Mathematik goes Literatur
Interview mit Dietmar Dath über sein Buch "Höhenrausch"
Bekannt ist Dietmar Dath Telepolis-Lesern spätestens seit seinem Roman Am Blinden Ufer. Nun der hat der umtriebige Autor mit "Höhenrausch" ein neues Buch vorgelegt, in dem er die großen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts - von Julia Bowman Robinson bis Alan Turing - in ihrem Denken und Forschen mittels Prosa zu portraitieren versucht.
Dietmar Dath erlaubt sich Tonfälle, die dem landläufigen Wissenschaftsjournalismus nicht zu Gebote stehen. Neben dem klassischen Essay greift er auf ein reiches Register von Darstellungsweisen zurück: die Briefform, den Dialog, die Science-Fiction-Geschichte.
Ein Psychiater unterhält sich mit Prinz Hamlet über Poincare; Kolmogorow wird mit einem Auftritt Stalins vorgestellt; zwei coole Frauen reden über Omega; Gödel wird an Hand einer Gespenstergeschichte diskutiert, die am theologischen Seminar der Universität Princeton spielt; und Turing erscheint in einer Email-Korrespondenz über Sex und Künstliche Intelligenz. Und so wirbt der Verleger: "Keine Angst! Dies ist kein Fachbuch. Es verlangt keine mathematischen Vorkenntnisse!"
Doch offenbar sorgt das Vorhaben, abstrakte Gedankenmodelle in griffige Literatur zu übersetzen für Missverständnisse. So beklagt sich ein Rezensent in der renommierten Zeitschrift Literaturen über den Mangel an mathematischer Exaktheit: "Die größte Schwäche des Buches zeigt sich jedoch dort, wo Dath mathematische Inhalte zu erklären versucht. Vieles davon ist schlichtweg falsch oder kann so, wie er es tut, nicht gesagt werden - etwa bei den Definitionen von Reihen, Modulen oder diophantischen Gleichungen." Gleichwohl als Kompliment liest sich der darauf folgende Kritikersatz: "Viele Passagen hören sich, auch wenn sie inhaltlich falsch sind, gleichwohl vollkommen mathematisch an." Klingt das nicht nach einer gelungenen Symbiose von Mathematik und Literatur - schließlich scheint Dath die Logik der abstrakten Wissenschaft in Prosa übersetzt zu haben? Zeit für ein paar klärende Fragen an Dietmar Dath.
Kannst Du kurz schildern, wie es zu der Idee kam, "Höhenrausch" zu schreiben, und worum es darin geht?
Dietmar Dath: Das Buch ist eigentlich als Umweg um ein anderes Buch herum entstanden, als grotesk ausgewachsene Abschweifung: die Absicht bestand schon länger, einen romanhaften, biographischen Versuch über den Physiker Paul Dirac zu schreiben, um an diesem Beispiel aufzuzeigen, inwieweit Modernisierung, Neuzeit, Gegenwart mit Mathematisierung nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der übrigen Erfahrungsweisen zusammengehen, und inwieweit gerade nicht.
Dann hatte Hans Magnus Enzensberger die Idee, einen Band mit Porträts wichtiger Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenzustellen, und ich dachte: zwanzig Beispiele sind mehr als ein Beispiel, was an Tiefe vielleicht verloren geht, kommt an Reichweite wieder rein. Teilweise war das ein Irrtum, aber dafür ein produktiver: das Dirac-Buch muss ich, auch aufgrund der Missverständnisse und kritischen Hautausschläge, die "Höhenrausch" angeregt hat, wohl trotzdem noch schreiben. Einfach, weil ein ausführlich angeschauter Einzelfall erlaubt, die Vergröberungen und manchmal brutal kurzen Referate von Inhalten, die mir vorgeworfen wurden, zugunsten rigiderer und präziserer Verfahren der Nacherzählung von Wissenschaft fallen zu lassen. Aber die Konzision im Zusammenfassen, das Überblickshafte und die von der Vielfalt der geschilderten Charaktere und Lebenswege gedeckte Idee, stilistisch mehr als einen Ton anzustreben, haben sich trotzdem gelohnt, denke ich.
Wie ist es zur Auswahl der Wissenschaftler gekommen, die Du in Deinem Buch portraitierst?
Dietmar Dath: Die Auswahl der Leute, die vorkommen, ist extrem persönlich, aber da die eigene Persönlichkeit von objektiven Sachen durchzogen ist - man hat halt bestimmte Sichtweisen gelernt, bestimmte Prioritäten werden wirklich durch die Sachen selber nahegelegt -, ist diese auch wieder nicht bloß "subjektiv". Selbst Leute, die mich im Verdacht haben, leider doch nicht alles zu wissen, was man über das Thema wissen kann - sie haben, fürchte ich, die Vorbemerkung übersprungen, die genau diese Wissenslücken einräumt und halten deren Existenz deshalb für eine Entdeckung - geben zu, dass die Mathematiker, die ich interessant finde, wirklich die heißen und aufregenden sind oder zu ihrer Zeit waren. Das von mir bevorzugte Verfahren, sich daran zu orientieren, ob jemand ein heikles Leben hatte oder wenigstens auf Fotos cool aussieht, scheint also doch zu funktionieren.
Wer nicht vertraut ist mit ihren Lebensläufen, wird sich fragen, was davon erfunden ist, was nicht und welchen Ansatz, welche Methode Du bei der Dichtung verwendet hast.
Dietmar Dath: Die Frage, welche Tatbestände in den Biographica erfunden sind, mag ich nicht, vor allem, weil sie sich beim einigermaßen wachen Lesen relativ mühelos und trivial selbst beantwortet: Wo es um Werwölfe, Vampire und Zeitreisen geht, wird schon nicht alles stimmen; den Nationalsozialismus, die Erfindung des Computers und diverse Eheschließungen oder Geburten haben dagegen meist wirklich stattgefunden, wer so etwas erfinden muss, hat offensichtlich zuviel Zeit.
Hinter der Frage steckt aber natürlich die nach den sogenannten "Quellen", und da gebe ich nun gern zu, dass ich das Format "Anekdote" für ein verächtliches halte, den natürlichen Feind des Erzählens. Anekdoten werden in Umlauf gebracht, damit es menschelt: Das bedeutende Abstrakte, geleistet von bewundernswerten Leuten, soll in den Dreck des zufälligen Empirischen gedrückt werden. Erzählen geht umgekehrt: Das scheinbar gleichgültige Detail wird zu etwas, das Bedeutung tragen darf. Das wollte ich leisten, zum Teil hat's geklappt.
Welche Strategie hast Du gewählt, um Mathematik in Literatur zu übersetzen?
Dietmar Dath: Mathematik in Literatur zu übersetzen: Das geht natürlich nicht. Mathematik ist ja nicht nur eine Sprache, sondern auch der Gegenstandsbereich einer Sprache. Das heißt: Zahlen zum Beispiel sind nicht bloß Zeichen, sondern Handlungen, menschliche Praxis (man zählt). Man kann etwas auf Französisch Gesagtes ins Deutsche übersetzen, aber übersetz' mal ein Pferd, eine Uhrzeit oder ein Fußballspiel! Was nicht geht, braucht man auch nicht probieren: Ich hab's gelassen.
Eine andere Frage ist, ob man von Mathematik in Prosa sprechen kann, die auch Leute verstehen, die das Formale der Sache selber nicht nachvollziehen könnten. Jenseits von Textaufgaben, deren Prosabegriff ein geschummelter ist: schwierig. Es geht halt ungefähr so aus, wie wenn man Wüstenbewohnern was vom Leben im Meer schildert: Ihr wisst schon, verschiedene Fische, Rochen, Haie, Wale... und dann kommt ein Meeresbiologe und sagt: Falsch, der Wal ist ein Säugetier. Ich war so ungenau wie nötig und so genau, wie meine Kenntnisse und mein Wortschatz es erlaubt haben.
In letzter Zeit ist wieder eine Ästhetisierung der Wissenschaften zu beobachten gewesen. Andererseits suchen geisteswissenschaftliche Forscher nach Querverbindungen zu den Naturwissenschaften. Peter Weibel zum Beispiel geht in dem Buch "Die Kunst des formalen Denkens" der Verbindung von Kunst und Mathematik nach. Wie bewertest Du diese Entwicklungen und wo würdest Du Dich selbst verorten/positionieren?
Dietmar Dath: Die Verhübschung der Wissenschaft, die achtzig Prozent der Pop-Science in den Medien ausmacht, ist der Versuch von abstiegsbedrohten Gebrauchs- und anderen Ästheten, sich der Sachzwanglogik von Verwertungsketten anzuschmiegen, die es in Wirklichkeit seit der Bauchlandung der New Economy schon gar nicht mehr gibt. Das harmoniert leider ganz gut mit dem Versuch von Wissenschaftlern, aus Existenzsicherungsgründen etwas gegen ihr schlechtes Image zu tun, das von einer epidemischen Massenverblödung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verursacht wurde, für welche die Wissenschaft nichts kann.
Alle Kunst - nicht nur die bessere Science Fiction -, die sich in nützlicher und schöner Weise über Wissenschaftliches äußert, hat zum Ziel nicht die Ästhetisierung der Wissenschaft und auch nicht die aus anderen Gründen ebenso suspekte Verwissenschaftlichung der Ästhetik, sondern die Herstellung und Optimierung von Fantasien über die von uns tatsächlich bewohnte Welt. Solange die Menschen vögeln oder wenigstens vögeln wollen, wird es sexualisierte Kunst geben, dasselbe gilt für das Wissen. Ich selber gehöre in die Publikationsumwelten, in denen Letzteres passiert, wie eine Ameise auf dem Ameisenhaufen: So schreibe ich, Einer von Vielen.
Dietmar Dath: Höhenrausch. Eichborn Verlag 2003. 344 Seiten. 27,50 €