Opfern gezeigt wurde.

Ukrainer stellten Ermittlungen viermal aus identischen GrĂŒnden ein

Die Untersuchungen zu verschiedenen Personen und ihrer Rolle bei den Ereignissen wiesen schwere MĂ€ngel auf. So wurde eine Untersuchung gegen einen proukrainischen Aktivisten, der verdĂ€chtigt wurde, auf prorussische Aktivisten geschossen zu haben, viermal aus identischen GrĂŒnden eingestellt, ohne frĂŒhere Kritikpunkte zu beachten.

Insgesamt seien die Ermittlungen weder umgehend eingeleitet noch innerhalb angemessener Fristen gefĂŒhrt worden, kritisierte der EGMR. Die Behörden hĂ€tten erhebliche Verzögerungen und lange Phasen unerklĂ€rter UntĂ€tigkeit verursacht. Mittlerweile habe die VerjĂ€hrung den noch anhĂ€ngigen Untersuchungen jeglichen potenziellen Nutzen und damit jede mögliche EffektivitĂ€t geraubt.

UnabhÀngige Untersuchung nötig

Eine unabhĂ€ngige Untersuchung wĂ€re angesichts der Beweise fĂŒr eine Komplizenschaft der Polizei nötig gewesen, fand aber nicht statt. Auch zu den Ermittlungen gegen die Feuerwehr fehlte es an institutioneller und praktischer UnabhĂ€ngigkeit. Die Angehörigen seien nicht ausreichend ĂŒber den Ermittlungsfortschritt informiert worden.

Angesichts des Ausmaßes der Gewalt hĂ€tten die Behörden alles unternehmen mĂŒssen, um Transparenz und eine sinnvolle öffentliche Kontrolle der Ermittlungen zu gewĂ€hrleisten, befand das Gericht:

Stattdessen gab es keine effektive Kommunikationspolitik, mit dem Ergebnis, dass einige der bereitgestellten Informationen schwer verstĂ€ndlich und widersprĂŒchlich waren und nicht regelmĂ€ĂŸig genug zur VerfĂŒgung gestellt wurden. Das Gericht stellt fest, dass die Verzerrung der Ereignisse in Odessa schließlich zu einem Instrument der russischen Propaganda in Bezug auf den seit Februar 2022 von der Russischen Föderation gegen die Ukraine gefĂŒhrten Krieg wurde. Eine verstĂ€rkte Transparenz bei den diesbezĂŒglichen Ermittlungen der ukrainischen Behörden hĂ€tte dazu beitragen können, diese Propaganda wirksam zu verhindern oder zu kontern.

Zusammenfassend stellte der Gerichtshof fest, "dass die zustĂ€ndigen Behörden nicht alles in ihrer Macht Stehende getan haben, um die Gewalt zu verhindern, die Gewalt nach ihrem Ausbruch zu beenden und rechtzeitige Rettungsmaßnahmen fĂŒr die durch den Brand im Gewerkschaftshaus Eingeschlossenen sicherzustellen".

Auch hĂ€tten sie es versĂ€umt, eine effektive Untersuchung der Ereignisse einzuleiten und durchzufĂŒhren. Damit liege eine Verletzung von Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) in materieller und verfahrensrechtlicher Hinsicht vor.

Analyse und Kritik schon zuvor

Auf die Defizite bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der Tragödie hatten Experten und internationale Organisationen bereits frĂŒh hingewiesen. "Bis heute nicht aufgeklĂ€rt", titelte das juristische Fachportal Legal Tribune Online zum sechsten Jahrestag 2020 [3].

Darin konstatierte der Autor Dr. Eike Fesefeldt, dass es bis 2020 "bezĂŒglich des Brands sowie der dortigen TodesfĂ€lle bis heute keine Bestrafung gab bzw. ĂŒberhaupt unklar ist, wer das Feuer gelegt hat". Die staatsanwaltlichen Ermittlungen seien "ĂŒberaus dĂŒrftig" gewesen und von einem Gericht als einseitig kritisiert worden.

Die UntĂ€tigkeit der Strafverfolgungsbehörden sei "inzwischen mehrfach von verschiedenen zwischenstaatlichen und internationalen Organisationen als parteiisch und nicht zufriedenstellend kritisiert worden", schrieb Fesefeldt. Er verwies auf einen fast 100-seitigen Bericht des Europarats von 2015, der zu dem Schluss kam, dass die ukrainischen Ermittlungen "weder unabhĂ€ngig noch effizient" waren und hinter europĂ€ischen Standards zurĂŒckblieben.

Das UN-MenschenrechtsbĂŒro habe 2016 beanstandet, dass die ukrainischen Behörden "nur Ermittlungen gegen prorussische Aktivisten eingeleitet hatten". Die Ermittlungen seien "von systemischen institutionellen MĂ€ngeln betroffen und durch VerfahrensunregelmĂ€ĂŸigkeiten gekennzeichnet" gewesen, "die darauf hindeuteten, dass die Behörden gar nicht gewillt waren, die Verantwortlichen wirklich zu ermitteln und strafrechtlich zu verfolgen".

Ukrainischer Staat bis heute untÀtig

Auch in den Folgejahren habe der UN-Hochkommissar fĂŒr Menschenrechte wiederholt kaum Fortschritte und ein "mangelndes echtes Interesse der Behörden an der SachverhaltsaufklĂ€rung" moniert, so Fesefeldt. "Ein genauer Blick auf die zeitliche Chronologie legt die Vermutung nahe, dass die ukrainischen VerantwortungstrĂ€ger immer erst dann tĂ€tig werden, wenn ein zwischenstaatlicher Bericht die MissstĂ€nde offenlegt, was in den vergangenen Jahren regelmĂ€ĂŸig geschah."

Deutsche Medien zeigen kaum Interesse an EGMR-Urteil

Es erscheine "zweifelhaft, ob bereits eine Verletzung von Art. 2 der EMRK vorliegt", schrieb der Autor – eine EinschĂ€tzung, die der EGMR nun klar revidiert hat. Fesefeldt hielt es fĂŒr zentral, dass Europarat, EU oder UN weiterhin von ihren Möglichkeiten Gebrauch machten, unabhĂ€ngige Untersuchungen durchzufĂŒhren."

Wie schlecht die Chance fĂŒr eine solche Aufarbeitung stehen, zeigt die politische und mediale Aufmerksamkeit: nach dem Urteil des Gerichtes berichteten kaum deutsche etablierte Medien ĂŒber diese Entwicklung. Die Berliner Zeitung brachte einen lĂ€ngeren Text, ebenso die FAZ [4]. Ansonsten waren es russische oder prorussische Medien, die den Fall aufgegriffen.


Redaktioneller Hinweis. In einer frĂŒheren Version dieses Artikels war fĂ€lschlicherweise von einem EU-Gericht Rede. Der EuropĂ€ische Gerichtshof fĂŒr Menschenrechte (EGMR) wurde 1959 in Straßburg von den Mitgliedsstaaten des Europarats ins Leben gerufen, um die Einhaltung der EuropĂ€ischen Menschenrechtskonvention zu gewĂ€hrleisten, die 1950 unterzeichnet wurde. Der EGMR befasst sich mit Beschwerden von Einzelpersonen, Personengruppen und Staaten ĂŒber Verletzungen der in der Konvention festgelegten Rechte. Seit 1998 ist der EGMR ein permanentes Gericht. BĂŒrger können sich direkt an ihn wenden, nachdem sie alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft haben. Die Entscheidungen des Gerichtshofs sind fĂŒr die betroffenen Staaten verbindlich und haben dazu gefĂŒhrt, dass Regierungen ihre Gesetze und Verwaltungspraxis in vielen Bereichen Ă€ndern. Durch seine Rechtsprechung wird die Konvention zu einem dynamischen Instrument, das hilft, neuen Herausforderungen zu begegnen und die Rechtsstaatlichkeit sowie Demokratie in Europa zu stĂ€rken.


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[1] https://www.echr.coe.int/w/judgment-concerning-ukraine-2
[2] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[3] https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/2014-odessa-42-tote-buergerkreig-brand-ukraine-russland-un-europarat-ermittlungen-emrk
[4] https://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine/ermittlungen-zu-odessa-2014-egmr-verurteilt-ukraine-110357616.html