Medienstaatsvertrag: Klein-Klein statt großer Wurf
Aufstehen Leipzig hat in einem Positionspapier zusammengefasst, was Medienkritiker im Moment umtreibt, während die Medienpolitik dabei ist, einen Elfmeter zu verschießen
Der neue Medienstaatsvertrag. Wir sind beim zweiten Entwurf und haben zwei Runden hinter uns, in denen alle mitdiskutieren konnten. Online, per Kontaktformular. Ein Novum, ja, und grundsätzlich gut. Allein in Runde eins gab es 1200 Vorschläge. Was genau ist Rundfunk, was passiert mit den Plattformen, braucht mein Blog künftig eine Lizenz? Das bewegt alle, die im Netz Geld verdienen oder hier das finden, was sie in den traditionellen Medien vergeblich suchen.
Nun ist Runde zwei vorbei (Einsendeschluss war am 9. August) und von Ruhe keine Spur. Ein Symptom: Die Themengruppe "Medien und Journalismus" von Aufstehen Leipzig hat ihre Stellungnahme zum Staatsvertrag in einem offenen Brief an Michael Kretschmer geschickt. Herr Ministerpräsident, bitte nicht unterschreiben. Sie, sehr geehrter Herr Kretschmer, wissen doch inzwischen selbst, "dass Medien nicht neutral agieren" und zum Beispiel "Spannungen" zwischen Ost und West anheizen. Das Gespräch mit Putin, die Sanktionen gegen Russland.
In diesem Brief geht es dann vor allem um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der Programmauftrag nicht eingehalten, das Fehlen von Objektivität, Unparteilichkeit, Meinungsvielfalt und Ausgewogenheit als Ursache für "die Unzufriedenheit vieler Bürger mit den Medien". Der Forderungskatalog der Leipziger Gruppe spiegelt das, was auch anderswo diskutiert wird: "eine unabhängige Instanz zur Qualitätskontrolle", Publikumsräte (bestimmt per Los, "um Seilschaften zu verhindern"), öffentliche Mittel für "alternative Print- und Telemedien" (hier: zwei Prozent der Einnahmen aus dem Rundfunkbeitrag), dazu die Arbeitsverträge im öffentlich-rechtlichen Rundfunk um einen "Passus" ergänzen, der den Damen und Herren ausdrücklich erlaubt, sich auf den Programmauftrag zu berufen.
Wer etwas älter ist und im Westen gelebt hat, wird sich an die Debatte um die "innere Pressefreiheit" erinnern. Die späten 1960er und frühen 1970er. Springer, Pressekonzentration, Redaktionsstatute. Gab es alles schon und gibt es zum Teil noch. Nur: Damit so ein "Passus" greift, muss es erst einmal Arbeitsverträge geben. In der öffentlich-rechtlichen Realität dominieren Outsourcing und unsichere Beschäftigungsverhältnisse. Produktionsfirmen (selbst bei zentralen Programmbestandteilen), Zeitverträge, Freiberufler. Auf diesem Weg ist nicht nur Expertise aus den Häusern verschwunden, sondern auch ein Teil der Streitkultur, von dem der öffentlich-rechtliche Mythos lange gezehrt hat.
Aber wie gesagt: Gegen das, was Michael Kretschmer da vertreten soll (wenn er das denn nach der Landtagswahl am 1. September noch darf), ist nicht viel einzuwenden. Wenn er die Zeit haben sollte und das Positionspapier der "Themengruppe Medien und Journalismus" von Aufstehen Leipzig liest (sozusagen die Basis des offenen Briefes), dann findet er all das, was Medienkritiker im Moment umtreibt.
Die "Einschränkung des Debattenraumes" (hier illustriert über "das Vorgehen der israelischen Regierung gegen die Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten"), "doppelte Beurteilungsstandards" und das "Transatlantik-Netzwerk", der Einheitsbrei in den Nachrichten und der Umgang mit Programmbeschwerden - immer wieder dokumentiert zum Beispiel von Maren Müller, die die "Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien" fast als Einzelkämpferin betreibt, oder in den Büchern von Uwe Krüger (die Neuauflage von "Meinungsmacht" ist gerade erschienen).
Der Punkt ist: Um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht es im neuen Medienstaatsvertrag eigentlich gar nicht
Dieses Gesetz sollte ein Durchbruch werden - aus der alten Welt der Rundfunkregulierung hinein in den Mediendschungel des 21. Jahrhunderts. Schon vor knapp fünf Jahren (am 11. Dezember 2014) haben Angela Merkel und die Ministerpräsidentengarde eine Bund-Länder-Kommission beschlossen, die zusammenführt, was zwar draußen im Leben längst zusammengehört, aber nicht in der Welt der Gesetzgebung.
Das ist der Elfmeter, von dem oben die Rede war. Die Chance, endlich die großen Fragen zu lösen. Wie gehen wir mit Plattformen um und wie mit Suchmaschinen? Wie wollen wir die öffentliche Meinungs- und Willensbildung organisieren? Wollen wir diesen Kern der Demokratie tatsächlich (weiter) vor allem Unternehmen überlassen, die bei Strafe ihres Untergangs dazu verdammt sind, ihren Gewinn zu maximieren? Und wenn wir schon nicht über Enteignungen im öffentlichen Interesse nachdenken (wollen): Wie gestalten wir dann den Teil des Angebots, den wir über Rundfunkbeiträge selbst bezahlen (müssen)?
Was lange dauert, wird nicht immer gut. Der große Wurf hat zwar einen neuen Namen (Medien- statt Rundfunkstaatsvertrag), schreibt aber schon rein optisch nur das fort, was wir bisher hatten. Das hat jeder gemerkt, der sich an der öffentlichen Diskussion der beiden Entwürfe beteiligen wollte. Links die alten Paragrafen, rechts ein paar Zusätze und Streichungen. Und nun kommentiert das bitte. Schon diese Form hat dazu geführt, dass sich die Debatte um Details drehte. Um Onlinespiele etwa oder um die latente Drohung, auch Alternativkanäle wie Telepolis zu regulieren (über das Konzept der "rundfunkähnlichen Telemedien"). Selbst wenn das nicht im Sinne der Staatskanzleien sein sollte: Man weiß nie, wer hierzulande eines Tages noch regieren wird. Also besser gar nicht erst die Instrumente schaffen, die andere irgendwann missbrauchen könnten.
Was mindestens genauso wichtig wäre, wird im Positionspapier aus Leipzig immerhin angedeutet, auch wenn dann nicht alles in den offenen Brief an Michael Kretschmer übernommen wurde. Medienkonzentration. Ein öffentlicher Diskurs, der mehr und mehr so funktioniert, wie das die Logiken von Google, WhatsApp und Co. vorgeben, ohne dass der Einfluss solcher "Intermediäre" (so heißt das im Medienstaatsvertrag) auf die Meinungs- und Willensbildung bisher angemessen untersucht wird (von Regulierung ganz zu schweigen) und ohne dass Regeln in Sicht wären, die verhindern, dass das, was aus öffentlichen Mitteln finanziert wird (Rundfunkbeiträge), den Profit von US-Konzernen mehrt.
Warum müssen etwa die Reportagen vom Y-Kollektiv, die sonst all das bedienen, was Medienqualität ausmacht (Transparenz, Relevanz, Originalität, Perspektivenvielfalt), auf YouTube laufen? Warum gibt es nicht längst eine öffentlich-rechtliche Plattform, die leicht und für immer alles zugänglich macht, was wir ohnehin schon bezahlt haben?
Man sieht: Die Materie ist komplex. Wir brauchen mehr offene Briefe an die Ministerpräsidenten und weiter staatliche Portale, um Gesetzentwürfe zu verbessern. Die Ideen sind da, auch für ein Mediensystem, das jenseits ökonomischer Verwertungslogiken funktioniert - zu finden zum Beispiel in Experteninterviews, die im Sommersemester bei mir an der LMU gelaufen sind. Heiko Hilker, seit mehr als zwei Jahrzehnten MDR-Rundfunkrat und einer der profiliertesten Medienpolitiker im Land, schlägt dort vor, den Begriff "duales System" ganz neu zu denken. Nicht mehr Beiträge vs. Werbung, sondern Daten vs. Nicht-Daten. Anbieter, die mit unseren Daten machen können, was sie wollen, und Anbieter, die genau das nicht dürfen. Das führt weit hinaus über den engen Bereich des Medienrechts. In den "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert" von Yuval Noah Harari ist der Datenbesitz eine der Kernfragen für die Zukunft.
Wer es eine Nummer kleiner möchte: Man könnte auch mit der öffentlich-rechtlichen Säule anfangen, im Hier und Jetzt. Werbung, kommerzielles Denken (Einschaltquoten), Parteipolitik. Ich weiß: Das verlangt viel von Menschen wie Michael Kretschmer. Den Einfluss aufgeben, der sich aus der Mediengesetzgebung speist, und das auch noch selbst anstoßen. Die Geschichte des Rundfunkstaatsvertrags lehrt aber: Die nächste Novelle ist nicht weit. Vielleicht pfeift der Schiedsrichter ja bald wieder Elfmeter.
Michael Meyen ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der LMU München.
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