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Medien-Blackout: Wie die USA eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan herstellen

Kinder sind in Afghanistan besonders von Hunger und Unterernährung betroffen. Bild: US-Regierung / Public Domain

Mediensplitter (5): US-Regierung hat sieben Milliarden Dollar der afghanischen Zentralbank eingefroren, während Afghan:innen verhungern. Die Medien reagieren mit Wegschauen und gezielten Halbwahrheiten.

Ende letzter Woche konnte man folgende Schlagzeilen auch in deutschen Medien lesen: "Weitere US-Millionen für Afghanen [1]" oder "USA stellen 327 Millionen US-Dollar Hilfe für Afghanistan bereit [2]".

In den Artikeln erfährt man, dass die USA seit der Machtübernahme der Taliban 1,1 Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfe in der Region bereitgestellt haben. Die Tageszeitung Die Welt vermeldet zudem [3]:

US-Außenminister Antony Blinken forderte die internationale Gemeinschaft dazu auf, sich ihrerseits an Zusagen zu halten und die Menschen in Afghanistan zu unterstützen. Die USA bemühen sich, ihre Unterstützung über Hilfsorganisationen direkt dem afghanischen Volk zukommen zu lassen – also vorbei an der Regierung der Taliban, die sie nicht anerkennen.

Die Botschaft hinter der Meldung ist unmissverständlich: Die USA gehen voran, um die Menschen in Afghanistan, die unter der Herrschaft der Taliban leiden, unter die Arme zu greifen. Andere Länder sollten ihrem Vorbild folgen.

Das ist jedoch eine grobe Verzerrung der Realität. Denn die US-Administration ist tatsächlich mitverantwortlich dafür, dass Afghanistan seit dem Abzug der Truppen in eine humanitäre Krise, wenn nicht Katastrophe gerutscht ist, über die aber wenig in westlichen Medien berichtet wird.

Denn die Vereinigten Staaten halten seit über einem Jahr Rücklagen der afghanischen Zentralbank in Höhe von sieben Milliarden Dollar, die bei der US-Notenbank liegen, zurück. Die Biden-Administration hat diese Gelder eingefroren [4], während die Menschen in Afghanistan leiden.

Seit dem Abzug der US-Truppen warnen die Vereinten Nationen davor [5], dass 95 Prozent der Afghan:innen nicht genug zu essen bekommen. Sechs Millionen Menschen in Afghanistan sind von einer Hungersnot bedroht. Der Leiter der humanitären Hilfe der UN Martin Griffiths sagte Ende letzten Monats vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen [6]:

Fast 19 Millionen Menschen sind von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter sechs Millionen Menschen, die von einer Hungersnot bedroht sind. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung – etwa 24 Millionen Menschen – sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Und schätzungsweise drei Millionen Kinder sind akut unterernährt. Darunter sind über eine Million Kinder, die an der schwersten, lebensbedrohlichen Form der Unterernährung leiden. Ohne spezielle Behandlung könnten diese Kinder sterben.

Doch die Biden-Regierung hat die Forderung, endlich die sieben Milliarden Dollar der afghanischen Zentralbank freizugeben, um die Afghan:innen mit Essen und Medikamenten zu versorgen, zurückgewiesen [7]. Medea Benjamin, Mitbegründerin von Unfreeze Afghanistan sagt [8]:

Das Geld gehört dem afghanischen Volk. Und die USA haben 365 Tage lang ihr Geld in einem New Yorker Tresor aufbewahrt, während die Afghanen Gras kochen, um zu essen, ihre Nieren verkaufen und zusehen, wie ihre Kinder verhungern.

Shah Mehrabi Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses der afghanischen Zentralbank, sagte gegenüber Democracy Now [9], dass die Rückgabe der Gelder notwendig sei, um die Preisstabilität wiederherzustellen, sodass die Menschen in Afghanistan wieder über Bargeld verfügen und sich die grundlegenden Dinge leisten können.

Die USA haben schließlich nach Monaten von empörten Forderungen [10] von Wirtschaftswissenschaftlern und Menschenrechtsorganisationen jetzt angekündigt, die Hälfte des Geldes zur Einrichtung eines Fonds bei einer Schweizer Bank zu verwenden, um die kriselnde afghanische Wirtschaft zu stabilisieren. Das ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber es setzt den Diebstahl der Hälfte der afghanischen Gelder fort und behindert die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes, da die Zentralbank weiter nicht mit den nötigen Mitteln ausgestattet ist.

Kein Grund zur Empörung: Die US-Regierung klaut den hungernden Afghan:innen Milliarden

So sollen 3,5 Milliarden Dollar aus dem afghanischen Vermögen einbehalten werden [11], um Hinterbliebene von Opfern der Anschläge vom 11. September 2001, die gegen die Taliban klagen, zu entschädigen. Dagegen haben einige klagende Familien aber bereits Einspruch erhoben.

Das Center for Economic and Policy Research (CEPR) bezeichnete die Erklärung der Biden-Administration als "reines Täuschungsmanöver" und wies darauf hin, dass es sich bei den 3,5 Milliarden Dollar an afghanischen Geldern nicht um Gelder der Vereinigten Staaten handelt [12], die ausgezahlt werden müssen.

Um den Diebstahl der USA vor Kritik zu immunisieren, verweisen Medien immer wieder darauf, dass nach Angaben der Biden-Administration den Taliban mit der Verteilung der Gelder nicht vertraut werden könne. Daher halte man die Gelder zurück. Doch das Argument entspricht nicht den Tatsachen. Denn die Gelder der afghanischen Zentralbank sind gar nicht das Eigentum der afghanischen Regierung [13]. Sie kann sie daher nicht einfach für ihre eigenen Zwecke abziehen.

Die überwiegende Mehrheit – etwa 90 Prozent – der Guthaben der Bank gehören afghanischen Bürgern und Unternehmen [14]. Aus diesem Grund haben zahlreiche Einzelpersonen und Gruppen auf der ganzen Welt, darunter Menschenrechtsgruppen, Wirtschaftswissenschaftler und der UN-Generalsekretär, darauf gedrängt, die gesamten Gelder an die Zentralbank auszuzahlen.

Besonders empörend ist vor allem die Zweckbindung der Hälfte der Mittel für die Familien des 11. Septembers, die von einer Gruppe von Ökonomen, darunter Joseph Stiglitz, als "willkürlich und ungerechtfertigt" bezeichnet wurde [15]. Kelly Campbell, Mitbegründerin von 9/11 Families for Peaceful Tomorrows, erklärte gegenüber The Intercept:

Tatsache ist, dass es sich bei diesen Reserven um das Geld des afghanischen Volkes handelt. Die Vorstellung, dass sie am Rande einer Hungersnot stehen und dass wir ihr Geld für irgendeinen Zweck zurückhalten, ist einfach falsch. Die Afghanen sind nicht für den 11. September 2001 verantwortlich, sie sind Opfer des 11. September 2001, genauso wie unsere Familien. Ihnen ihr Geld wegzunehmen und zuzusehen, wie sie buchstäblich verhungern – ich kann mir nichts Traurigeres vorstellen.

Wie die Media Watch Group Fairness and Accuracy in Reporting (FAIR) herausgefunden hat, berichtete kein einziger TV-Sender in den USA über die Zweckentfremdung der Gelder durch die Biden-Regierung [16]. Die großen Zeitungen im Land wie die Los Angeles Times oder Chicago Tribune verwischen zudem die Verantwortung der US-Regierung für das Desaster in Afghanistan. In der New York Times wurde der "Terrorgruppe Taliban" die Schuld für die humanitäre Krise gegeben.

Auch in Deutschland, wo ebenfalls wenig über das Leiden der Afghan:innen seit dem Truppenabzug berichtet wird, bleibt Empörung über das Vorgehen der USA aus. So stellt Tagesschau-Online fest, dass rechtlich unklar sei [17], wem die Gelder gehören, da die USA die Taliban nicht als rechtmäßige Regierung anerkennen. Die US-Regierung wolle den Afghan:innen zudem direkt, ohne den Umweg über die Taliban helfen.

Gleichzeitig wird weggeschaut, wenn es um die Folgen der umfangreichen US-Sanktionspolitik gegen Afghanistan seit einem Jahr geht. Schon Mitte Dezember letzten Jahres warnte der Direktor des Center for Humanitarian Health an der renommierten Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, Paul Spiegel [18], nach einem fünfwöchigen Aufenthalt am Hindukusch sei er überzeugt:

Wenn die Vereinigten Staaten und andere westliche Regierungen ihre Sanktionspolitik gegenüber Afghanistan nicht ändern, werden mehr Afghanen an Sanktionen sterben als durch die Taliban.

Auch ist erstaunlich, dass dieselben Medien, die sich nach der Machtübernahme der Taliban in Artikeln zu Recht große Sorge machen um das Schicksal von Mädchen und Frauen in Afghanistan, die Kritik von afghanischen Frauen an der US-Politik "übersehen".

So sagte Jamila Afghani [19], Gründerin und Präsidentin der afghanischen Sektion der Women's International League for Peace and Freedom:

Wir unterstützen die afghanischen Frauen nicht, indem wir sie hungern lassen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7275767

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/us-hilfen-afghanistan-101.html
[2] https://www.handelsblatt.com/dpa/usa-stellen-327-millionen-us-dollar-hilfe-fuer-afghanistan-bereit/28703114.html
[3] https://www.welt.de/politik/ausland/article241240715/USA-stellen-327-Millionen-US-Dollar-Hilfe-fuer-Afghanistan-bereit.html
[4] https://www.reuters.com/markets/funds/afghan-central-bank-says-us-plan-frozen-funds-an-injustice-2022-02-12/
[5] https://www.democracynow.org/2022/8/17/biden_afghanistan_foreign_assets_taliban_economic
[6] https://www.democracynow.org/2022/8/31/headlines/6_million_afghans_at_risk_of_famine
[7] https://www.democracynow.org/2022/8/17/biden_afghanistan_foreign_assets_taliban_economic
[8] https://www.democracynow.org/2022/8/17/biden_afghanistan_foreign_assets_taliban_economic
[9] https://www.democracynow.org/2022/8/17/biden_afghanistan_foreign_assets_taliban_economic
[10] https://www.afsc.org/sites/default/files/documents/Afghanistan%20Asset%20Freeze%20CSO%20Letter%20.pdf
[11] https://www.commondreams.org/news/2022/09/15/us-announces-fund-benefit-afghan-economy-using-stolen-afghan-bank-reserves
[12] https://twitter.com/ceprdc/status/1570203487786369032?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1570203487786369032%7Ctwgr%5E947663b1605afc52fde20036e7339d0e8b4704dc%7Ctwcon%5Es1_&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.commondreams.org%2Fnews%2F2022%2F09%2F15%2Fus-announces-fund-benefit-afghan-economy-using-stolen-afghan-bank-reserves
[13] https://cepr.net/the-us-response-to-the-worlds-worst-humanitarian-crisis-seize-and-privatize/
[14] https://www.commondreams.org/views/2022/09/21/media-offers-little-critique-over-bidens-seizure-afghan-funds
[15] https://www.commondreams.org/views/2022/09/21/media-offers-little-critique-over-bidens-seizure-afghan-funds
[16] https://fair.org/home/bidens-afghan-shell-game-prompts-media-shrugs-and-stenography/
[17] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/biden-usa-afghanistan-103.html
[18] https://www.infosperber.ch/politik/welt/us-sanktionen-verschaerfen-die-bittere-not-in-afghanistan/
[19] https://www.commondreams.org/views/2022/09/21/media-offers-little-critique-over-bidens-seizure-afghan-funds