Medizingeschichte nacherlebt: Wer war Peter Plett?
Gedenktafel für Peter Plett in Stakendorf. Foto: Karsten Johnsen
Nicht Edward Jenner hat 1796 die erste Kuhpockenimpfung durchgeführt, sondern ein junger Lehrer in der holsteinischen Probstei fünf Jahre zuvor
In Zeiten der gegenwärtigen Krise gehören historische Texte, insbesondere über die Geschichte der großen Seuchen, zu den großen Gewinnern, schrieb die Neue Zürcher Zeitung am 26. Februar in ihrem Feuilleton und fragte, was solche Texte über die reine Unterhaltung hinaus bieten können.
Meine Antwort ist, dass Texte wie dieser die Leserinnen und Leser näher bekannt machen können mit einer der größten Errungenschaften der Medizin der letzten Jahrhunderte, der Prävention gegen schwere Krankheiten durch eine aktive Immunisierung mittels Impfung. Diese Maßnahmen haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich bei uns die durchschnittliche Lebenserwartung seit dieser Zeit etwa verdoppelt hat. Mein Wunsch wäre außerdem, dass solche Informationen mit dazu beitragen könnten, grundsätzliche Vorbehalte gegen das Impfen in Frage zu stellen.
Auf Peter Plett bin ich zum ersten Mal 1985 zu Beginn meiner Tätigkeit in der Ostseeklinik Schönberg-Holm gestoßen. Bei einer Radwanderung mit einer Patientengruppe durch die Probstei kamen wir durch Stakendorf, einem kleinen Ort, der etwa zehn Kilometer von unserer Klinik entfernt lag.
Mitten in diesem Dorf stießen wir auf einen großen Feldstein, auf dem eingraviert war: Peter Plett (1766 -1823). Dieser Name war mir und all meinen MitarbeiterInnen in der Klinik bis dahin völlig unbekannt gewesen.
So konnte ich über Peter Plett zunächst nichts in Erfahrung bringen. Das Internet gab es damals ja noch nicht. Nach einiger Zeit der Recherche in der Universitätsbibliothek stieß ich jedoch auf einen Artikel in der Zeitschrift Die Medizinische aus dem Jahre 1953, der das Rätsel löste und mich zugleich in großes Erstaunen versetzte. Weitere Einzelheiten über das Leben von Peter Plett waren einem Aufsatz von J. Mitschke aus Schönberg zu entnehmen, der 1975 in den Blättern für Heimatkunde erschienen war.
Peter Plett, ein Vorläufer Edward Jenners
Peter Plett wurde am 29.12.1766 in Klein Rheide in Kirchspiel Kropp bei Schleswig geboren. Als junger Mann war er zunächst auf verschiedenen Höfen und Gütern in der Probstei als Hauslehrer tätig. Ihm fiel auf, dass Personen, die mit dem Melken der Kühe befasst waren, zumeist nicht von Menschenpocken befallen wurden.
Das war auch den Melkern bekannt. Einige MelkerInnen haben damals ganz bewusst Kühe gemolken, wenn diese die Kuhpocken hatten. Sie steckten sich damit an, überwanden diese Krankheit innerhalb von zwei Wochen ohne wesentliche Komplikationen und wurden dann nicht von den gefährlichen Menschenpocken, den "schwarzen Blattern" befallen. Darüber hinaus hatte Peter Plett in der nahegelegenen Stadt Preetz offensichtlich auch an einer dort praktizierten Impfung mit Material von Menschenpocken beigewohnt und sich die Technik gemerkt.
1791 wechselte er seine Stelle und wurde Hauslehrer bei dem Gutpächter Martini aus Hesselburg im Gute Wittenberg bei Schönberg. Hier unternahm er Versuche an zwei Töchtern und einem Sohn des Gutpächters.
Er nahm mit einem Holzspahn von dem Euter einer Kuh, welche Pocken hatte, Blatternmaterial ab, ritzte bei den beiden Mädchen und dem Jungen zwischen Daumen und Zeigefinger eine Wunde, wie er es in Preetz gesehen hatte, und strich Blatternmaterial hinein. Die Kinder ertrugen die Operation ohne weitere Unpässlichkeiten und nach 14 Tagen war alles gut überstanden.
1793 verließ Peter Plett Hesselburg und besuchte das Lehrerseminar in Kiel. Hier begegnete er eines Tages (entweder 1794 oder 1795) seinem alten Wirt, Herrn Martini. Er befragte ihn nach seiner Familie und deren Befinden und erhielt die Antwort, dass die Kinder die natürlichen Blattern, und zwar sehr bösartige, durchgemacht hätten. Aber zu seiner großen Freude teilte Herr Martini ihm mit, dass die drei, die er damals mit den Kuhblattern geimpft hatte, verschont geblieben wären und sich ihrer unverletzten Gesichter freuten.
In einem Kommentar schrieb 1953 der Eutiner Arzt Dr. Fritz Reich, in dem ihm zugänglichen medizin-historischen Schrifttum habe Peter Plett als Nichtmediziner fünf Jahre früher als der britische Landarzt Edward Jenner einen genialen Einfall zur Tat werden lassen, der ihm einen Platz unter den Unsterblichen hätte sichern können, "wenn er sein intuitiv-empirisches Verfahren der medizinischen Fachwelt unterbreitet hätte".
Edward Jenner und die Pockenprävention
2004 fiel mir das Buch "Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute" von Roy Porter in die Hände. Bei der Lektüre dieses faszinierenden Überblicks über fünf Jahrtausende Medizingeschichte wurde mir erneut vor Augen geführt, welche Bedeutung die Erfindung der Vakzination im 18. Jahrhundert gehabt hat, und ich erinnerte mich an Peter Plett.
Seit dem Altertum sind immer wieder Pockenepidemien aufgetreten, der ein großer Teil der jeweiligen Bevölkerung zum Opfer gefallen ist. Der bedeutendste und im entscheidenden Ausmaß lebensrettende Fortschritt in der praktischen Medizin des 18. Jahrhunderts war die Einführung zunächst der Variolation (Impfung mit Material von Menschenpockenpusteln) und dann die Vakzination (Schutzimpfung mit Material aus Kuhpockenpusteln). Die Pocken wurden damals "das gefleckte Ungeheuer" genannt, hatten ganz Europa im Griff und waren in schlimmen Jahren für etwa 10 bis 40 Prozent aller Todesfälle verantwortlich.
Schon lange war bekannt, dass eine Pockenerkrankung Immunität hinterließ, doch die medizinische Elite nahm davon zunächst kaum Notiz. Die Weiterverbreitung dieses Wissens in Europa ist den Beobachtungen von Lady Mary Wortley Montagu (1689- 1762) zu verdanken, der Gattin des damaligen britischen Konsuls in Konstantinopel.
Sie berichtete davon, wie türkische Bauersfrauen in Gruppen von jeweils etwa 15 Personen routinemäßig Inokulationen mit Krankheitsmaterial von Menschenpocken vornahmen. Ziel war es, eine geringe Dosis zu verabreichen, die einen lebenslangen Schutz ohne Pockennarben ermöglichte.
Nach ihrer Rückkehr aus Konstantinopel ließ Lady Montagu 1721 in Großbritannien ihre fünfjährige Tochter auf diese Weise impfen. Es folgten Experimente mit verurteilten Schwerverbrechern und Waisenkindern. Später ließ auch der Prince of Wales, der spätere Georg II., bei seinen Töchtern die Variolation vornehmen.
Verbreitung der Methode
Diese Methode der kontrollierten Übertragung von Pockenmaterial fand ihren Weg auch in andere Länder. In Preußen, Österreich und Russland wurde sie bei Mitgliedern der Königshäuser bekannt gemacht. Aufgrund medizinischer, moralischer und religiöser Bedenken verbreitete sich die Variolation auf dem Kontinent jedoch nur zögerlich. Viele einheimische Ärzte lehnten die Methode ab, während sie von über das Land reisenden englischen Ärzten, so wahrscheinlich auch in Preetz, durchgeführt wurde.
Einer der englischen Ärzte, der die Variolation praktizierte, war Edward Jenner, der von 1749 bis 1823 lebte. In seiner Heimat Glouchestershire war ebenso wie in der holsteinischen Probstei in der Bevölkerung bekannt, dass es eine Rinderkrankheit gab, die Kuhpocken, mit denen sich gelegentlich die MelkerInnen infizierten und die gegen Menschenpocken immun mache.
Jenner hielt es für möglich, dass diese Immunität durch eine Arm-zu-Arm-Inokulation von Kuhpockenmaterial hervorgerufen werden könnte. Er war der Meinung, dass diese Methode vermutlich sicherer sei als die Variolation, da die Kuhpocken bei Menschen gutartiger verlaufen würden.
So wagte Jenner am 14. Mai 1796 das entscheidende Experiment. Er inokkulierte einem achtjährigen Jungen Material, das er einer Kuhpockenpustel entnommen hatte. Der Junge entwickelte leichtes Fieber, von dem er sich bald erholte. Sechs Wochen später inokulierte Jenner ihm Material von Menschenpusteln. Zu einem Ausbruch der Pockenerkrankung kam es nicht.
1798 veröffentlichte Edward Jenner seine Entdeckung in dem berühmten Artikel "An Inquiry into the Causes and Effects of Variolae Vaccinae, a Disease known by the Name of Cow-Pox". Der Bericht erregte sofort große Aufmerksamkeit und wurde bald in viele europäische Sprachen übersetzt.
Im Jahre 1799 waren in England bereits mehr als 5.000 Personen auf diese Weise geimpft und im Ausland wurde diese Praxis bald übernommen. Schweden erließ einen Impfzwang. Napoleon förderte die Impfung und ließ seine Armee impfen. Edward Jenner wurde berühmt und geadelt. 1802 wurde er vom britischen Parlament mit 10.000 Pfund Sterling belohnt.
Noch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben die Pocken, besonders in Asien und Afrika, zahlreiche Opfer gefordert. 1966 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein weltweites Programm zur Ausrottung der Pocken ins Leben gerufen, dem ein voller Erfolg beschieden war.1977 trat der letzte Pockenfall in Somalia auf. Am 26. Oktober 1979 verkündete die WHO die Ausrottung der Pocken. Seitdem sind wahrscheinlich keine neuen Erkrankungen mehr aufgetreten.
Ich selbst gehöre noch zu der Generation, die in der Kindheit routinemäßig mit einem Vakzin gegen Pocken geimpft wurde, weil seit dem Impfgesetz von 1874 in Deutschland eine Impfpflicht bestand. Davon zeugt eine Narbe an meinem linken Oberarm. Die Impfpflicht gegen Pocken endete in der Bundesrepublik 1976.
Erste Kuhpockenimpfung in der Probstei
Nachdem Peter Plett in der Probstei die wahrscheinlich erste Kuhpockenimpfung der Welt durchgeführt hatte, wirkte er ab 1796 als Lehrer in einer einklassigen Volksschule in Laboe, die der Aufsicht seines Gönners und Vorgesetzten, des Pastors Dr. Schmidt, unterstand. Dieser ging 1807 als Hauptpastor in das nahe gelegene Schönberg.
Pastor Schmidt war seit 1800 ein eifriger Verfechter des 1798 vom Edward Jenner veröffentlichen Impfverfahrens. Im Jahre 1801 erschien seine Flugschrift "Empfehlung der Schutzblatternimpfung. An meine Gemeinde."
Durch Pastor Schmidt wurden die Vakzination in Holstein eingeführt und bekannt. Den Impfstoff ließ er sich aus Hannover vom Hofmedicus Ballhorn und dem Hofchirurgen Strohmeyer schicken. Von Schmidt existieren zahlreiche weitere Rundschreiben aus dem Jahre 1802, die über die Widerstände und Bedenken, die damals zu überwinden waren, Aufschluss geben.
Im Jahre 1808 holte der Pastor Peter Plett in seinen Schulaufsichtsbereich. Er wurde dort Schullehrer in Stakendorf. Zunächst war er eine Reihe von Jahren dort erfolgreich tätig. Ab 1815/16 häuften sich jedoch die Klagen über einen zeitweise betriebenen Alkoholmissbrauch. 1820 wurde Peter Plett deshalb als Dorfschullehrer entlassen und vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
Für die damalige Zeit bemerkenswert ist, dass die Dorfgemeinschaft ihm in Anerkennung seiner bisherigen Leistungen eine "Pension" (Versorgung mit Lebensmitteln und eine Wohnung bis zu seinem Lebensende) zur Verfügung stellte. 1823 ist Peter Plett dann in Stakendorf im Alter von 57 Jahren verstorben.
Ein Telefonanruf von Peter Plett
Ich staunte nicht schlecht, als ich dann 2005 einen Telefonanruf erhielt und sich mein Gesprächspartner mit Peter Plett vorstellte. Im Gespräch stellte sich dann schnell heraus, dass es sich um einen Nachkommen von Peter Plett aus Stakendorf handelte, der im Schwarzwald lebte, Historiker war und an einem Buch über seinen bedeutenden Ururgroßonkel schrieb. Dieses wurde 2006 unter dem Titel "Peter Plett 1766- 1823. Lehrer in der Probstei und Entdecker der Kuhpockenimpfung" in einem kleinen Schönberger Verlag veröffentlicht.
In dem hochinteressanten Werk sind auch einige neuere Erkenntnisse auf medizinisch-historischem Gebiet zu finden. Der Historiker Peter Plett ist bei der Arbeit an dem Buch über seinen Ururgroßonkel auf mehr als 60 Schriften gestoßen, die Peter Plett aus Stakendorf erwähnt haben, darunter solche aus den USA, Spanien, Mexiko, Großbritannien, Dänemark und Finnland.
Er fand heraus, dass Peter Plett nicht der einzige Vorläufer von Edward Jenner gewesen ist. Das Buch stellt erstmals das gesamte verfügbare Wissen über Peter Pletts fünf Vorgänger in verschiedenen Ländern zusammen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert gelebt haben und von denen dokumentiert ist, dass sie Impfungen mit Kuhpockenlymphe statt mit Menschenpockenlymphe durchgeführt haben.
Über diese Vorgänger hatte Peter Plett jedoch keine Kenntnis. Er war zum Zeitpunkt seiner Entdeckung ein 25jähriger, junger Mann, ein ebenso genialer Entdecker wie seine fünf Vorgänger und später Edward Jenner, nur hat er den Ruhm für seine Taten nicht ernten können und auch kein Geld dafür erhalten.
Für ein weiteres medizin-historisches Detail hat der Historiker Plett grundlegende Fakten zusammengetragen. Weiter oben habe ich auf den Kommentar des Eutiner Arztes Dr. Fritz Reich aus dem Jahre 1953 hingewiesen, der in seinem Urteil über Peter Plett geschrieben hat, dieser habe als Nichtmediziner fünf Jahre früher als der Britische Landarzt Edward Jenner einen genialen Einfall zur Tat werden lassen, der ihm einen Platz unter den Unsterblichen hätte sichern können, wenn er sein intuitiv- empirisches Verfahren der medizinischen Fachwelt unterbreitet hätte.
In dem Buch werden nun überzeugende Belege angeführt, dass Peter Plett 1790 und 1791/92 jeweils einen ausführlichen Bericht an die Kieler Medizinische Fakultät geschickt hatte, auf die er jedoch keine Reaktion erhielt. Der Grund war möglicherweise, dass damals die Medizinische Fakultät von Ärzten dominiert wurde, die im großen Stil Impfungen mit Menschenpockenlymphe durchführten. Auch in den ersten Jahren nach der bahnbrechenden Entdeckung von Edward Jenner sträubten sie sich zunächst, das neue Impfverfahren anzuwenden. Dieses wurde erst ab 1802 von dem Laboer Pastor Dr. Schmidt mit Hilfe der Dorfschullehrer propagiert und in der Probstei eingeführt.
Literatur:
Peter C. Plett: Peter Plett 1766- 1823. Lehrer in der Probstei und Entdecker der Kuhpockenimpfung. Konstanz 2006, Druckerei Hergeröder (Tel. 04344 / 1300), Bahnhofstr. 8, 24217 Schönberg, 150 Seiten, DIN A 5 mit farbigen Abbildungen, 15 Euro plus 2 Euro Versandkosten
Über den Autor:
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit.