Mehr Aufklärung wagen!

Seite 2: Was sind Pinkers Defizite?

Natürlich kann man fragen, ob sich Pinker mit einem solchen Buchvorhaben nicht übernommen hat. Es richtet sich zuvorderst an das US-amerikanische Publikum, weshalb es mehrfach die Religion zum Thema hat, was für Leserinnen und Leser anderer Kontinente langweilig erscheinen mag. Wenn Pinker seine bevorzugten "Verfahren der Wissenschaft - Skeptizismus, Fallibilismus, offene Diskussion und empirisches Testen" beschreibt, so sind erstere theoretisch, letztere operational.

Den Fallibilismus kann man speziell mit dem Kritischen Rationalismus in Verbindung bringen, aber was ist die konkrete Kritik an diesen erkenntnistheoretischen Prämissen bei Pinker? Auch hier hätten Hutmacher und Mayrhofer tiefer in seine Argumentation einsteigen müssen. Möglicherweise hätte man anschließen können an den "Positivismusstreit" der sechziger Jahre zwischen Vertretern des Kritischen Rationalismus und der Kritischen Theorie.

Pinker hat kein Verständnis für die philosophischen Leistungen eines Michel Foucault oder eines Theodor W. Adorno, wenn er diese als "kulturelle Schwarzmaler" ablehnt, da stimmen wir Hutmacher und Mayrhofer zu. Pinker denkt nicht in Begriffen von Normalisierung oder Entfremdung. Er will "die offene Gesellschaft und den kosmopolitischen oder klassischen Liberalismus" neu formulieren.

Pinker ist ein Anhänger der kapitalistischen Marktgesellschaft. Die Tradition des Utilitarismus mit dem "Ziel, menschliches Wohlergehen zu maximieren", ist ein weiterer Bezugspunkt für ihn. Demzufolge verfügt er aus unserer Sicht über keine adäquate Theorie sozialer Verhältnisse, einen Fortschritt wie die Reduzierung der Arbeitszeit sieht er nicht als notwendiges Ergebnis sozialer Kämpfe. Das ist kritikwürdig.

Man könnte fragen, ob (Teil)Fortschritte wegen oder trotz der kapitalistischen Verhältnisse gelungen sind. Paradox ist bei Pinker auch, dass er zum einen Anhänger einer (neo)liberal konzipierten Gesellschaft ist, zum anderen aber nicht berücksichtigt, dass mit der Aufklärung eine Reihe von Fähigkeiten zur Verfügung gestellt wurden, die durch den Kapitalismus benutzbar waren, aber nicht in diesem aufgegangen sind. Wir fragen uns, ob er diesen (historischen) Doppelcharakter der Aufklärung verstanden hat.

Mayrhofer und Hutmacher sind beide Psychologen, also Kollegen von Pinker, und als solche gehen sie wenig mit seinen psychologischen Diagnosen ins Gericht. Pinkers Beitrag zu aufklärerischen Verfahren ist über viele Seiten die Aufdeckung von "kognitiven Verzerrungen", also Irrtümern des Denkens und "Unschärfen" der Wahrnehmung.

Wenn Hutmacher und Mayrhofer schon Pinkers ungenügendes Verständnis von Adorno anmerken, hätten sie an dieser Stelle darauf verweisen können, dass Pinker hier in einer Art Psychologismus verbleibt und seine Ausführungen nicht das Niveau einer Ideologiekritik erreichen. Die Bewusstseinsformen einer Gesellschaft, die ideologischen Formationen, in denen die sozialen Subjekte durch ideologische Apparate positioniert werden, sind nicht sein Thema.

Auch wir werden an dieser Stelle nicht beurteilen, ob Pinker seine Ansprüche der Erklärung erfüllt hat. Er hat eine amerikanisch-pragmatische Einstellung bei der Betrachtung der Weltläufe, er ist gewissermaßen "ertragsorientiert". Querbeet führt er die faktische "Macht" der vergangenen sachlogischen Verbesserungen vor und ignoriert strukturelle Fragen von sozialer Macht und Herrschaft.

Er scheut sich nicht, über kommende technische Innovationen wie Flüssigmetallbatterien in Containergröße oder Solarmodule aus Kohlenstoffnanoröhren zu spekulieren. Bei einem umstrittenen Thema wie künstliche Intelligenz hält er sich aber zurück.

Der "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Immanuel Kant) kann jedoch unseres Erachtens auf ungewöhnlichen Wegen geschehen. Am Horizont zeichnet sich eine wechselseitige Ko-Evolution von Mensch und Technik ab - ein Aspekt, auf den Pinker erstaunlicherweise nicht eingeht.

Was steht auf dem Spiel?

Unsere Kritik an Mayrhofer und Hutmacher bezieht sich nicht darauf, dass sie problematische Argumente bei Pinker entdecken, sondern dass ihre Kritik nicht genügend ausformulieren und zugleich seinen diskursiven Einsatz missachten. Zugegeben, Pinker betreibt keine qualitative Sozialforschung, er ist naturwissenschaftlich-positivistisch orientiert.

Er entzieht sich aber einzelwissenschaftlichen Kontexten und steht im Schnittpunkt von Physik, Biologie, Psychologie und anderen Disziplinen. Man muss mit seinen theoretischen Prämissen nicht einverstanden sein. Wie immer auch Vernunft oder Fortschritt definiert werden, Pinker wehrt sich dagegen, diese Begriffe aufzuweichen und ihre praktische Bedeutung zu unterschätzen.

Diesen Ansatz bejahen wir ohne Einschränkung. Auch wenn er ein kapitalistisches Gesellschaftsbild propagiert, ist seine "Leistungsschau", seine Übersicht zu zivilisatorischen Fortschritten verdienstvoll und sollte nicht unnötig diskreditiert werden.

Die Zukunft ist nur mit den avanciertesten Mitteln der Wissenschaft und Technik zu bewältigen. Und das wird nur gelingen, wenn das Denken weiterentwickelt wird "im Sinne einer erweiterten, zweiten Aufklärung" (Joachim Paul) und die Öffentlichkeit über deren Chancen und zugleich über die Gefahren informiert wird. Die weitergehende Aufklärung beinhaltet die Verbreitung der Erkenntnis, dass die Menschheit auf verschiedenen Skalen von der Mikro- bis zur Makrophysik existiert. Wir zitieren aus Pinkers Buch:1

"Sich seines Landes und dessen Geschichte bewusst zu sein, der Vielfalt von Bräuchen und Überzeugungen überall auf der Welt und zu allen Zeiten, der Missgriffe und Triumphe vergangener Zivilisationen, der Mikrokosmen von Zellen und Atomen wie auch der Makrokosmen von Planeten und Galaxien, der ätherischen Realität von Zahlen, Logik und Mustern - dieses Wissen erhebt uns wahrhaftig in eine höhere Bewusstseinssphäre."

Das bedingt als Konsequenz die Erkenntnis einer Ungleichzeitigkeit und Mehrdimensionalität der Entwicklungen, bei denen immer nur (Teil)Fortschritte möglich sind. Auf dem Spiel steht der "Lösungskorridor" für viele unterschiedlich angelegte Probleme von der Energieversorgung über die Automatisierung von Denkfunktionen bis hin zum Schutz vor Naturkatastrophen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist.

Insofern gilt mehr als je zuvor, das historische Projekt der Aufklärung in neue Dimensionen zu führen, eine "Aufklärung 2.0" einzuleiten. Um - "von oberster Warte aus betrachtet" - tendenziell den "letztendlichen Sinn des Lebens" zu erfüllen: "Energie und Wissen zu nutzen, um der Flutwelle der Entropie Einhalt zu gebieten"2.

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