Medien als Moralapostel: Wer bestimmt, wer sprechen darf?

KI-generierte Illustration: Zwei gesichtslose Figuren ohne jede Indvidualität auf einer Bühne, die von Scheinwerfern bestraht wird, vor einem Publikum ohne Gesichter, ohne individuelle Kenntlichkeit

KI-generierte Illustration

Medien diskutieren, wem sie eine Bühne bieten sollten. Kritiker warnen vor Populisten. Doch wer entscheidet, wer sprechen darf? Die Antwort ist nicht einfach.

Die aufgeregte Diskussion über eine Debatte zwischen Alice Weidel (AfD) und Sahra Wagenknecht (BSW) bei der Welt vom 9. Oktober hielt auch vergangene Woche an. Sie wurde in den Wettbewerbsmedien weiter intensiv besprochen.

Das liegt nicht zuletzt an der grundsätzlichen Frage, die bei den Analysen und Kommentaren nicht fehlen durfte: Ob es solche Sendungen überhaupt geben sollte?

Populisten Raum geben?

Journalisten kritisieren oft, wenn Kollegen vermeintlichen Populisten Raum geben, ihre Positionen darzulegen. Unnötig sei dies, Werbung für eine schlechte Sache, ja brandgefährlich.

Das Grundproblem von Formaten wie diesen bleibt: Wenn Politikerinnen aufeinandertreffen, die populistische Methoden anwenden, fehlt es den Zuschauerinnen und Zuschauern an Orientierung.

Spiegel

Persönlicher und noch deutlicher fällt ein Kommentar in der Frankfurter Rundschau aus:

Gescheitert auf der ganzen Linie ist indes der Mann im Studio. Man möchte Chefredakteur Philipp Burgard nicht unterstellen, dass er sich dachte, zwei Frauen im Gespräch, das moderiert sich ja von alleine weg. Aber Tatsache bleibt doch, dass er von Anfang an, nun ja, beträchtlich überfordert war.

Christine Dankbar

Gefordert wird, wie immer in solchen Zusammenhängen, ein sofortiger Fakten-Check, wenn man denn als Populisten ausgemachte Menschen überhaupt zu Wort kommen lassen sollte.

Samira El Ouassil befand schon vor vier Jahren: "Sommerinterviews mit der AfD sind kommunikative Bräunungsverstärker".

Es gibt eine demokratische Pflicht eines öffentlich-rechtlichen Senders, die noch wichtiger ist, als alle antidemokratischen Positionen der journalistischen Vollständigkeit halber abzubilden: der Kampf gegen Rechtsextremismus.

Samira El Ouassil, 2020 auf Übermedien

Wie der konkret und journalistisch korrekt aussehen sollte?

Kritisches Betrachten, faktisches Abbilden, demontierendes Interviewen, satirische Aufarbeitung oder, mein Favorit, aktives Deplatforming, also die Bühne entziehen, wahrnehmendes Ignorieren, um sie nicht größer zu machen, als sie sind, sind die einzig validen Formen, mit Rechtextremisten medial umzugehen.

Samira El Ouassil

Kein Erkenntnisgewinn?

"Wahrnehmendes Ignorieren" hat denn auch im aktuellen Falle Übermedien versucht – und eine Kritik zur Sendung veröffentlicht. Autor und Mit-Gesellschafter Boris Rosenkranz betrachtet nicht nur das "Duell" an sich, sondern das gesamte Setting mit Vor- und Nachberichterstattung. Sein Fazit:

Der Erkenntniswert der ganzen Aufführung war so schmal wie die Ritze im Doppelbett einer politischen Zwangsehe. (Hust.)

Boris Rosenkranz

Abgesehen vom Problem, "Erkenntnisgewinn" in der Summe aller Rezipienten zu messen (anstatt nur bei sich selbst zu schauen): Sollte dies ein brauchbarer Filter sein, um auszusortieren, was nicht in den Journalismus gehört, dürfte die Nachrichtenflut spürbar zurückgehen.

Und man müsste sich auch fragen, warum aus einem Streitgespräch selbst weniger Erkenntnis zu gewinnen sein soll als aus den vielen Nachbetrachtungen dazu (bei denen selbst Verballhornungen wie "Weidelknecht" nicht fehlen).

Zumal nicht wenige Rezensenten betonen, bei der Welt handele es sich um einen "Nischensender" (Zeit, taz, MDR).

Diskussion ohne Anlass?

Ebenso wäre der Vorwurf, das Streitgespräche habe "anlasslos" (MDR, Übermedien) stattgefunden, weil gerade keine Wahl anstehe, auf seine Tauglichkeit zu mustern.

Politische Meinungsbildung über Grundsatzfragen nur zu Wahlkampfzeiten? Kein Artikel, keine Sendung mehr ohne Zertifikat für unabhängig geprüften Anlass?

Mit wem müssen, sollen oder dürfen Medien, wann sprechen?

Ein Interview mit dem russischen Botschafter in Berlin

Darüber haben jüngst drei Journalisten beim Deutschlandfunk diskutiert, im Podcast "Nach Redaktionsschluss". Dafür immerhin gab es einen "Anlass", wenn ihn auch der Sender selbst geschaffen hatte, nämlich ein Interview mit dem russischen Botschafter in Berlin, das Moritz Küpper geführt hatte.

Küpper meint, man könnte als Journalist "mit fast jeder Person" ein Interview führen und die Zuhörer sich ihre eigene Meinung bilden lassen.

Dessen Kollegin Christiane Florin hingegen findet an einem Interview mit dem russischen Botschafter Sergej Netschajew, zumal an dessen Dienstsitz geführt, alles ungewöhnlich – und offenbar auch unmöglich. Schließlich habe Küpper mit dem Vertreter eines Landes gesprochen, "von dem glaube ich nur noch Gerhard Schröder behauptet, es ist eine lupenreine Demokratie".

Auch Küpper selbst hält sein Interview für sehr ungewöhnlich. Deshalb habe er auch, ganz anders als sonst, in diesem Falle vorab die Abteilungsleitung, die Chefredaktion und die Programmdirektion informiert.

Interview als Staatsakt?

Und er frage sich selbst, ob er noch konfrontativer sein hätte und einen Abbruch des Gesprächs hätte in Kauf nehmen sollen, den ihm der Botschafter schon angedroht hatte, weil dieser sich mehrfach unterbrochen fühlte.

Küpper wisse von Kollegen, die es bewusst auf einen solchen Knall ankommen lassen (was dann nicht selten zur eigentlichen Story wird).

Eine relevante Stimme sei ein russischer Botschafter schon, meint Christiane Florin. Aber man hätte dessen Falschbehauptungen nicht senden dürfen. Als Beispiel wird im Podcast folgende Aussage Netschajews eingespielt:

Eskalation konnte verhindert werden noch vor einigen Jahren. Und das waren nicht wir, die Friedensverhandlungen abgebrochen haben bzw. verboten haben dem Kiewer-Regime, die schon fertigen Papiere zu unterzeichnen. (...) Ich meine Istanbul, natürlich, Frühjahr 22, das Papier, das von der Ukraine stammt.

Sergej Netschajew im Interview mit dem Deutschlandfunk

Die Einordnung sei dann erst in einer anderen Sendung erfolgt, kritisiert Florin.

Mit falschen Tatsachenbehauptungen müssen Journalisten in jedem Gespräch rechnen, und wer aufmerksam hinhört, findet sie daher auch in nicht unter Populismus-Verdacht stehenden Aussagen, auch beim Deutschlandfunk.

Halbe Wahrheiten allgegenwärtig

Wer immer für oder gegen eine Sache argumentiert, insbesondere als dafür bezahlter Öffentlichkeitsarbeiter, wird geneigt sein auszulassen, was nicht in die eigene Erzählung passt. Dabei kann dann schon mal die Wahrheit unter die Räder kommen, auch ohne die Intention, absichtlich Unwahres zu sagen.

Viele Argumente gegen Interviews mit bestimmten Personen erwecken nicht den Eindruck, es gehe in erster Linie um die Begrenzung von Desinformation, sondern vielmehr darum, bestimmte Meinungen oder Sichtweisen auszublenden.

Täter befragen?

So schrieb Frederik von Castell zur Medienresonanz auf eine "Hundekot-Attacke" seinerzeit:

Natürlich gehört es zum Mediengeschäft, das Opfer (..) anzuhören. Sie sollte ihrem Ärger Luft machen dürfen, ihr Erleben schildern. Ob man auch dem Täter (...) ebenfalls eine Bühne hätte geben sollen, ist fraglich.

Frederik von Castell, Übermedien

Es ist ein merkwürdiger Ansatz für Journalismus, von bestimmten Menschen gar nicht erfahren zu wollen, warum sie etwas getan oder gelassen haben, warum sie für oder gegen etwas eintreten.

Ein Interviewer muss sich nicht rechtfertigen mit dem Spruch: "man darf ja wohl noch fragen". Vielmehr sollte es heißen: Fragen wird man wohl noch müssen.

Dass eine Antwort auf eine solche Frage noch nicht das Ende der Berichterstattung sein muss, versteht sich von selbst, allein schon wegen des Gebots der Perspektivenvielfalt.

Aber wer Erkenntnisinteresse hat, im guten Sinne neugierig ist, der wird immer auch das Gespräch mit Protagonisten der Berichterstattung suchen. Und wer als Journalist daraus etwas folgern möchte, wer Einordnung leisten will, muss zunächst dieses Gespräch öffentlich machen.

Auch mit den vielen Nachberichten und Analysen der Diskussionsrunde mit Sahra Wagenknecht, Alice Weidel und Philipp Burgard kann man wohl nur etwas anfange, wenn man das Original gehört und ggf. gesehen hat.

Duelle ohne Gewinner?

Die Wertung, welche der beiden Politikerinnen das "Duell" gewonnen habe, fällt zwar laut Welt in der Presse einhellig aus.

Doch sollte es darum in einem öffentlichen Streitgespräch gar nicht gehen. Im besten Falle ist es keine Show, deren Performance am Ende bepunktet wird. Und schon gar nicht sollte es darum gehen, am Ende nur einen (politisch) Überlebenden zu haben.

Sondern es sollte möglich sein, als Mediennutzer um ein paar Gedanken reicher zu sein, auch ohne irgendeine Grundüberzeugung mit einem Mal über Bord geworfen zu haben.

Apropos Performance: Während Christine Dankbar den Moderator des Disputs also auf ganzer Linie gescheitert sieht, lesen wir beim Focus:

Dem Mini-Sender Welt-TV gelingt immerhin das spannendste Politikformat – und das ist ein Verdienst des Moderators.

Josef Seitz, Focus