Migration: Auf der Flucht in eine Verschwörungserzählung?

Migranten an der Grenze zwischen Belarus und Lettland. Archivfoto (Februar 2022): Belarusborder / CC BY-SA 4.0

Mediensplitter (41): Russland und Belarus schicken Migranten, um Deutschland gezielt zu schaden, so der Vorwurf. Er kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Was da aus dem Ruder läuft.

Haben sich die Führungen von Russland und Belarus verschworen, um mittels Flüchtlingen Deutschland zu schaden? Das klingt in doppelter Hinsicht wie Rechtsextremismus – okay, nicht gerade jener Rechtsextremismus der AfD derzeit, die sich aus offenkundig taktischen und scheinoppositionellen Gründen momentan betont freundlich gibt gegenüber der russischen Führung.

Wie dem auch sei: Jedenfalls klingt so etwas wie tradierter Rechtsextremismus, hier nämlich in der Tendenz rassistisch und verschwörungsmystisch. Doch das oben erwähnte Thema stammt an der Stelle direkt aus der sogenannten "Mitte der Gesellschaft", in diesem Falle von Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD), vom dortigen Landeskabinett unter Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke).

Die Zeitungen der Funke-Mediengruppe wie die Berliner Morgenpost fassen ein aktuelles Interview ihrer Zentral-Redaktion mit erwähntem Georg Maier so zusammen, unter der suchmaschinenoptimierten Schlagzeile im Netz: "Wie Russland die Menschen über die Balkanroute lockt."

Die Regime in Moskau und Minsk hätten schon 2021 Migration zum Druckmittel gemacht – ohne Rücksicht auf Menschenleben sei Flucht politisch missbraucht worden: Und danach sehe es auch jetzt aus, erkläre etwa Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) den Medien der Funke-Gruppe:

Hinter den wachsenden Migrationszahlen über Osteuropa steht eine gezielte Kampagne von Russland und Belarus. (…) Die Autokraten in Moskau und Minsk wollen Deutschland destabilisieren – und sie nutzen dafür auch Migration als Druckmittel.

Georg Maier, Interview mit Funke-Mediengruppe

Die Zahlen der Flüchtenden auf jenen Wegen sind zwar, wie es im Kleingedruckten heißt, laut Bundespolizei "weit unter dem Niveau von 2015 und 2016".

Aber im Sinne von "Haltet den Dieb!" lässt sich mit diesem Narrativ derzeit anscheinend sowohl Politik "der Mitte" machen als auch mediale Aufmerksamkeit erzielen. Maier sagte weiter laut Funke-Medien:

So viele Menschen in so kurzer Zeit können nur organisiert fliehen, zumal durch Diktaturen wie Belarus oder Autokratien wie Russland.

Zweierlei könnte politisch Verantwortlichen und Medienschaffenden hierzulande an solchen Äußerungen auffallen – und sollte doch (viel mehr) zu kritischen Nachfragen führen:


1. Ursachen und Sündenböcke


Menschen auf der Flucht werden auch und gerade in der "Mitte der Gesellschaft" als Hauptursache gegenwärtiger sozialer Spannungen markiert. Nicht z.B. der Kapitalismus als globales Weltwirtschaftssystem samt entsprechender staatlicher und supra-staatlicher (siehe EU) Standort-Konkurrenzen.

Nicht z.B. die damit verbundenen Kriege und Krisen, nicht z.B. verschärfte Verwüstungen und sonstige Extrem-Wetter-Phänomene durch die kapital-induzierte Klimakrise, nicht z.B. die Politik von EU, Bundesregierung und Landesregierungen etc..

Dabei werden Fragen nach Fluchtursachen und nach der Bekämpfung solcher Fluchtursachen praktisch gar nicht mehr gestellt – nicht mal mehr als rhetorische Beruhigungspille. Noch weniger, falls sich das steigern ließe, wird nach "radikalen", also an die Wurzel der Übel gehenden Lösungen gesucht.

Stattdessen heißt es auch beim Vorzeige-Regierungslinken Bodo Ramelow, also dem Vorgesetzten von Georg Maier in Erfurt, laut Tagesschau: Das von Ramelow regierte Bundesland Thüringen sei "angesichts steigender Flüchtlingszahlen "am Limit".

Der auf eine Wiederwahl im kommenden Jahr hoffende Linken-Politiker habe sich "wegen des Zuzugs vieler Migranten in sein Bundesland besorgt gezeigt".

Damit dürfte die Schuldfrage an vielen gesellschaftlichen Konflikten dieser Tage geklärt sein – zumindest für schlichtere Gemüter. Es geht nicht (mehr) um soziale Verhältnisse oder um strukturelle Gewalt, es geht in der Tendenz um Sündenböcke.


2. Was sich relativ mühelos rekonstruieren lässt


Dieses, um es vorsichtig zu sagen, nicht gerade fremden-freundliche Narrativ kommt nun aber auch noch als geradezu klassischer Verschwörungsmythos daher - mit viel Geraune, aber naturgemäß ohne belastbare Belege.

Für eine Verschwörungsannahme sind laut der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) folgende Aspekte wichtig, wobei das Ganze dort "Verschwörungstheorie" heißt:

Menschen würden sich im Geheimen zusammentun. Diese mutmaßlichen "Verschwörer" wollten ein gemeinsames Ziel erreichen. Dieses Ziel (genauer: dessen Erreichen, d. A.) schade aber (wieso aber? d. A.) oft anderen Menschen. Deshalb hielten es die Verschwörer geheim.

Eine Verschwörungsannahme vermische Realität und erfundene Fakten. Erkennen können man solche Verschwörungsannahmen generell daran, dass im Rahmen einer derartigen Annahme einer mutmaßlichen Verschwörung gefragt werde: "Wem nutzt es?"

Nicht, dass man diese ziemlich holzschnitt- oder treffender: holzhammer-artige Beschreibung teilen muss, vor allem nicht jene Verächtlichmachung der klassisch-kritischen Frage "Cui bono?", die ja klugen Köpfen schon lange und immer wieder hilft, Interessenlagen auf die Spur zu kommen.

Aber selbst nur all diese hochoffiziellen Merkmale lassen sich bei Georg Maiers Aussagen relativ mühelos rekonstruieren.

Doch es kommt noch besser (oder eben schlimmer) im offiziellen Text.