Maulkorb fürs Erbgut

RNA-Moleküle im Zellplasma kontrollieren die zelluläre Kommunikation und zensieren genetische Informationen aus dem Zellkern

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Die Metaphern, mit denen man uns das Erbgut veranschaulicht, reichen vom "Gehirn der Zelle" über den "Generaldirektor des Lebens" bis zum Ort, wo die "Entscheider", die Gene, residieren. Doch jetzt drängen sich klitzekleine Moleküle im Zellplasma in den Vordergrund, die offenbar bestimmen, was der molekulare CEO sagen darf, und was nicht - eine Entdeckung mit medizinischen und philosophischen Implikationen.

Autokraten aller Zeiten fanden es mitunter opportun, im Krisenfall die Überbringer schlechter Nachrichten zu lynchen. König David etwa brachte den Boten um, der ihm am Berg von Gilboa die Nachricht von Sauls Tod überbrachte. So merkwürdig es klingt, aber diese unerfreuliche Regierungspraxis scheint auf zellulärer Ebene ein biologisches Vorbild zu haben: Kleine Moleküle aus Ribonukleinsäure übernehmen im Zellplasma die Funktion von tödlichen Zensoren. Sie scheinen den Nachrichtenfluss zu kontrollieren und löschen bei Bedarf unerwünschte genetische Mitteilungen.

Der Zellkern: Ingenieur und Philosoph in einem?

Die Übermittlung der genetischen Informationen aus dem Zellkern an die Ribosomen, die Eiweißfabriken des Zellplasmas, geschieht über lange dünne Moleküle, die aus Nukleotiden aufgebaut sind und treffend "Messenger" genannt werden. Die Messenger sind die Schablonen, mit denen die Ribosomen arbeiten und die sie Wort für Wort oder Nukleotid für Nukleotid in Aminosäuren übersetzen. Drei Nukleotide geben eine Aminosäure, hunderte Aminosäuren zusammen bilden ein Eiweißmolekül. Die Messenger bestehen aus Ribonukleinsäure (RNA), ein der Erbsubstanz DNA sehr ähnliches Material. Messenger werden traditionell als Genkopien betrachtet, die der Zellkern nutzt, um seine Weisheit ins Plasma zu funken. Für die Gene selbst ist diese Außenwelt nicht erreichbar.

Das Konzept hinter diesem Modell, das seit Jahrzehnten im Biologieunterricht gelehrt wird, ist die sogenannte ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese. Sie geht zurück George Beadle und Arthur Tatum und wurde später zum Dogma Nummer 1 der Molekularbiologie umformuliert: "DNA macht RNA macht Protein". Der Zellkern, oder genauer die dort lagernden Gene, werden in diesem Dogma zum Ausgangspunkt allen Daseins, zum "Buch des Lebens", zum "Gehirn der Zelle". Ummantelt von kaum zu überwindenden Membranen, fristen sie ein Dasein, in dem platonische Weltferne und technische Expertise eine fruchtbare Synthese eingehen. Die Gene sind in der Akademie des Zellkerns der Zellen Seele und leitender Bauingenieur in Personalunion, molekulare Individuen von geballter Kompetenz, die, wen wunderts, gerne mal personalisiert werden, wie etwa in Richard Dawkins brillantem Evolutionsessay "Das egoistische Gen".

Vom Schicksal der Dogmen

Bekanntlich waren die Konzepte hinter dieser hier etwas blumig umrissenen Metaphorik für die biologische Forschung bemerkenswert produktiv. Erst in jüngster Zeit melden sich vermehrt Zweifler zu Wort, die das Dogma etwas modifizieren möchten. "Ein-Gen-ein-Enzym" war schon lange vor dem Humangenomprojekt, das dem Menschen "nur" gut 30.000 Gene zugesteht, kein absolutes Gesetz mehr. Und "DNA-macht-RNA" verlor spätestens mit der Entdeckung des umgekehrten Prozesses bei der HIV-Infektion seine Mystik.

Was blieb war und ist die Vormachtstellung des Zellkerns als "erster Ursache" aller Prozesse. Doch nicht alle sind damit glücklich. Eines der großem Rätsel war von Anbeginn die Frage, wie sich Zellen mit exakt gleicher genetischer Information zu so unterschiedlichen Geweben wie Leber, Gehirn oder Muskulatur entwickeln können. Das Problem wurde lange Zeit hinten angestellt, nicht zuletzt weil es in das Gebiet der Embryologie oder Entwicklungsbiologie fällt, eine Disziplin, die Mitte des 20. Jahrhunderts in Konkurrenz zur sich entwickelnden molekularen Genetik stand.

Kleine Moleküle im Kampf gegen die Informationsflut

Einen entscheidenden Schritt vorwärts auf dem Weg zur Lösung dieses Problems könnten die in den letzten Jahren intensiv erforschten "small interfering RNA" oder siRNA bedeuten. Für seine Arbeiten zur Erforschung der gerade mal rund 20 Basenpaare langen Moleküle, die in riesiger Zahl im Zellplasma umher schwimmen, hat der deutsche Wissenschaftler Thomas Tuschl vom Max Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen (mittlerweile Rockefeller University, New York) jetzt den sehr prestigeträchtigen Newcomb Cleveland Prize der American Association for the Adveancement of Science (AAAS) erhalten. Tuschl war der erste, der zeigen, dass diese kleinen Nukleinsäuren auch bei Wirbeltieren vorkommen und damit universell sind.

Was tun, wenn der Meister zuviel redet?

Die siRNA scheinen an der Lösung eines der großen Probleme zellulärer Kommunikation beteiligt zu sein: Der Chef im Zellkern brabbelt zu viel. Er leidet an einer schweren Form der Logorrhoe. Biochemisch gesehen bedeutet das: Es werden zu viele Messenger erzeugt und raus ins Plasma geschickt, auch solche, die Informationen über Proteine enthalten, die in einem bestimmten Gewebe nicht oder nicht in großer Zahl benötigt werden. Die siRNA-Moleküle schauen dem Meister nun genau aufs Maul: Sie bestehen ihrerseits aus genau definierten Basensequenzen und können sich an ganz bestimmte Messenger anlagern - jene nämlich, die nicht gebraucht werden. Einmal auf diese Weise durch eine siRNA markiert ist das Todesurteil für den Messenger gesprochen: So genannte Schneide-Enzyme stürzen sich auf ihn und hacken ihn einfach klein.

Nachrichtenträger killen - Vielleicht ein Mittel im Kampf gegen AIDS und Krebs.

SiRNA scheinen also eine zytoplasmatische Schaltstelle im zellulären Kommunikationsprozess darzustellen, der in der Regulation der Eiweißsynthese eine mindestens ebenso bedeutende Rolle zukommt, wie dem Zellkern selbst. Doch auch medizinische Anwendungen sind denkbar: "Angesichts der hohen Spezifität der siRNA sollte es eigentlich möglich sein, auch krankmachende Messenger (...) auszuschalten", spekuliert Tuschl.

Er denkt dabei an bestimmte Virusinfektionen, etwa AIDS, bei denen Viren in das Erbgut der infizierten Zellen eingebaut werden. Die Viren zwingen die Zelle dann mittels Messenger-Molekülen dazu, bestimmte Proteine zu synthetisieren, die für ihre Vermehrung nötig sind. Wenn es gelänge, mittels künstlich hergestellter siRNA-Moleküle diese Messenger auszuschalten, den Viren also einen Maulkorb zu verpassen, wäre für die Patienten viel gewonnen. Ähnliches könnte für bestimmte Krebsarten gelten, bei denen Krebsgene, die sogenannten Onkogene, verrückt spielen.

Der Weg dorthin allerdings ist noch weit: Wie man die künstliche RNA-Moleküle gezielt in einzelne Zellen bekommt, weiß niemand. Und außerdem sind Viren und bösartige Tumoren in ihren Erbanlagen oft ziemlich flexibel, sodass es wohl nicht ausreicht, wenn nur ein Messenger angegriffen wird. Eher braucht es viele Maulkörbe in unterschiedlichen Größen.