zurück zum Artikel

Migranten aus Libyen: Deutlicher Rückgang der Zahlen im Juli

Rettung im Rahmen der Operation Triton. Bild: Irish Defence Forces / CC BY 2.0

Die erhitzte Diskussion über den "Pull-Faktor" NGOs nimmt nur Teile eines größeren Bilds zur Kenntnis

In Italien, genauer in der sizilianischen Provinz Ragusa, wurden, wie die FAZ berichtet [1], 15 Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr festgenommen, weil sie unter Verdacht stehen, selbst Ursache der Waldbrände zu sein, für deren Löschen sie extra Aufwandsentschädigungen kassierten.

Sind damit sämtliche Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr Brandstifter? Zumal in Sizilien, der legendären Heimat der Mafia?

Intrigen und Prestigegewinn

Sind alle NGOs vor Libyens Küste freiwillige Flüchtlingshelfer oder sogar willentliche Zuarbeiter eines kriminellen Schleusernetzwerks? Der Verdacht gegen die NGOs, der funktioniert wie eine Intrige, ist eine Einladung zur Schmutzigen-Wäsche-Schlacht, die bereitwillig angenommen wird: Die Diskussion über die Rolle der NGOs im Mittelmeer ist sehr lebhaft (siehe Lebensretter werden zu Kriminellen erklärt [2]). Dabei geht es, wie ein Kommentator anmerkt, augenfällig oft um Prestigegewinn bzw. Deutungshoheiten für die jeweiligen politischen Positionen.

Bis ein Gericht Verdachtsmomente gegen die NGOs, speziell gegen die "Iuventa" geklärt hat, bleiben nur Vermutungen. Nicht unwahrscheinlich ist, dass sich bei manchen und nicht nur bei den jüngeren Seenotrettern Übereifer Bahn bricht. Menschen retten ist eine große Sache. Wie eben auch die "Rettung Europas" eine große PR-Sache ist.

Der T-Shirt-Aufdruck lässt die Identitären auf der C-Star in einer Art Event-Exstase großtuerisch der eigenen Rolle gegenüber [3] davon sprechen, dass die NGOs "Hundertausende Migranten" nach Europa schleppen würden. An Bord der C-Star ist man von Dagobert-Duck-Zahlen, von der Idee des großen Austauschs und der Ferienabenteuer-Rolle sehr überzeugt.

Das ganz große "Abholer-Netzwerk"

Treibt man die Pauschalisierung weiter, so landet man, wie es ein Telepolis-Forent ganz richtig anmerkt, bei der Erkenntnis, dass auch Frontex, die italienische Küstenwache wie auch Schiffe der Bundeswehr [4] und eigentlich der ganze Verband der EU-Mittelmeeroperation Sophia einschließlich der militärischen Luftüberwachung der libyschen Küste Teil des großen "Abholnetzwerkes" sind, weil sie den Schleppern mit ihren Rettungsoperationen zuarbeiten.

Weniger hitzige Beobachtungen

Ein Blick auf die jüngsten Zahlen [5] der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bietet interessante Beobachtungen, die weniger hitzig sind. So zeigt sich ab Juni ein auffallender Rückgang der Zahlen der Migranten, die über das Mittelmeer nach Italien kamen.

Wurden im Mai und Juni dieses Jahres noch jeweils gut über 20.000 Migranten (Mai: 22.993; Juni: 23.524) mit dieser Reiseroute gezählt, so wurden im Juli 2017 nur mehr gut 11.000 Migranten registriert. Im vergangenen Jahr war diese Entwicklung nicht zu beobachten. Damals steigerte sich die Zahl der Zuwanderer über das Meer im Juli noch einmal um über 1.000 auf 23.500.

Rückgang bisher ohne Erklärung

Womit der Rückgang erklärt werden kann, wird von der IOM nicht mitgeteilt. Die C-Star der Defend-Europe-T-Shirt-Träger war Anfang Juli noch nicht auf ihrem PR-Spaß-Törn. Die NGOs waren zuvor da und danach. Die Zahl der Toten ist übrigens im Vergleich zum Vorjahreszeitraum leicht rückläufig.

Sie liegt Anfang August dieses Jahres bei 2.397 Menschen. Im letzten Jahr waren es in den ersten sieben Monaten 3.193 Menschen. Anzumerken sei, dass sich angesichts dieser hohen Zahl die Diskussion über die Notwendigkeit von Rettungseinsätzen von selbst erledigen müsste.

Neben dem beachtlichen Rückgang der Migration über das Mittelmeer im Juli, für dessen Analyse man noch Geduld braucht - von einem Trend kann man bei einem bislang einmaligen Rückgang schlecht sprechen -, gibt es noch eine andere Entwicklung, die ebenfalls interessant ist und schon seit längerer Zeit zu beobachten ist. Sie betrifft den Wechsel der Herkunftsländer.

Nigeria und Bangladesch sind Hauptherkunftsländer

Die Kriegs- bzw. Krisenländer Syrien oder Afghanistan sind schon lange nicht mehr die Hauptherkunftsländer. Im Zwei-Jahres-Schaubild der IOM, das sie vom italienischen Innenministerium übernommen hat, tauchen diese Länder gar nicht mehr auf.

Aus Nigeria stammt demnach 2016 und 2017 der größte Anteil der Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa wollen. Der bemerkenswerteste Anstieg wird bei den Migranten aus Bangladesch verzeichnet.

In Berichten über das Herkunftsland Nigeria erstaunt, dass Frauen den Großteil der Flüchtlinge stellen, wie dies im Guardian Anfang 2017 [7] zu erfahren ist. Demnach waren 11.000 Migranten aus Nigeria Frauen.

Der Guardian-Bericht zitierte seinerzeit die IOM mit der Erklärung, dass die meisten Frauen Opfer eines Handels mit Prostituierten seien, die mit dem falschen Versprechen auf gute einfache Jobs auf einen teueren Höllentrip geschickt wurden.

Ziel: Sexarbeit in Europa

Die enormen Schulden mussten die Frauen dann über Sexarbeit bezahlen. Allerdings irritiert der Bericht mit völlig anderen IOM-Zahlenangaben, als sie im eingangs genannten aktuellen IOM-Bericht auftauchen. Dort ist die Rede von gerundet 19.000 Migranten aus Nigeria im Jahr 2016. Im Guardian-Bericht vom Januar 2017 wird die IOM-Zahl mit 37.500 angegeben.

Weitere Irritationen liefert ein aktueller Bericht [8] von Voice of America. Bei VOA kommen nämlich Charity-Arbeiter zu Wort, die behaupten, dass ein großer Teil der Frauen schon wisse, was auf sie zukomme:

In Wirklichkeit wissen die meisten von ihnen, dass sie in Prostitution verwickelt werden. Einige denken vielleicht, dass sie in Fabriken oder bei Reinigungsdiensten arbeiten werden. Aber ein großer Teil unter ihnen weiß, dass sie zur Sex-Arbeit kommen.

Fabio Sorgoni [9]

Eine der Nigerianerinnen, die von VOA zitiert wird, bestätigt dies - mit dem Zusatz, dass viele der Frauen aus dem ländlichen Raum kämen, ohne gute Schulausbildung. Sie würden von der Familie und von Schulden getrieben auf gutes Einkommen durch Prostitution hoffen.

Als Push-Faktoren spielen kriegsähnliche Zustände im Norden Nigerias [10], wo Boko Haram präsent ist, eine Rolle und sicher auch die desolate Wirtschaftssituation Nigerias, die auch mit dem niedrigen Ölpreis in Zusammenhang steht.

Der Fall des Ölpreises

Der Fall des Ölpreises wird auch als Begründung dafür genannt, warum die Zahl der Migranten aus Bangladesch so deutlich angestiegen [11] ist. Saudi-Arabien beschäftigt durch den Rückgang der Ölpreise weniger Fremdarbeiter aus Bangladesch als die Jahre zuvor [12].

Dazu kommt, dass Libyen schon früher Ziel von Migranten aus Bangladesch war. Dort fanden sie etwa zu Gaddafis Zeiten Arbeit. Jetzt zu Zeiten schwieriger Anstellungsbedingungen in der Kleidungsindustrie [13] in ihrem Heimatland heißt das Ziel für viele ungelernte Billigarbeiter [14] Europa. Ihre Familien zu Hause leben von den Einkünften der Migrantenarbeiter. Rückführungen dürften nicht einfach sein.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3794970

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ungluecke/feuerwehrleute-auf-sizilien-als-brandstifter-festgenommen-15140268.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Lebensretter-werden-zu-Kriminellen-erklaert-3793852.html
[3] https://twitter.com/Martin_Sellner/status/892676655986159618
[4] http://www.einsatz.bundeswehr.de/portal/a/einsatzbw/start/aktuelle_einsaetze/eunavformed/dereinsatzimmittelmeer/!ut/p/z1/hU5PC4IwHP0sHbzuN9RMuy3wEgsEhXSXmLmmsZzMpX38Fp6CpHd7f3nAoATW86mT3Ha658rxikWXQ0wL6ie-XxRRiknqJ1lCTwEOQzj_CzBn4xUQDHkjoHIbu_WNAHJgwO584i80aGOVsIhfPw-hannfKJHpK1mEIzCpdL1cJ30dxBKYETdhhEFP4-TW2mHce9jD8zwjqbVUAjXCw78arR4tlF9BGB7ljIOtmijZvAHsjjV8/dz/d5/L2dBISEvZ0FBIS9nQSEh/#Z7_B8LTL2922TT6E0AE29P9LM3043
[5] http://www.iom.int/news/mediterranean-migrant-arrivals-reach-115109-2017-2397-deaths
[6] http://www.iom.int/news/mediterranean-migrant-arrivals-reach-115109-2017-2397-deaths
[7] https://www.theguardian.com/global-development/2017/jan/12/nigerian-women-trafficked-to-italy-for-sex-doubled-2016?CMP=share_btn_tw
[8] https://www.voanews.com/a/prey-to-violence-vulnerable-nigerian-women-struggle-on-italian-streets-/3972244.html
[9] https://www.voanews.com/a/prey-to-violence-vulnerable-nigerian-women-struggle-on-italian-streets-/3972244.html,Wohlt%C3%A4tigkeitsorganisationOntheRoad
[10] http://derstandard.at/2000062319618/Auch-nach-Boko-Haram-tobt-in-Nordnigeria-der-Ueberlebenskampf
[11] http://www.independent.co.uk/news/world/europe/refugee-crisis-migrants-bangladesh-libya-italy-numbers-smuggling-dhaka-dubai-turkey-detained-a7713911.html
[12] https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2017/05/19/where-are-europes-illegal-migrants-coming-from-surprise-its-bangladesh/?utm_term=.8b46a8395f9f
[13] https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2017/05/19/where-are-europes-illegal-migrants-coming-from-surprise-its-bangladesh/?utm_term=.8b46a8395f9f
[14] https://www.irinnews.org/analysis/2017/06/01/explaining-bangladeshi-migrant-surge-italy