Mehr Mut zur Technik!
Elektronische Vernetzung in vielen Bereichen des Gesundheitswesens hat das Potenzial zu langfristigen Kostensenkungen, aber Interessengruppen verhindern deren Einsatz
Die Gesundheitsreform ist fürs Erste ausgehandelt. Doch die Diskussionen gehen weiter. Der Streit um die zukünftige Versicherungsstruktur droht zu verdecken, was das deutsche Gesundheitswesen zu allererst benötigt: einen Modernisierungsschub. Mit dem Wohle des Patienten begründen alle Beteiligten das Festhalten an Althergebrachtem. Bei genauerem Hinsehen jedoch denkt jeder vor allem an sich selbst.
Gesundheitspolitik ist undankbar. Es gibt kaum ein Thema, mit dem man sich so schnell so viele Feinde machen kann. Das geht so: Man vertritt einen Standpunkt und formuliert ihn aus. Innerhalb kürzester Zeit formieren sich die betroffenen Berufsgruppen und erklären unter lautem Getöse, was für ein fieser Mensch man doch sei, und wie sehr man doch die armen Patienten mit solchen Vorschlägen gefährde.
Das Wohl des Patienten ist im deutschen Gesundheitssystem ein Totschlagargument, das von allen Beteiligten mit gleicher Virtuosität geführt wird. Das alleine sollte einen schon nachdenklich machen. Tatsächlich entpuppen sich die Verteidiger des Patientenwohls in vielen Fällen als verkleidete Besitzstandswahrer. Als solche blockieren sie oft genug dringend notwendige Modernisierungsmaßnahmen in der Krankenversorgung. Ein paar Beispiele:
Ärzteverbände (I)
Die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung KZBV ist der Dachverband fast aller niedergelassenen Zahnärzte. Ihrem Ärger über die geplante Gesundheitsreform macht die KZBV gerade mit einer bemerkenswert undifferenzierten PR-Kampagne Luft, die unter der Schlagzeile "Wir finden Datenschutz ist genauso wichtig" eine Breitseite gegen die geplante Einführung der elektronischen Patientenkarte fährt. Die Karte wird nach dem Stand der Dinge Anfang 2006 eingeführt.
Nach Auffassung der KZBV speichert die elektronische Patientenkarte "alle persönlichen Krankheiten, Behandlungen, Überweisungen durch Ärzte, Rezepte und Notfalldaten [also] Ihre gesamte Krankenakte". Abgesehen davon, dass es schlicht nicht stimmt, dass die gesamte Krankenakte gespeichert werden soll, ist eine solche Panikmache schon deswegen Blödsinn, weil die Karte - wie immer wieder betont - auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit aufbauen wird.
Nicht einmal der Bundesdatenschutzbeauftragte Joachim Jacob hat Bauchschmerzen dabei. Das Fatale ist, dass hier ein Berufsverband wider besseren Wissens ein Modernisierungsprojekt torpediert, dem nach einer Studie der im Medizinbetrieb renommierten Beratungsgesellschaft Debold und Lux bei Einführungskosten von etwa anderthalb Milliarden Euro ein Einsparungspotenzial von mehreren Milliarden Euro jährlich zugetraut wird. Die Patienten werden gar nicht erst gefragt, wie viel Datenschutz sie denn eigentlich wollen. Stattdessen wird in ihrem Namen Stimmung gemacht.
Ärzteverbände (II)
Disease-Management-Programme (DMP) sind eine Neuerung im deutschen Gesundheitswesen, die die erste rotgrüne Bundesregierung auf den Weg gebracht hat. In vielen Bundesländern laufen sie gerade an oder stehen unmittelbar bevor. DMP dienen dazu, die Behandlung bestimmter Erkrankungen, im Moment vor allem Zuckerkrankheit und Brustkrebs, zu standardisieren und zu verbessern. Langfristig, so der Gedanke, lassen sich so Kosten für teure Folgebehandlungen einsparen. Ohne in Details gehen zu wollen: Mit DMP ist seitens der Ärzte ein immenser Dokumentationsaufwand (zehn Seiten und mehr pro Patient und Besuch) verbunden, der geradezu nach einer elektronischen Erfassung durch die jeweilige Praxis-EDV schreit.
Vorläufer der DMP waren die so genannten Strukturverträge, die tatsächlich in vielen Fällen die Patientenversorgung massiv verbessern konnten. Die Strukturverträge waren eine Art Experimentalmedizin, die sich um viele bürokratische Mühlen herummogeln konnte. Ambitionierte Softwarehersteller haben zusammen mit engagierten Ärzten und aufgeschlossenen Versicherungen Computerprogramme entwickelt, die die nötige Dokumentation zwei Jahre lang gut und zuverlässig erledigten, zum Teil sogar - oh Wunder - mit elektronischer Datenübertragung..
Trotz des Erfolgs der Strukturverträge gingen die DMPs den Ärztevertretern überwiegend gegen den Strich. Sie sahen (und sehen) einen Eingriff in die Behandlungsfreiheit, der die Patientenversorgung letztlich verschlechtere (Deutscher Ärztetag Mai 2003, Beschlussprotokoll) - ein offensichtlicher Widerspruch zu den guten Erfahrungen mit den Strukturverträgen. Im Vertrauen auf eine rotgrüne Wahlniederlage verbummelte die Ärzteschaft die DMP und wurde kalt erwischt, als Schröder doch an der Macht blieb.
Folge dieses ganzen Theaters ist, dass es jetzt, wo die DMP anlaufen, kaum oder keine Computerprogramme gibt, die damit fertig werden, so dass Heerscharen ohnehin völlig überlasteter Ärzte in den Praxen hunderte Seiten Papierbögen ausfüllen und zur Post tragen müssen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat sich fast bis zum Sommeranfang Zeit gelassen, um jene Leitlinien aufzustellen, die die Softwarehersteller benötigen, um Programme zu entwerfen. Diese werden jetzt in Windeseile zusammengeschustert - und das bei einem Projekt, das seit Jahren im Orbit ist.
Apotheker
Apothekern gelingt es traditionell besser als Ärzten, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Weitgehend bekannt dürfte sein, dass Apothekerverbände "zum Wohle des Patienten" den Internethandel mit Arzneimitteln blockieren mit der Begründung, dass der Arzneimittelversand gefährlich sei.
Nach wie vor werden hier häufig Äpfel mit Birnen verglichen, wenn obskure Pillendealer von irgendwelchen Inseln als Beispiele für die Verwerflichkeit des Versandhandels herhalten müssen. Kommt die Gesundheitsreform wie vereinbart, dann wird der Versandhandel nach jahrelangem Streit wohl erlaubt werden. Genauso wird die Möglichkeit geschaffen, mehrere Apotheken gleichzeitig zu besitzen. Ob sich damit Geld sparen lässt, ist offen.
Industrie
Wer Industrie und Gesundheitswesen gleichzeitig hört, der denkt automatisch an Pharmakonzerne. Die sollen hier außen vor bleiben. Der zweite industrielle Großverdiener im Gesundheitsmarkt sind die Hersteller von Medizinprodukten. Medizinprodukte sind in Krankenhäusern und Praxen so ziemlich alles, was nicht Medikament ist. Verbandsmaterial, Nadeln und Spatel gehören dazu, aber auch Operationsbesteck, Herzkatheter und Ähnliches.
Jedes Krankenhaus in Deutschland hat mindestens Dutzende, oft Hunderte verschiedener Lieferanten, von denen nicht selten nur kleinste Stückzahlen gekauft werden. Um den Einkauf zu rationalisieren, organisieren sich Krankenhäuser zunehmend in Einkaufsgenossenschaften. Diese bedienen sich so genannter elektronischer Marktplätze, um Waren in größerer Stückzahl kaufen zu können und die Preise zu drücken. Dazu muss man wissen, dass Medizinprodukte in Europa generell und in Deutschland im Speziellen vergleichsweise teuer sind. Nur ein extremes Beispiel: Ein künstliches Innenohr, ein so genanntes Cochlea-Implantat, kostet in Europa im Durchschnitt 30.000 Euro. In den USA sind es knapp 19.000 Dollar.
Gerade für kleinere Krankenhäuser scheinen elektronische Marktplätze also ein ganz patente Idee zu sein. Der in Deutschland bedeutendste derartige Marktplatz ist medicforma, der einer Gruppe von gegenwärtig 48 Krankenhäusern als Shopping-Center dient. Die Medizinproduktehersteller fürchten Marktplätze wie medicforma wie der Teufel das Weihwasser. Einige von ihnen setzen auf das Konkurrenzsystem GHX, das allerdings genossenschaftlichen Einkauf unterbindet und damit viel Einsparpotenzial zunichte macht. Um kostensparendere Modelle zu verhindern, wird zum Teil auch zu unlauteren Mitteln gegriffen. So wurde Krankenhäusern, die sich an medicforma beteiligen wollten, von großen Medizinprodukteherstellern Geld geboten, damit sie es nicht tun.
Erst sparen, dann System ändern
All das sind Beispiele, wie aus Eigeninteresse ein besser elektronisch vernetztes Gesundheitswesen blockiert wird. Elektronische Vernetzung in vielen Bereichen des Gesundheitswesens hat das Potenzial zu langfristigen Kostensenkungen, die ausgeschöpft werden sollten, bevor über einen Systemwechsel zu Bürgerversicherung oder Kopfpauschalen auch nur nachgedacht wird. Sollte ein lange Jahre halbwegs funktionierendes und im internationalen Vergleich nach wie vor bemerkenswertes Gesundheitssystem jetzt überhastet gekippt werden, dann dürfen sich alle daran Beteiligten kräftig auf die Schulter klopfen.