"Merkel verliert die Geduld mit Putin", Jauch ist schon längst ungeduldig
Deutsche Ostpolitik, kritisch betrachtet: Wegsehen, verdecken, sich treiben lassen
Die Ungeduld-Zeile in der Überschrift ist Spiegel-Online entnommen. So wurde dort die Berichterstattung über das Treffen der deutschen Kanzlerin und des russischen Staatspräsidenten eingeleitet; bald danach war auf derselben Webseite die Meldung fällig, Merkel habe mit Putin ein vierstündiges Vieraugengespräch geführt. So richtig passt das nicht zusammen. Das hat Gründe. Und was Staatsfrau und Staatsmann sich zu sagen wussten, blieb unbekannt, auch wenn der Welt-Reporter "Merkel mit Putin ringen" wähnte. Vielleicht erfährt man es irgendwann einmal, falls eine australo-amerikanische Abhöranlage funktioniert hat und ein Whistleblower aktiv wird, der das Gespräch für die historische Forschung offen legt. Derzeit befinden sich die deutsch-russischen Politikbeziehungen im Spätherbstnebel.
Den zu erhellen trat Günther Jauch mit seinem Polittalk auf den Plan, gleich nach dem "Tatort": Erst ein Interview von Hubert Seipel mit dem russischen Staatspräsidenten; der Interviewer steht im Verdacht, Putinversteher zu sein, aber sein Angebot hatte Seltenheitswert. Dann zwei zuverlässige Prominente in der Diskussionsrunde, die deutsche Ministerin für Verteidigung und jener deutsche Historiker, dem jede Abweichung vom "Weg nach Westen" ein Gräuel ist. Als Dritte eine deutsche Moskaukorrespondentin, die als Kritikerin Putins ausgewiesen ist.
Ursula von der Leyen vertrat, wenig überraschend, die NATO, wenn auch gemessener in der Sprache als deren Generalsekretär. August Heinrich Winkler legte dar, Putin wolle die Bundesrepublik zu einem "Sonderweg" in östlicher Richtung verführen. Sonja Miekich versuchte immerhin, den Blick auf Stimmungen im russischen Volk zu lenken. Hubert Seipel blieb es überlassen, auf sachliche Argumente Putins hinzuweisen, die Interessen Russlands seien im Interview erkennbar. Dieses bot nämlich keinen Anhaltspunkt, den "Kremlherrn" als Wüterich wahrzunehmen.
Günther Jauch hingegen kennt offenbar nur einen Aggressor. Er gab zu verstehen, eine "biologische Lösung" westlicher Politikprobleme mit Russland sei leider nicht zu erwarten. Anders als die sowjetischen Staatsführer vor Gorbatschow habe Putin wohl noch eine längere Lebenserwartung vor sich...
Das Talken brachte nichts Neues. Durchweg hielten sich die Prominenten dem Risiko fern, die "westliche" und die deutsche Politik im Ukraine-Konflikt auf möglicherweise heikle Ziele und Methoden hin zu sichten.
Dem Diskurs im Jauchstil lassen sich etliche kritische Beobachtungen und Einschätzungen gegenüberstellen. Um diese zu skizzieren: Der andauernde gewalttätige Konflikt und die daraus folgende gesellschaftliche Zerstörung in der Ukraine liegen nicht im außen- und wirtschaftspolitischen Interesse der Bundesrepublik, aber deren Politik hat dazu beigetragen, dieses Desaster zu verursachen - zunächst durch Leichtfertigkeit in den eigenen Einmischungen, möglicherweise auch infolge eines Kenntnismangels über die ukrainischen Verhältnisse; dann durch Einfügung in eine Strategie "des Westens", die sich in diesem Fall deutscher Mitbestimmung weitgehend entzogen hat. Dass Russland das Vorrücken "westlicher" geopolitisch-militärischer Macht an seine europäische Grenze nicht geduldig hinnehmen würde, war vorauszusehen; eine ökonomische Verflechtung der Ukraine mit der EU hätte sich auf andere Weise zustande bringen lassen.
Eine verborgene "antiamerikanische" Angst?
In den Absichten, die sich mit der Ukraine-Krise verbinden, gibt es nicht wirklich einen Konsens zwischen den westlichen Staaten, er wird vorgetäuscht. Das strategische Interesse der regierenden Politik in den USA geht dahin, bei dieser Gelegenheit russische Staatlichkeit zu schwächen, den Einfluss Russlands in der weltpolitischen Arena zu reduzieren, womöglich "Regime Change" in Moskau zu fördern. Als wirtschaftlicher Partner ist Russland für die USA nicht interessant - im Unterschied zu den Motiven und Perspektiven der deutschen Politik. Die derzeitige "westliche" Ostpolitik bringt bestimmten Branchen in der Bundesrepublik nachhaltigen Schaden, der EU unangenehme Folgekosten. Dies wird kleingeredet durch den Verweis darauf, dass gemeinsame "westliche Werte" Vorrang haben müssten gegenüber materiellen Nachteilen - eine Argumentation, die nicht gerade durch Ehrlichkeit hervorragt.
Die NATO als Militärsystem hat eigendynamische Interessen. Sie wirken konflikttreibend. Berlin hat darauf nur begrenzten Einfluss. Sich hier kritisch zu verhalten, ebenso gegenüber der Russlandpolitik der USA, kann oder will die deutsche Regierung nicht versuchen. Sie hat sich einer Deutung transatlantischer "Bündnistreue" als Staatsraison verpflichtet, die dazu wenig Spielraum zu lassen scheint. Vermutlich rechnet sie auch bei Unbotmäßigkeit gegenüber Washington mit verdeckten Sanktionen im internationalen Wirtschafts- und Finanzverkehr - eine verborgene "antiamerikanische" Angst könnte man das nennen.
Um von ihrer verzwickten Lage meinungsmachend abzulenken, stimmte die deutsche Regierung in den propagandistischen Gesang über Putin als den alleinschuldigen Aggressor ein, freilich in weniger lautem Tone als Regierende in einigen anderen EU-Staaten und vor allem in den USA.
Dass der ukrainische Präsident jetzt erklärte, er habe vor einem großen Krieg mit Russland keine Angst, ist der deutschen Regierung gewiss peinlich. Und Außenminister Steinmeier kommentierte das Treffen in Brisbane mit der Andeutung, entspannende Kontakte seien weiterhin nützlich. Aber in welcher politischen Umwelt?
Zu dem in deutschen Leitmedien überwiegenden Putin-Bashing kommen keine korrigierenden Äußerungen aus Berliner Regierungskreisen. Entspannend im Ost-West-Verhältnis wirkt dies keineswegs.
Langfristig ruinöse Folgen
Die Bundeskanzlerin wird nicht ernsthaft annehmen, die Putinsche Politik ziele darauf ab, die EU-Staaten russischer Herrschaft zu unterwerfen und die USA in ihrem Status als Supermacht weltweit abzulösen. Sie wird wissen, dass der russische Staat, selbst wenn er dies wollte, dazu gar nicht in der Lage wäre. Und der russische Staatspräsident, zweifellos kein harmloses Gemüt, sondern ein Machtpolitiker, ist deshalb nicht "paranoid" - auch wenn der christdemokratische Russland-"Experte" Schockenhoff ihn kürzlich so charakterisierte. Dass weltpolitische Interessenvertretung auch eine "militärische Komponente" umschließe, darin stimmt der russische Staatspräsident mit dem regierenden "westlichen Wertesystem" überein. Lebensgefährlich ist solcherart Politik in ihrer westlichen wie ihrer östlichen Variante.
In Berlin riskiert man nicht, sich über den Konflikt zwischen der russischen und der "westlichen" Politik konkret und analytisch zu äußern. Das trägt dazu bei, immerhin denkbare Schritte hin zu friedlichen Verhältnissen in der Ukraine aus dem Diskurs zu verdrängen. Diese in Gesprächen mit den russischen Regierenden einseitig anzumahnen, erscheint dann in Moskau als Alibiveranstaltung.
Russland ist durch den Konflikt um die Ukraine keineswegs mächtig und stabil geworden; was aber dem in Washington erhofften Sturz des Systems Putin in Russland folgen könnte, darüber möchte die deutsche Politik lieber nicht nachdenken, da könnten böse Ahnungen auftreten...
Mein Resümee, nicht polittalkfähig: Mit der Rede von "Geduld" oder "Ungeduld" im emotionalen Haushalt von Angela Merkel wird Nebel geworfen, werden unbequeme Sachverhalte verhüllt. Unterstellt, die deutsche Regierungspolitik hatte unter den gegebenen Bedingungen immerhin einen bestimmten Raum für eigenes internationales Agieren, heißt das realistische Fazit: Sie hat es vermasselt. So wie es jetzt ausschaut: Mit langfristig ruinösen Folgen - für den Fortgang der Weltpolitik, für ökonomische Interessen der Bundesrepublik, für das deutsch-russische Verhältnis, für die Zukunft der Ukraine.