Medien: Agenda Setting auf Kosten der Ärmsten
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Etwa 828 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Das wird zu wenig wahrgenommen. Dabei wäre es vergleichsweise leicht, dieses globale Problem zu lösen.
Das Thema ist aktueller denn je: Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen hat darauf hingewiesen, dass die Zahl der Hungernden weltweit erneut gestiegen ist und mittlerweile 828 Millionen Menschen erreicht hat.
Vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die Getreidelieferungen erklärte der Generalsekretär von Malteser International bereits im April 2022: "Noch nie war der Bedarf an humanitärer Hilfe weltweit so groß."
Auch Dürren in verschiedenen Regionen Afrikas sorgten für eine starke Zunahme des Hungers. Die Hilfsorganisation Care stellte fest, dass die Hungerkrise im Südsudan eine "neue Dimension" erreichte und Generalsekretär António Guterres warnte vor einer beispiellosen Welthungerkrise.
Am stärksten gefährdet sind die Länder, die ohnehin schon unter Hunger zu leiden haben. Es kündigt sich eine gewaltige Katastrophe an, könnte man denken. Doch das ist falsch, denn die gewaltige Katastrophe ist schon längst da.
Sie wird in den Medien nur kaum wahrgenommen. Mangelndes öffentliches Interesse verhindert aber eine effektive Lösung des Problems.
Dramatische Zahlen von Hungernden
Nachdem die Zahl der Hungernden viele Jahre lang sank, steigt sie seit etwa sechs Jahren wieder. In Afghanistan beispielsweise litten im Jahr 2022 mehr als 23 Millionen Menschen (und damit mehr als die Hälfte der Bevölkerung) im Land unter akutem Hunger.
Auch in Syrien und im Jemen bleibt die Ernährungslage weiterhin katastrophal. Etwa jeder zehnte Mensch auf der Welt hungert. Über zwei Milliarden Menschen leiden unter Mangelernährung. Alle dreizehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger (Welthungerhilfe), in einem Jahr also fast 2,5 Millionen Kinder.
Das Welternährungsprogramm machte deutlich, dass jährlich mehr Menschen "an den Folgen des Hungers sterben […] als an Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen".
Ursachen des globalen Hungers
Die Welthungerhilfe weist auf vielfältige Ursachen von Hunger und Mangelernährung hin. Hierzu gehören Armut, Kriege und Konflikte sowie Naturkatastrophen wie Dürren oder Überschwemmungen, deren Zahl mit dem Klimawandel zunimmt.
Durch das Bevölkerungswachstum ist anzunehmen, dass die Zahl der Hungernden weiter steigen wird, wenn keine Maßnahmen getroffen werden.
Kann das Problem gelöst werden?
Dass es auch anders geht, zeigen die Erfolge der Bekämpfung des globalen Hungers in den vergangenen Jahrzehnten. Seit 2003 sank die Zahl der Hungernden von fast 950 Millionen Menschen kontinuierlich auf circa 780 Millionen Menschen im Jahr 2015.
Besonders aufwühlend erscheint daher die aktuelle Lage, weil es sich beim globalen Hunger um ein durchaus lösbares Problem handelt. In der Tat bezeichnete das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen Hunger als "das größte lösbare Problem der Welt".
Die Pläne für die Bekämpfung des globalen Hungers liegen in den Schubladen der Hilfsorganisationen und humanitären Einrichtungen wie des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, das 2020 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Zahlreiche Erfolgsprojekte haben gezeigt, dass das Problem lösbar ist. Was sichergestellt werden muss, ist aber ein stabiler Geldfluss.
Voraussetzung eins: Ausreichende finanzielle Mittel
Schätzungen gehen davon aus, dass die vergangenen Rekordernten ausreichen würden, um bis zu 14 Milliarden Menschen zu ernähren. Die Nahrungsmittel jedoch sind ungleich verteilt. Während in vielen Staaten des Globalen Südens gehungert wird, werden viele Lebensmittel in der sogenannten westlichen Welt verschwendet und landen im Müll.
Die Berechnungen, wie viel Geld notwendig wäre, um den Hunger auf der Welt zu besiegen, divergieren und richten sich auch nach den jeweiligen konkreten Zielsetzungen. Laut dem International Institute for Sustainable Development (IISD) werden global jährlich 12 Milliarden Dollar zur Hungerbekämpfung ausgegeben.
Zusätzliche 14 Milliarden Dollar pro Jahr könnten, so einer im Jahr 2020 vorgestellten Berechnung des kanadischen Instituts zufolge, bis 2030 circa 500 Millionen Menschen aus Hunger und Fehlernährung befreien.
Der ehemalige deutsche Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, der Hunger wiederholt als Mord bezeichnete, weil sowohl das Wissen wie auch die Technologie zur Verfügung stehen, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren, bezifferte die notwendige Summe zur Beendigung des Hungers bis zum Jahr 2030 auf 40 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr.
Die Summe mag hoch erscheinen, verblasst allerdings neben den von dem schwedischen Friedensforschungsinstitut Sipri auf 1.984 Milliarden Dollar geschätzten globalen Militärausgaben im Jahr 2020.
Sipri wies darauf hin, dass die Ausgaben trotz Pandemie gegenüber dem Vorjahr um 64 Milliarden Dollar gestiegen sind und einen Höchststand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1988 markieren.
Voraussetzung zwei: Der politische wie öffentliche Wille zur Lösung des Problems
Um Voraussetzung eins zu erfüllen, ist die Erfüllung von Voraussetzung zwei erforderlich. Die Pläne und Möglichkeiten zur Lösung des Hungerproblems sind vorhanden, die Finanzierung muss aber sichergestellt werden. Grundlage hierfür ist eine politische und öffentliche Bereitschaft, die entsprechenden Maßnahmen mitzutragen.
Solange Katastrophenmeldungen wie etwa, dass täglich über 6.600 Kinder unter fünf Jahren verhungern, für alltäglich genommen werden und ihren Status als berichtenswerte Nachricht verlieren, wird dieses fundamentale Problem politisch nur randständig betrachtet und ist im alltäglichen Bewusstseinshorizont der Menschen nicht existent.
Solange sich dies nicht ändert, ist kaum zu erwarten, dass sich ein ausreichend großes politisches Aktionspotential herausbildet, um den globalen Hunger entschieden zu bekämpfen. Das Beispiel Klimawandel hat gezeigt, dass signifikante Maßnahmen von politischen Entscheidungsträgern manchmal erst als ultimativ notwendig wahrgenommen werden, nachdem das Thema auch von den Medien immer wieder in den öffentlichen Diskurs eingebracht wird.
Mittlerweile haben Politiker, nicht zuletzt durch den hieraus erwachsenen öffentlichen Druck, keine andere Wahl, als sich mit dem Problem zu beschäftigen und Lösungsansätze zu erarbeiten.
Ähnliches gilt es nun für den globalen Hunger zu leisten. Auch dieses Thema müsste eine allgemeine Bekanntheit und Alltagspräsenz erhalten. Hiervon ist es, wie der Globale Süden allgemein, aber weit entfernt.
9 von 3.000 Beiträgen
In der reichweitenstärksten deutschsprachigen Nachrichtensendung, der Tagesschau, griffen im gesamten Jahr 2020 lediglich neun der insgesamt über 3.000 ausgestrahlten Beiträge das Thema Hunger auf. Zum Vergleich: Mit der Corona-Pandemie beschäftigten sich im selben Zeitraum fast 1.300 Beiträge.
Die Vernachlässigung des Themas hat leider Routine: Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werden die meisten Menschen in Deutschland die Kernreaktorkatastrophe von Fukushima kennen.
Auch die griechische Staatsschuldenkrise und der sogenannte Arabische Frühling dürften noch bekannt sein. Diese Themen dominierten die Auslandsberichterstattung im Jahr 2011.
Kaum bekannt dagegen ist, dass im selben Jahr infolge einer fehlenden Nahrungsmittelversorgung am Horn von Afrika in Somalia fast 260.000 Menschen verhungerten, unter denen die Hälfte Kinder unter fünf Jahren waren.
Das Ereignis, das der damalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres als "schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt" bezeichnete, gehört zu den vergessenen Katastrophen, die im kollektiven Gedächtnis des "Westens" nicht existent sind, weil hierüber in den Medien kaum berichtet wurde.