Medien: Wann wird ein Krieg "nachrichtenrelevant"?
Westliche Interessen und menschliches Leid in Kriegen – wenn eine Ohrfeige bei einer Preisverleihung wichtiger wird als ein Bürgerkrieg. Wie sich Berichterstattung ausrichtet.
Aktuell wird über die militärischen Auseinandersetzungen mit den Huthi-Rebellen im Jemen berichtet. In den Nachrichten spielte das Land vor den Angriffen auf Handelsschiffe, die das Rote Meer durchquerten, aber kaum eine Rolle und das, obwohl die Vereinten Nationen die Lage im Jemen seit Jahren als "schlimmste humanitäre Krise weltweit" bezeichnet haben.
Zahlreiche Kriege und Katastrophen, die sich im Globalen Süden ereignen, finden abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit statt. Woran liegt das?
Angriffe im Roten Meer zeigen selektive Wahrnehmung
Seit den letztlich gegen Israel gerichteten Angriffen der Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe im Roten Meer und den militärischen Gegenaktionen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten findet der Jemen eine gewisse Beachtung.
Das ist erschreckend. Erschreckend ist nicht, dass der Jemen nun in den Nachrichten auftaucht, sondern, dass dies erst jetzt nach der Gefährdung von politischen und ökonomischen Interessen des Westens geschieht.
Fast könnte man meinen, dass vorher im Land an der Südspitze der arabischen Halbinsel nichts Berichtenswertes geschehen wäre. Vergeblich durchsucht man die Nachrichtendatenbanken vor 2024 nach dem Jemen. Außer einzelnen verstreuten Berichten wird man kaum fündig.
Ein Land in Trümmern
Dabei herrscht im Jemen seit 2015, also seit mittlerweile neun Jahren, ein Bürgerkrieg zwischen der von Saudi-Arabien unterstützten jemenitischen Regierung und den Iran nahestehenden Huthi-Rebellen. Die Ursprünge der militärischen Auseinandersetzungen im Jemen reichen aber weiter zurück.
Zwei Jahrzehnte Krieg seit dem Aufstand der Huthi gegen die Regierung im Jahr 2004 haben das Land in Trümmer gelegt. 2017 wurde der Jemen von der größten jemals gemessenen Choleraepidemie heimgesucht, Schätzungen zufolge starben infolge des Bürgerkriegs alleine bis Ende 2021 ca. 377.000 Menschen.
Bis heute sind laut Unicef drei Viertel der Bevölkerung auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Über eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren sind lebensbedrohlich mangelernährt. Die Vereinten Nationen stuften die Lage im Jemen seit Jahren als "schlimmste humanitäre Krise weltweit" ein.
Nachrichten mit beschränktem Horizont
Offensichtlich haben das Leid und die humanitäre Katastrophe im Land aber nicht ausgereicht, um medial ernsthaft thematisiert zu werden. Der Jemen kam, das zeigt eine vor der Veröffentlichung stehende Untersuchung des Autors dieses Beitrags, in den Nachrichten praktisch nicht vor.
Das gilt für führende in- und ausländische Nachrichtensendungen wie die deutsche und Schweizer Tagesschau, die österreichische Zeit im Bild (ZIB) 1 oder die US-amerikanischen ABC World News Tonight. Das gilt aber auch für die wichtigsten politischen Talkshows und praktisch alle führenden Printmedien.
Insgesamt wurden in der Untersuchung, in deren Zentrum die mediale Vernachlässigung des Globalen Hungers steht, mehr als 40 Medien ausgewertet und – mit Ausnahme des ARTE Journal und der taz – gilt für alle, dass der Jemen in der Berichterstattung der vergangenen Jahre praktisch keine Rolle spielte.
Liste der medial vernachlässigten Krisen, Kriege und Katastrophen
Leider stellt der Jemen keine Ausnahme dar. Als "tödlichster Krieg des 21. Jahrhunderts" gilt der Bürgerkrieg in der nordäthiopischen Region Tigray, in den auch Eritrea verwickelt war und der zwischen 2020 und 2022 schätzungsweise bis zu 600.000 Menschenleben forderte. In den Nachrichten wurde hierüber aber wie über die dokumentierten Kriegsverbrechen kaum berichtet.
Amnesty International konstatierte schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen und bemängelte das Desinteresse der Internationalen Gemeinschaft.
Zu den vergessenen militärischen Konflikten gehören auch die Kämpfe in Myanmar zwischen Rebellen und der antidemokratischen Militärjunta sowie der Krieg im Sudan, wo Schätzungen zufolge über sechs Millionen Menschen auf der Flucht sind und eine Hungersnot droht.
Dass in Haiti, dessen Hauptstadt Port-au-Prince zu etwa 80 Prozent von rivalisierenden Banden beherrscht wird, im vergangenen Jahr ca. 4.000 Menschen ermordet wurden, dürften wohl ebenso nur die aufmerksamsten Nachrichtenzuschauer oder -leser mitbekommen haben.
Volker Türk, dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte zufolge baumelt Haiti wirtschaftlich und politisch über einem Abgrund. Er verwies auf die humanitäre Krise im Land und forderte den Einsatz internationaler Sicherheitskräfte, um die Situation zu stabilisieren.
Die Liste der medial vernachlässigten Krisen, Kriege und Katastrophen ließe sich leicht verlängern. Die Hilfsorganisation Care hat im Januar 2024 einen Bericht mit den zehn am stärksten vernachlässigten Krisengebieten veröffentlicht, die alle in Afrika liegen.
Auswertung der Tagesschau
Über Jahre hinweg durchgeführte Langzeituntersuchungen des Autors, zu denen beispielsweise die Auswertung von ca. 6.000 Ausgaben der Tagesschau gehören, zeigen, dass der Globale Süden in den Nachrichten allgemein eine sehr untergeordnete Rolle spielt (Abb. 2).
Dies zeigt sich insbesondere auch im direkten Vergleich der Berichterstattung über ausgewählte Länder im Globalen Norden und Globalen Süden in der Tagesschau im Jahr 2023 (Abb. 3).
Im Durchschnitt beschäftigen sich Nachrichtenmedien in lediglich etwa zehn Prozent ihrer Sendezeit oder Beitragsseiten mit den Ländern des Globalen Südens, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt.
Im vergangenen Jahr 2023 waren es in der Tagesschau insgesamt 15 Prozent, was, wie eine genauere geografische Aufschlüsselung zeigt, auf den Krieg in Israel und Gaza in der Mena (Middle East North Africa)-Region zurückzuführen ist (Abb. 4).
Was ausschlaggebend ist
Es scheint also, dass hinsichtlich der Frage, ob über einen Krieg berichtet wird oder nicht, ausschlaggebend ist, ob ein Staat des Globalen Nordens an diesem beteiligt ist.
Kriege ohne unmittelbare Auswirkungen auf den Globalen Norden, seien sie aus humanitären Gesichtspunkten auch noch so tragisch, werden in der Regel in den Nachrichten nur äußerst peripher registriert.
Das verdeutlicht auch eine vergleichende Analyse der Tagesschau als reichweitenstärkste deutschsprachige Nachrichtensendung. In den vergangenen Jahren tauchten die "schlimmste humanitäre Krise weltweit" (Jemen) und der "tödlichste Krieg des 21. Jahrhunderts" (Tigray) in den Nachrichten fast gar nicht auf.
Mehr Sendezeit für Sport
Die für beide Krisenregionen aufgebrachte Sendezeit erscheint verschwindend gering im Vergleich zu derjenigen, die für Themen des Globalen Nordens zur Verfügung stand (2020-2022 zum Beispiel nicht einmal ein Prozent der Sendezeit für das Topthema des Jahres; Abb. 5). In dieser Hinsicht sind die Ergebnisse der Tagesschau repräsentativ für die meisten deutschsprachigen Medien.
Die Marginalisierung von Themen des Globalen Südens, die keine Interessenfelder des Globalen Nordens zu berühren scheinen, hat Routine und gehört zu den Konstanten der Berichterstattung der wichtigsten deutschsprachigen Medien.
In der Tagesschau beispielsweise wurde in der ersten Jahreshälfte 2022 dem Sport mehr Sendezeit eingeräumt als allen Ländern des Globalen Südens zusammen.
Wenn eine Ohrfeige wichtiger wird als Kriege
In der österreichischen ZIB 1 wurde 2022 umfangreicher über die britische Königsfamilie berichtet als über den Globalen Hunger, obwohl die Zahl der Hungernden, wie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nation deutlich machte, gegenüber der Vorpandemiezeit um ca. 150 Millionen Menschen zugenommen hatte.
In der Schweizer Tagesschau war die Berichterstattung über die Ohrfeige, die der Schauspieler Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab, umfangreicher als über die Bürgerkriege im Jemen und Tigray zusammengerechnet.
Bezeichnend ist, dass die deutsche Tagesschau bereits jetzt in den beiden Monaten um den Jahreswechsel 2024 quantitativ umfangreicher über die Angriffe der Huthi auf Handelsschiffe im Roten Meer sowie die hieraus resultierenden wirtschaftlichen Auswirkungen und die nun erfolgten Luftschläge der USA berichtet hat als über die humanitäre Lage der Menschen im Jemen in den fünf vorhergehenden Jahren zusammen.
Der Bürgerkrieg und die humanitäre Katastrophe im Jemen haben bereits vor den Angriffen der Huthi auf die Handelsschiffe stattgefunden. Wie ist es zu erklären, dass Ereignisse um den Jemen auf einmal "berichtenswert" geworden sind?
Das mediale Desinteresse wird zum Interesse
Sind das Land bzw. die Region als Nachrichtenthema nun relevanter geworden, weil die ökonomischen und politischen Interessen des "Westens" betroffen sind?
Ist der Jemen aktuell in den Nachrichten, weil der "Westen" in Form der USA und ihrer Verbündeten militärisch aktiv geworden ist?
Unverblümt und ganz direkt gefragt: Ist der Jemen auf einmal "nachrichtenrelevant" geworden, weil sich unter den Betroffenen und Opfern nicht "nur" Jemeniten befinden?
Am Beispiel Jemen zeigt sich ein viel größeres allgemeines Problem der Berichterstattung. Pointiert gesagt: Berichtet wird anscheinend erst, wenn Menschen oder Interessen des Globalen Nordens in irgendeiner Form betroffen sind.
Es ist erschreckend, an einem konkreten und ganz realen Beispiel festzustellen, dass humanitäre Katastrophen und menschliches Leid ganz offensichtlich alleine nicht ausreichen, um in den Nachrichten wahrgenommen zu werden, wenn die betroffenen Gebiete im Globalen Süden liegen.
Wie sonst ist das mediale Desinteresse am "tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts" und der "schlimmsten humanitären Krise weltweit" zu erklären?
Der Jemen ist aktuell bis zu einem gewissen Grad in den Nachrichten. Es stellt sich die Frage, wie lange das so sein wird und ob die Berichte bleiben, wenn die Handelsrouten durch das Rote Meer wieder sicherer geworden sind.
Der Bürgerkrieg, der Hunger und das Sterben im Jemen werden, so ist vor dem Hintergrund der vergangenen Jahre zu befürchten, auf jeden Fall bleiben.
Die der vorliegenden Untersuchung vorausgehende Ausgangsstudie "Vergessene Welten und blinde Flecken" sowie verschiedene Ergänzungsanalysen zu deutschsprachigen Medien, können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de.
Auf der Seite finden sich auch Videozusammenfassungen, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Wanderausstellung.
Die wichtigsten Ergebnisse sind auch auf den Seiten des "European Journalism Observatory" (EJO) einsehbar.