Migration: Schlüssel für die Wirtschaft, Herausforderung für den Sozialstaat

Deutschland auf einer Reliefkarte hervorgehoben

Medialer Tunnelblick: Wie selektive Berichterstattung das Migrations-Bild verzerrt. Warum Medien Migration nicht ganzheitlich abbilden. Eine Analyse.

Migration ist ein Dauerthema in Medien und Gesellschaft. Vielfach wird dabei jedoch nur jeweils ein Aspekt oder ein kleiner Ausschnitt erörtert. Je nachdem, was betrachtet wird, können die Ergebnisse oder Schlussfolgerungen sehr unterschiedlich ausfallen.

Deutschland kann seinen Wohlstand einer Studie zufolge nur mit Zuwanderung erhalten. Ansonsten drohe dem Arbeitsmarkt ein massiver Einbruch. In den kommenden Jahren seien jährlich rund 288.000 Arbeitskräfte aus aller Welt nötig.

Tagesschau

So fasst die Tagesschau die Studie "Zuwanderung und Arbeitsmarkt" der Bertelsmann-Stiftung zusammen (ohne sie zu verlinken).

Arbeitsmarkt: Die nächsten 16 Jahre

Die Studien-Autoren Alexander Kubis und Lutz Schneider haben dabei anhand von Projektionen den für die Wirtschaft notwendigen Zuzug berechnet, um auch im Jahr 2040 bzw. 2060 ein genügend großes "Erwerbspersonenpotential" zu haben.

Für die nächsten 16 Jahre haben sie dabei auch die Unterschiede in den 16 Bundesländern betrachtet. Während etwa bis 2040 in Berlin und Hamburg mit einer Zunahme des Arbeitskräftepotentials gerechnet wird, soll dieses trotz Zuwanderung in allen ostdeutschen Bundesländern, aber auch in Niedersachen, Rheinland-Pfalz, NRW und Schleswig-Holstein zum Teil deutlich zurückgehen.

Verglichen mit dem Bedarf soll sich so in Berlin ein leichtes Überangebot, in Hamburg und Bremen hingegen ein Unterangebot ergeben.  

Für das Jahr 2040 wird mit einem betrieblichen Arbeitskräftebedarf von 44,3 Millionen Personen kalkuliert. Das sind trotz aller technischen Fortschritte nur 600.000 weniger als im Jahr 2021, wobei für die nächsten Jahre noch von einem wachsenden Bedarf ausgegangen wird, unter anderem in der Bauwirtschaft.

Demografie und Zuwanderung

Ohne Zuwanderung nimmt die Bevölkerungsgröße in Deutschland jedoch fortwährend ab, und selbst bei einem Plus von 250.000 Menschen pro Jahr zeigt die Projektion noch ein leichtes Schrumpfen.

Zu beachten ist dabei, dass der errechnete Bedarf von jährlich 288.000 ausländischen Arbeitskräften den Netto-Bedarf meint. Aufgrund von Wegzügen ist der Brutto-Bedarf deutlich höher. Zudem steht nicht jeder Neuzugang dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, er ist zunächst wesentlich von Alter und Qualifikation abhängig.

Die Studie schreibt dabei die Trends der letzten Jahre für ihre Projektion fort, unter anderem in Form einer höheren Quote erwerbstätiger Frauen und mehr Alten im Berufsleben, um das Arbeitskräfte-Potenzial in der Bevölkerung zu ermitteln.

Darin wird z.B. für Menschen ab 70 Jahren kaum noch Potenzial gesehen, während es bei 30-jährigen Männern nahe 100-Prozent liegt, bei Frauen deutscher Nationalität bei rund 90 Prozent und bei Frauen ausländischer Nationalität bei etwas über 60 Prozent.

Zuwanderung in Zahlen

Zwischen 1991 und 2023 wanderten (ohne Zensuskorrekturen) rund 38,5 Millionen Menschen nach Deutschland ein, also etwa 350.000 pro Jahr. Gleichzeitig haben aber auch 27,2 Millionen Menschen das Land verlassen, überwiegend Ausländer.

Im Saldo sind demnach also 11,4 Millionen mehr Menschen nach Deutschland gekommen, als es (vorübergehende) Auswanderungen gab. Heute haben damit fast 30 Prozent der Bevölkerung "im weiteren Sinne einen Migrationshintergrund", heißt es in der Studie.

"Auf der Basis des Ausländerzentralregisters sind im Jahr 2023 rund 1,5 Millionen Personen zugezogen", davon 29 Prozent aus EU-Staaten, 71 Prozent aus sogenannten "Drittstaaten". Von letzteren erfolgten nur elf Prozent "direkt zum Zweck der Ausbildung oder Erwerbstätigkeit".

Die Studie betont aufgrund der vielen Unwägbarkeiten, dass es sich bei ihr um eine Projektion und nicht um eine Prognose handele.

Der Bedarf der Wirtschaft

Mit Blick auf die in der öffentlichen Diskussion häufige Vermischung aller Migrationsformen heißt es:

Aus diesen Befunden ergibt sich einerseits, dass die Bemühungen, ausländische Fachkräfte zu rekrutieren, im Zuge der Erwerbsmigration intensiviert und verbliebene Hürden adressiert werden müssen. Andererseits gilt es, die nicht arbeitsmarktorientierte Zuwanderung, sofern sie dauerhaften Charakter hat, stärker für den deutschen Arbeitsmarkt nutzbar zu machen.

Bertelsmann-Studie

Bisher besetzen Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten überdurchschnittlich oft Stellen mit geringem Anforderungsprofil.

Die Bertelsmann-Studie fokussiert auf den Bedarf der deutschen Wirtschaft. Sie beschäftigt sich nicht mit Flucht und Asyl, also humanitärem Zuzug. Ferner heißt es:

Die Perspektiven der Herkunftsländer blieben ausgeblendet. Und andere ebenso essenzielle Perspektiven auf Zuwanderung müssen in einem nachhaltigen Diskurs gleichberechtigt berücksichtigt werden, um die Akzeptanz von Zuwanderung nicht noch weiter zu gefährden.

Bertelsmann-Studie

Eine der vielen anderen Perspektiven ist die des Sozialstaats.

Sozialsystem: Die Nachhaltigkeitslücke und das Versprechen des Staates

So kommt eine Berechnung von Bernd Raffelhüschen, Stefan Seuffert und Florian Wimmesberger für die Stiftung Marktwirtschaft zu dem Ergebnis, dass Zuwanderung die sogenannte "Nachhaltigkeitslücke" im deutschen Sozialsystem nicht schließen kann.

Mit dieser Lücke ist gemeint, dass der Bedarf an künftigen Sozialausgaben nicht von den Einnahmen getragen wird.

Im Sinne einer Schuldenquote entspricht die Nachhaltigkeitslücke der tatsächlichen Staatsverschuldung im Verhältnis zum heutigen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die tatsächliche Staatsverschuldung setzt sich dabei aus der heute bereits sichtbaren oder expliziten Staatsschuld und der heute noch unsichtbaren oder impliziten Staatsschuld zusammen.

Eine positive Nachhaltigkeitslücke zeigt an, dass die aktuelle Fiskalpolitik auf Dauer nicht tragfähig ist und daher Steuer- und Abgabenerhöhungen oder Einsparungen zukünftig unumgänglich sind.

Studie Stiftung Marktwirtschaft

Das Grundproblem ist demnach ein über seine Verhältnisse wirtschaftender Staat. Laut Raffelhüschen, Seuffert und Wimmesberger verspricht die deutsche Politik den Bürgern mehr Leistungen, als diese über ihren Lebenszyklus finanzieren.

Wie Migration das Problem lösen könnte?

Migration könnte dieses Problem nur lösen, wenn hier deutlich mehr erwirtschaftet und in Form von Steuern und Abgaben an den Staat gezahlt würde, als die Migranten selbst beanspruchen. Dies ist jedoch aufgrund der bisherigen Entwicklung nicht zu erwarten und wäre wohl auch ethisch fragwürdig.

Der Sozialstaat ist in seiner jetzigen Form sowohl für die in Deutschland lebende Bevölkerung als auch für Zuwanderer auf Dauer nicht bezahlbar.

Studie Stiftung Marktwirtschaft

Derzeit tragen jedoch Zuwanderer unterm Strich weniger zur Sozialstaatsfinanzierung bei als Deutsche (mit und ohne Migrationshintergrund). Entsprechend ergibt die Berechnung für den hypothetischen Fall, dass es künftig gar keine Zuwanderung mehr gäbe, eine deutlich geringere Nachhaltigkeitslücke von 347,4 Prozent des BIP, statt 497,1 Prozent bei einer angenommenen Netto-Zuwanderung von 293.000 Menschen pro Jahr.

Nachhaltigkeitslücke bleibt

Nur in einem als "First-Best-Szenario" beschriebenen Modell senkt nach diesen Berechnungen Migration die Nachhaltigkeitslücke, nämlich wenn "Migranten und Migrantinnen im Durchschnitt das Qualifikationsmuster der einheimischen Bevölkerung" aufweisen und die ansonsten mit sechs Jahren angesetzte Integrationszeit komplett entfällt.

Dann läge die Nachhaltigkeitslücke nur noch bei 302 Prozent des BIP.

Die Ursache für diese positive fiskalische Bilanz liegt ausschließlich in der Altersstruktur der Migration. Denn auch für neugeborene Inländer ergeben sich über den restlichen Lebenszyklus negative Nettozahlungen, sofern das derzeitige Abgaben- und Leistungsniveau in der Zukunft beibehalten wird.

Unter der Prämisse einer konstanten fiskalischen Situation, das heißt bei unveränderten staatlichen Leistungen sowie Steuer- und Beitragssätze, verursachen Kinder über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg höhere Kosten, als sie zur Deckung beitragen (negatives Generationenkonto).

Dies verdeutlicht, ähnlich wie die positive Nachhaltigkeitslücke, die mangelnde Nachhaltigkeit der deutschen Fiskalpolitik.

Studie Stiftung Marktwirtschaft

Eine Fortführung der bisherigen Migration hingegen vergrößere die Nachhaltigkeitslücke.

Während die Bertelsmann-Studie also mit Blick auf die Bedürfnisse der Wirtschaftsbetriebe auf Netto-Zuwanderung setzt, sieht die Stiftung-Marktwirtschaft-Studie darin Nachteile für die Finanzen von Staat und Sozialversicherungen; es sei denn, es würde deutlich verstärkt auf hochqualifizierte Arbeitskräfte gesetzt.

Erwerbsmigration, familiäre und humanitäre Migration haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesellschaft und ihre Sozialsysteme. Sie sollten daher in Debatten auch getrennt betrachtet werden. Und auch die "Sozialstaatsgläubigkeit" der Einheimischen sollte in den Blick genommen werden.

Darum wird es in einem Folgebeitrag in den nächsten Tagen gehen.