"Menschenverachtend ist die Politik unserer Regierung"
- "Menschenverachtend ist die Politik unserer Regierung"
- "Für die Armen geht es ums nackte Überleben"
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Carla Hinrichs von der Gruppe "Letzte Generation" über neue Blockade-Aktionen ab heute, den Mord an den Armen und die "Tafeln", den Ukraine-Krieg und das 100-Milliarden-Paket.
"Stoppt den Mord an den Armen!" fordert die Aktivist:innen-Gruppe "Aufstand der letzten Generation", die aktuell in Italien Autobahn-Blockaden durchführt. Ihre Aktionen erregen viel Aufmerksamkeit und Diskussionen und sie fordern auch eine ernsthafte Umverteilung von Privilegien: "Alle Schulden sollten erlassen werden. Schäden, die wir verursacht haben, sollten entschädigt werden", gestartet sind sie mit dem Hungerstreik vor dem Bundeskanzleramt zur Wahl 2021 und erreichten damit ein Gespräch mit dem jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Vorläuferin der Aktionsgruppe ist die bürgerrechtsorientierte, anarchistisch-gewerkschaftliche und interventionistische linke Szene in den USA, welche hierzulande kaum bekannt ist, aber dort von Harvard-Professor:innen über Autonome und Sozialaktivist:innen bis zur "Organic"-Szene und ihren "Farmer markets" reicht und seit den 1970er-Jahren bis heute große Demonstrationen vor allem in der Szene-Hauptstadt Portland, aber auch in der San Francisco Bay Area, in ganz Südkalifornien oder in Chicago organisiert und auch von Teilen der Demokratischen Partei und des politischen und kulturellen Establishments unterstützt wird.
Innerhalb der Bundesregierung und der Ampel-Parteien gibt es sowohl Kritiker:innen als auch Befürworter:innen der Aktionen wie Grünen-Chefin Ricarda Lang. "Wir müssen mit mehr Menschen wiederkommen", kündigt Carla Hinrichs von der "Letzten Generation" nun im Interview für die neuen Aktionen ab dem 20. Juni an.
"Entlastet endlich wirklich Bedürftige hierzulande"
Ihr beklagt mit Euren Aktionen die Lebensmittelverschwendung, das klingt ja erst mal allgemein, aber was meint Ihr denn konkret und wen prangert Ihr an?
Carla Hinrichs: In unserer ersten Kampgane "Essen Retten – Leben Retten" haben wir nach dem französischen Vorbild ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung in Supermärkten gefordert. Dadurch, dass unsere Straßenblockaden nicht zu ignorieren waren, hat das Thema große Aufmerksamkeit bekommen und die Politik musste sich öffentlich zu unserem Anliegen äußern.
Jetzt wollen wir darauf aufmerksam machen, dass die Bundesregierung neue Ölbohrungen in der Nordsee plant. Wir fordern eine Erklärung von Olaf Scholz, dass es diese neuen Ölbohrungen nicht geben wird.
Hat sich Eure Kampagne zum "Essen Retten" nicht aber durch Pandemie, Putin und die Logistik-Probleme unter anderem durch Shanghai erledigt? Die Tafeln beklagen ja ohnehin, dass die Spenden durch Supermärkte stark, in Städten wie Frankfurt am Main gar fast vollständig zurückgegangen sind in den letzten Monaten, weil dort völlig umdisponiert wurde seit Corona und auch kaum noch überflüssig geordert und damit auch kaum noch "verschwendet" wurde?
Carla Hinrichs: Genau, damit die Tafeln nicht mehr so abhängig von den freiwilligen Spenden einzelner Supermärkte sind, forderten wir eine gesetzliche Verpflichtung aller großen Supermärkte, gutes Essen an Bedürftige zu geben, anstatt es wegzuwerfen. Durch die Pandemie und Putins Krieg ist uns hier in Deutschland vor allem unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen schmerzlich bewusst geworden.
Wir müssen uns frei machen von dieser zerstörerischen Sucht nach fossilen Brennstoffen. Aber stattdessen möchte uns die Bundesregierung da jetzt sogar noch tiefer hineinführen mit Ölbohrungen in den Naturschutzgebieten der Nordsee. Fossiles Öl zerstört unsere Lebensgrundlagen und führt uns in eine Welt, wo Wasserknappheit, Hungerkatastrophen, Flucht und Kriege an der Tagesordnung sein werden. Wir müssen Öl sparen, statt zu bohren.
Ist das Konzept der Tafeln in seiner Notwendigkeit nicht schon menschenverachtend, um es überspitzt auszudrücken? Die Reste bleiben für die, die kein Geld haben … Und der Staat in Form der Sozialbehörden schickt sogar ganz offen etwa Flüchtlinge dorthin wie in Potsdam, anstatt lebensnotwendige Zahlungen in angemessener Höhe zu leisten?
Carla Hinrichs: Die Tafel ist für immer mehr Bedürftige die letzte Rettung. Gleichzeitig steuern wir in der Klimakrise auf weltweite Hungerkatastrophen durch immer häufigere und heftigere Dürren und Überflutungen zu. Menschenverachtend ist die Politik unserer Regierung, die diese Klima- und Nahrungskrise mit neuen Ölbohrungen sogar noch weiter befeuern will. Wir fordern, dass sie stattdessen konsequent Öl spart und Bedürftige hierzulande endlich wirklich entlastet.
"Wir fordern kostenlosen ÖPNV und Tempolimits"
Was wären denn allgemein Eure konkreten Forderungen für Veränderungen, kurzfristig und langfristig?
Carla Hinrichs: Wir fordern Sparmaßnahmen, die kurzfristig umsetzbar sind und die die Bürgerinnen und Bürger entlasten. Dazu gehört etwa ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr und ein Tempolimit. Noch mal: Wir müssen jetzt Öl sparen, statt nach neuem Öl zu bohren! Deshalb fordern wir von unserem selbsternannten Klimakanzler ein Machtwort: "Es wird keine neuen Ölbohrungen in der Nordsee geben."
Grundsätzlich streben wir einen schnellen und fairen Wandel an. Wir müssen dafür sorgen, dass dabei alle Menschen in Bürger:innenräten ein Mitspracherecht haben. Und wir müssen global mit denen zusammenarbeiten, die schon jetzt an den Folgen der Klimakrise leiden und sterben.
Hat der Angriff Russlands auf die Ukraine in Euch denn auch innerlich etwas ausgelöst? Ihr habt danach mit Euren Aktionen pausiert, nicht? Befürchtet Ihr eine Hungerkatastrophe wie die UN? Fakt ist ja: Schon jetzt können sich Menschen in Deutschland nach den Preiserhöhungen bis zu 40 Prozent weniger zu essen kaufen und damit 40 Prozent weniger essen … Die Bundesregierung tat auch seit dem Ukraine-Krieg wenig dagegen, trotz Beteuerungen und Verteuerungen?
Carla Hinrichs: Putins Angriffskrieg hat uns zutiefst schockiert und es ist uns klar geworden, wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen mit mehr Menschen wiederkommen. Aber dieser Krieg führt uns vor Augen, auf welche Klimakatastrophe wir gerade ungebremst zusteuern: weltweite Hungerkatastrophen, Kriege um immer knappere Ressourcen und eine immer tiefere soziale Spaltung unserer Gesellschaft.
Neue Ölbohrungen in der Nordsee lassen uns die letzte Abfahrt in Richtung einer lebenswerten Zukunft verpassen. Denn das Zeitfenster, den Klimakollaps noch abzuwenden, schließt sich rasant und lässt uns nur noch einige wenige Jahre Zeit. Deshalb setzen wir unsere Straßenblockaden nun fort. Wir lassen unsere Störungen erst ruhen, wenn wir von Olaf Scholz eine Erklärung bekommen, dass es keine neuen Ölbohrungen in der Nordsee geben wird.
Was sagt Ihr denn zum 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr?
Carla Hinrichs: Es zeigt eines ganz deutlich: Wenn es um unsere Sicherheit geht, ist die Regierung bereit, in Bereichen abseits von der Klimakrise richtig viel Geld in die Hand zu nehmen. Die Klimakrise ist eine lebensbedrohliche Gefahr für unsere Sicherheit und unser Überleben als Menschheit. Wir fordern deshalb von der Regierung dringend notwendige Investitionen in unsere Zukunft, wie in einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. Dieses Geld würde den wirklich Bedürftigen in unserer Gesellschaft zugutekommen und gleichzeitig einen Beitrag für eine lebenswerte Zukunft leisten.