Milliarden für Erdogan

Die EU bekommt die Flüchtlingskrise nicht in den Griff. Nun soll die Türkei helfen, die Grenzen dicht zu machen. Doch das könnte teuer werden - finanziell und politisch

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Drei Gipfel zur Flüchtlingskrise haben die Staats- und Regierungschefs der EU in diesem Jahr bereits abgehalten. Gebracht haben sie nicht viel, die Lage hat sich permanent verschlechtert. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Erwartungen an den vierten Gipfel zu diesem Reizthema heruntergeschraubt wurden. Diesmal wolle man vor allem über die Umsetzung bereits vereinbarter Maßnahmen reden, hieß es am Donnerstag in Brüssel, neue Beschlüsse seien nicht zu erwarten.

Das klingt langweilig, nach EU-Routine. Dabei ging es ans Eingemachte. Schon zu Beginn des Gipfels wurde deutlich, dass die vereinbarten Maßnahmen nicht umgesetzt wurden - allem Gerede von der schlimmsten humanitären Krise seit dem 2. Weltkrieg zum Trotz. Von den 120.000 angekündigten wurden bisher gerade einmal 14 Flüchtlinge umgesiedelt - reine Symbolpolitik. Und von den 775 angeforderten Experten für die Grenzschutzagentur Frontex wurden erst 48 freigestellt - ein Tropfen auf den heißen Stein.

Angela Merkel mit dem (noch) portugisieschem Regierungschef Pedro Passos Coelho, dem Kommisionspräsidenten Jean-Claude Juncker und dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Bild: EU

Auch bei den beim letzten Gipfel groß angekündigten Finanzhilfen für Krisenländer im Nahen Osten und in Afrika ist nicht viel zu sehen. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker warf den Mitgliedstaaten vor, gegenüber ihren Zusagen mit 2,25 Milliarden Euro "im Verzug" zu sein. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sagte, wenn Länder die Finanzhilfen nicht bekämen, "dann können wir Hotspots einrichten, so viele wie wir wollen". Dann werde "das Flüchtlingsproblem nicht zu managen sein".

Bundeskanzlerin Angela Merkel drückte sich wie immer etwas vornehmer aus: Sie sprach von einer "historischen Bewährungsprobe" für die EU. Alle 28 EU-Länder müssten nun an einem Strang ziehen; es gehe nicht an, dass Deutschland die meisten Flüchtlinge aufnehme und dann auch noch die meisten Grenzschutzbeamten stellen müsse. Dass die mangelnde Hilfsbereitschaft anderer EU-Staaten mit den deutschen Alleingängen in der Asylpolitik zu tun haben könnte, kam ihr offenbar nicht in den Sinn. Weder wurde auf diesem Gipfel die schwierige Rolle Deutschlands diskutiert, noch wagten sich die EU-Chefs an eine offene Aussprache über die EU-Außenpolitik und ihre Fehler. Dabei wäre da viel zu besprechen: Vom endgültigen Scheitern des Nahost-Friedensprozesses über das europäische Versagen in der Syrien-Politik bis hin zur ambivalenten Rolle des EU-Beitrittskandidaten Türkei, der lange den "Islamischen Staat" unterstützte und nun hunderttausende Flüchtlinge nach Europa schickt.

Dabei waren Syrien und die Türkei sogar die Hauptthemen des ersten Gipfeltages. Doch zu Syrien fanden die Chefs zunächst keine klare Haltung. Statt über eigene Versäumnisse sprachen sie über die Militärintervention Russlands - ob man sie verurteilen soll, war umstritten. Und die Türkei wurde nicht als problematischer Partner betrachtet, der sich immer mehr von europäischen Werten und Politiken entfernt, sondern als unverzichtbarer, ja einziger Schlüssel zur Lösung der Flüchtlingskrise.

Schon diese Perspektive ist fragwürdig. Noch fragwürdiger ist aber die Art und Weise, wie die EU einen möglichen Deal mit der Türkei vorbereitet. Nachdem Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor zwei Wochen bei einem Besuch in Brüssel wie ein König empfangen worden war, wurden die Chefs nun mit einem umfangreichen Forderungskatalog Erdogans konfrontiert. Er war von EU-Kommissionsvize Frans Timmermans bei einem Besuch in Ankara ausgehandelt - oder vielleicht besser: entgegengenommen - worden und lag erst kurz vor Beginn des Gipfels auf dem Tisch.

Zur Begrenzung des Flüchtlingsstroms nach Europa ist der EU fast jedes Mittel recht

Da konnte sich manch ein Staats- und Regierungschef überrumpelt fühlen. Vor allem Frankreichs Präsident Francis Hollande wirkte ungehalten - hatte er doch bei seiner Ankunft in Brüssel darauf bestanden, dass es keine einseitigen Zugeständnisse und schon gar keine Zusagen bei den umstrittenen Visaerleichterungen für die Türkei geben dürfe. Auch Ratspräsident Donald Tusk trat auf die Bremse und forderte, Erdogan erst dann entgegenzukommen, wenn dieser den Zustrom von Flüchtlingen effektiv begrenze.

Doch Timmermans und seine Freunde, zu denen man auch Kanzlerin Merkel rechnen darf, sind der Türkei schon weit entgegengekommen, sehr weit sogar. Sie haben nicht nur die eigentlich fälligen, kritischen Fortschrittsberichte zur Türkei und anderen EU-Beitrittskandidaten aufgeschoben. Sie haben das Land, das mit einem Bein im Bürgerkrieg und mit dem anderen im Krieg in Syrien steckt, auch schon als "sicheres Herkunftsland" für Flüchtlinge bezeichnet, was die Abschiebung erleichtert.

Viktor Orban, der sich als harter Mann in der Flüchtlingsfrage profilieren will, bei der Ankunft in Brüssel. Bild: EU

Doch das ist Erdogan nicht genug. Er fordert eine massive Aufstockung der versprochenen EU-Hilfen - von einer auf drei Milliarden Euro. Außerdem will er weitgehende und schnelle Visaerleichterungen schon 2016, eine persönliche Einladung zu EU-Gipfeln und die Wiederaufnahme der seit zwei Jahren auf Eis gelegten EU-Beitrittsgespräche. Gleich fünf Verhandlungskapitel will der türkische Staatschef öffnen; üblich sind eins oder zwei im Jahr.

Diese ziemlich unverschämte Wunschliste will die EU nun in einen "Aktionsplan" einbauen, der nur ein Ziel verfolgt: die türkisch-griechische Seegrenze zu schließen und den Flüchtlingsstrom nach Europa zu begrenzen. Dazu ist der EU fast jedes Mittel recht. Neben der besseren Integration syrischer Migranten in den türkischen Arbeitsmarkt sind auch neue Lager sowie "Hotspots" zur Aussortierung möglicher Asylbewerber für die EU geplant.

"Alles, was uns hilft, dass Flüchtlinge dortbleiben können und dort menschlich behandelt werden, wo sie sind in der Region, ist richtig", sagte der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann. Hollande erklärte, es gehe darum, Länder wie die Türkei, Jordanien und den Libanon zu unterstützen, um dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge dortblieben. Merkel will am Wochenende sogar eigens nach Ankara fliegen, um für die EU-Pläne zu werben.

Mit schnellen Fortschritten wird zwar nicht gerechnet. Beim EU-Gipfel wurde hart um Erdogans Forderungskatalog gestritten, das Pokerspiel dürfte bis zu den Wahlen in der Türkei Anfang November weitergehen. Klar ist aber jetzt schon eins: Aus eigener Kraft ist die EU nicht willens und in der Lage, diese Krise zu lösen. Umso verzweifelter wirft sie sich nun in die Arme der Türkei und ihres zunehmend autoritären Herrschers Erdogan.