Mehrheit ist Mehrheit
Der Alte ist der geschwächte Neue, die Wähler blieben unentschieden, die ökonomische und pisanische Verelendung schreitet voran
Die launigen Wahlprognosen waren Stimmungsberichte zur Lage einer unentschlossenen Nation. Was dem Wähler heute frommt, gilt nächsten Sonntag längst nicht mehr. Wenn schon die Themen so weichgespült werden, dass jede politische Orientierung des Wählers zur Anmaßung wird, sollte wenigstens ein spannender Wahlkampf die rat- und lustlosen Demokraten entschädigen. Bis auf Möllemanns suizidalen Amoklauf und Däubler-Gmelins eigenwillige Geschichtsauffassung ist diesmal leider nichts daraus geworden. Die einschlafgefährdeten Wahlkampfspiele sind beendet. Langweilig war es, weil eine Profilierung um der Profilierung willen eben keine ist.
Das Wahlergebnis selbst spiegelt die Unentschiedenheit der Wähler gegenüber einer Politik, die selbst kaum mehr differente Positionen einnimmt. Deutschland hat keine Lager mehr, sondern kokettiert allenfalls mit ihnen. Zentrales Wahlergebnis ist, dass die alte neue Regierungsmehrheit mit 306 Sitzen von insgesamt 603 Sitzen im neuen Bundestag schwach ist. Die SPD hat mit 38,5 % und 8.864 Stimmen Vorsprung vor der CDU/CSU hauchdünn gewonnen. Das vor der großen Flut zwischenzeitlich demoskopisch verkündete Desaster hat sie überlebt. Offensichtlich kommt es doch auf den Schröder an, der im Kampf gegen die Natur und als kurz entschlossener Antikriegs-Kanzler das Ruder im letzten Moment herumreißen konnte.
Schien vor Wochen die CDU/CSU das Rennen schon entschieden zu haben, traten gnädig die Ströme über das Ufer und die christlichen Hoffnungen auf eine satte Mehrheit versackten im Schlamm. Die Sozialdemokraten zogen zudem mit dem Versprechen in die diffuse Schlacht, ihre alten Versprechen - dank Hartz-Power - nun aber wirklich wahr werden zu lassen. Was man einem Vertragsbrüchigen nicht nachsehen würde, verzeihen wir Politikern allemal. Denn heimlich wissen wir doch: Sie wissen auch nicht, was sie tun. Das Stimmungshoch der Sozis hielt an - und sollte das zweite Kanzler-Kandidaten-Duell einer der Gründe dafür gewesen sein, gibt es zwischen dem mediokratischen Himmel und der nackten Erde mehr Dinge, als einige je verstehen werden. Immerhin die verlorenen 2,4% sind der Denkzettel für vier Millionen Arbeitslose, auch wenn Schröder nun also erst mal weiter wurschteln darf.
Stoiber ist nicht sexy, während Mölli und Joschka als Gerhards Wahlhelfer auftraten
CDU/CSU können mit dem Ergebnis von gleichfalls 38,5 % nicht wirklich zufrieden sein. Verkündete Stoiber nach den ersten Hochrechnungen schon siegesgewiss, die Wahl gewonnen zu haben und nun die stärkste politische Kraft im Lande zu repräsentieren, verflüchtigte sich der christliche Traum nach Bekanntgabe des vorläufigen amtlichen Endergebnisses. Vor allem der potenzielle Juniorpartner FDP punktete mit 7,4 % der Stimmen zu schwach, um eine schwarz-gelbe Koalition aus der Taufe zu heben. Die bundespolitische Ära Stoiber könnte damit bereits vorbei sein, bevor sie überhaupt stattgefunden hat. Auch mit dem letzten Scheingefecht um die Zuwanderungspolitik konnten die Christdemokraten die unberechenbare Wählerdiva nicht mehr entscheidend erweichen. Im Übrigen ist Stoiber eben nicht sexy, und das ist ein mediokratisch schlimmeres Verdikt als der von ihm proklamierte "Reformstau" der Regierung.
Die Grünen haben mit 8, 6 % ein besseres Ergebnis erzielt, als es erwartet wurde. Sie bleiben drittstärkste politische Kraft in Deutschland. Joschka Fischer, beliebtester Politiker Deutschlands, dürfte daran größeren Anteil haben als die ökologischen Fundamente. Immerhin, die Spaßprognose der FDP von 18% hat der Wähler entschieden beantwortet. Die Sprachlosigkeit des Guidomobils hat jetzt einen Namen. Die Turnschuhpartei kippte mit 7,4 % aus den gelben, ohnehin übergroß vermessenen Sprintlatschen, weil Möllis hochgiftiger Cocktail noch kurz vor Torschluss in den Pressetickern explodierte. Die "bitterste Stunde" (O-Ton Möllemann) für den autistisch agierenden NRW-Liberalen-Chef und auch mindestens sein bundespolitisches Ende. Am Montag ist er von senem Amt als stellvertretender Bundesvorsitzender zurückgetreten. Möllemann dürfte bei seinen Ex-Freunden lebenslänglich das Stigma nicht mehr los werden, dass er die schwarzgelbe Regierungskoalition 2002 auf dem Gewissen hat. Mölli war neben Joschka Gerhards bester Wahlhelfer!
Mit 4 % der Stimmen verfehlte die PDS das magische Wahlziel. Ohne Gysi läuft nicht viel, zudem seine unglückliche Selbstdemontage als Berliner Wirtschaftssenator wohl dringend benötigte Sympathiepunkte kostete. Parteien brauchen eben charmante Köpfe, wie der kanzlerzentrierte Wahlkampf der SPD deutlich machte. Die zwei verbliebenen armseligen Direktmandate könnten der Anfang vom Ende einer linken Partei jenseits der Sozialdemokraten sein. Selbst der vormals exklusive sozialistische Antikriegskurs ist parteienübergreifendes Allgemeingut geworden.
Wahl: eher Fragezeichen als Entscheidung
Und was haben wir jetzt? Eine schwache Regierungskoalition um einen geschwächten Kanzler, dessen Zukunftsmächtigkeit als fragil gelten muss. "Schröder - da weiß man, was man hat" meinte Schriftsteller Erich Loest in der ZEIT. Wirklich? Und selbst wenn es so wäre, spielt das eine Rolle?
Wahlkampfgeschwätz und demokratische Zitterpartien sind schnell vergessen. Aber die sinkenden Börsenkurse, die depressive Stimmung der Wirtschaft im global trüben Ambiente signalisieren eine Rezession, die Schröders zweite Amtszeit zu einer Periode von horrenden Wachstumsverlusten verkümmern lassen könnte. Dass Mittelstand und Kleinbetriebe als Konjunkturmotor im schlecht gelüfteten Ökotop kräftig gedeihen könnten, glaubt kaum einer mehr. Die Arbeitslosenzahl von vier Millionen könnte ein vorläufiger Tiefstand sein, der schon bald wehmütige Erinnerungen an die gute alte Zeit auslösen mag.
Schröder hat bereits sein erstes uneingelöstes Versprechen mit internationalen "Verwerfungen" gerechtfertigt. Der Terminus ist memorabel, er hat in der neuen Legislaturperiode Chancen auf ewige Wiederkehr. Der Staatshaushalt, der mit schrumpfenden Steuereinnahmen leben muss, dürfte sich noch dramatischer entwickeln. Radikalisiert sich die Sparpolitik so weit, bis sich vormalige soziale Selbstverständlichkeiten der Gemeinschaft vollends in Rauch auflösen? Wenn der gute alte Wert der Sozis, die Solidarität, nicht bald revolutionär aufgerüstet wird, könnte es in Deutschland eiskalt werden. Dass diese Parteien, ob nun Regierung oder Opposition, dagegen Rezepte besitzen, hat der Wahlkrampf nicht erwiesen. Allein das markiert Volkes Stimme vom 22.09.2002, die eher ein Fragezeichen als eine Entscheidung war.
Schröders eingeschränkte Solidarität mit den US-Kriegern mag ein wahlkampftaktischer Schachzug gewesen sein. Immerhin imponiert, dass die amerikanischen Klartext-Politiker nun auch Gelegenheit haben, über ihren selbstgefälligen Freundschaftsbegriff nachzudenken. Welche Folgen die nun laut der US-Nationalen Sicherheitsberaterin Condi Rice vergiftete Freundschaft zum mächtigen Bruder haben mag, bleibt abzuwarten. Da reicht es wohl kaum, den Kopf der vorlauten Justizministerin rollen zu lassen, um die deutsche Nichtbeteiligung an der bevorstehenden Neuauflage der Mutter aller Schlachten Amerikas Weltherrschern erfolgreich zu vermitteln. Wie weit liegt Canossa von Washington entfernt?
Die Wahlkampfplakate des Zwangsoptimismus werden nun, gottlob, abgehängt, die ökonomische und pisanische Verelendung schreitet dagegen voran. Deutschland - ein Wintermärchen? Aber in vier Jahren wird bestimmt alles ganz anders sein. Auf Wiederwählen.