Millionen Faulenzer? Der Mythos vom Sozialschmarotzer und die Fakten dahinter
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Faul, fauler, Feindbild: Wenn die Kettensäge ausgepackt wird. Über den politischen Lieblingssport Bürgergeldler-Bashing. Hintergründe und Zahlen (Teil 1).
"Mehr Milei wagen, mehr Musk" – die Forderung des FDP-Chefs Christian Lindner brachte ihm viel Scheinwerferlicht und Aufmerksamkeit. Ob er auch die Kettensäge auspacken wolle wie der argentinische Präsident, fragte ihn RND. Lindners Antwort:
Was wir von Milei lernen können, ist, auch den Bürokratismus radikal infrage zu stellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass das bürokratische Geflecht, das uns lähmt, zurückgeschnitten werden muss. Und unser Sozialstaat ist teuer, aber nicht zwingend sozial. Er schützt nicht nur die Bedürftigen und Schwachen, sondern ist ein Tag und Nacht arbeitendes Pumpwerk zur Umverteilung von Einkommen geworden.
Christian Lindner
Die Würde des Einzelnen
Vor nicht einmal zwei Jahren wurde das Bürgergeld von Arbeitsminister Hubertus Heil eingeführt. Dadurch sollte "die Würde des Einzelnen geachtet und die gesellschaftliche Teilhabe gefördert werden".
Zudem war von "Respekt" und der "Anerkennung der Lebensleistung" die Rede.
Soziale Härte der CDU
Nun bringt sich die CDU für den Wahlkampf in Stellung. Generalsekretär Carsten Linnemann forderte kategorisch:
"Wer arbeiten kann, muss arbeiten gehen, ansonsten gibt es keine Sozialleistungen."
Schon seit langem hat sich die Christlich Demokratische Union insgesamt den Kampf gegen die vermeintliche Arbeitsverweigerer, auch gerne "Totalverweigerer" genannt, auf die Fahnen geschrieben. Bereits im Frühjahr stellte die CDU ihren Plan einer der Abschaffung des Bürgergelds vor, das durch eine Grundsicherung ersetzt werden sollte.
Die politische Nachricht war eindeutig:
Lehnt ein arbeitsfähiger Grundsicherungsempfänger ohne sachlichen Grund eine ihm zumutbare Arbeit ab ("Totalverweigerer"), soll zukünftig davon ausgegangen werden, dass er nicht bedürftig ist. Ein Anspruch auf Grundsicherung besteht dann nicht mehr.
Zudem sieht das Konzept die Abschaffung der Karenzzeit von zwölf Monaten für das sogenannte Schonvermögen vor, wobei dessen Höhe abgesenkt werden soll.
Nach Willen der CDU soll auch das Versäumen eines Termins beim Jobcenter massiv geahndet werden. Wer "ohne sachlichen Grund mehr als einmal nicht erscheint", soll so lange kein Unterstützung mehr erhalten, "bis der Gesprächsfaden wieder aufgenommen wird".
Soziale Härte der FDP
Die Christdemokraten stehen mit ihr Null-Toleranz keineswegs alleine. Sie gibt der FDP die Klinke in die Hand. Der Fraktionschef Christian Dürr forderte im Sommer eine Kürzung des Bürgergelds und der ehemalige Finanzminister Christian Lindner, der seine Wut über Menschen, "die Geld bekommen fürs Nichtstun" ausgedrückt hatte, schlug vor Kurzem erneut Einsparungen beim Bürgergeld vor.
Soziale Härte der SPD
Im Kampf gegen mehr oder minder Totalverweigerer will der Arbeitsminister nicht komplett nachstehen. Im Dezember vergangenen Jahres legte Hubertus Heil seinen Entwurf vor, dass Menschen, die sich wiederholt weigern einen Jobvorschlag anzunehmen, bis zu zwei Monaten das Bürgergeld gestrichen werden kann.
Seit April diesen Jahres kann "Totalverweigerern" sogar das Bürgergeld komplett gestrichen werden. Im Juli dann die nächste Verschärfung: Arbeitslose, die Termine nicht wahrnehmen, erhalten einen Monat lang 30 Prozent weniger.
Menschen, die eine "zumutbare Beschäftigung" ablehnen, wird drei Monate lang das Bürgergeld um 30 Prozent zusammengestrichen. Künftig sollen Bürgergelder auch dazu verpflichtet sein, für eine neue Stelle bis zu drei Stunden zu pendeln oder sogar dafür umzuziehen.
Faulen-Bashing des Staates
Der Kampf gegen angeblich faule Menschen war schon immer populär, wenn im Sozialbereich eingespart werden sollte.
Als nach der deutschen Wiedervereinigung deutliche Sparmaßnahmen durchgesetzt werden sollten, für die sich der Sozialbereich immer sehr eignet, mahnte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Herbst 1993 an:
Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren.
Ein Jahr später stieß damalige Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble ins selbe Horn:
Mehr Eigenverantwortung des Einzelnen, weniger soziale Hängematte.
Die neue rot-grüne Regierung beschloss mit Hartz IV eine massive Veränderung und Reduzierung des Sozialstaates. Entsprechend des Umfangs der Kürzungen war der Umfang der Vorwürfe gegen die vermeintlich eigentlich Schuldigen. Im Frühjahr 2001 erklärte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder beispielsweise klipp und klar:
Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.
Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping ergänzte, Arbeitsunwilligen unter 25 Jahren solle "jede öffentliche Unterstützung" gestrichen werden. Arbeitsminister Franz Müntefering wurde bei Paulus fündig und warnte:
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.
Der Kampf gegen "Faulenzer", "Drückeberger" und "Scheinarbeitslose" war eröffnet. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement bezeichnete die Zielgruppe der Debatte sogar als "Parasiten".
Die Überzeugung im Namen sozialer Gerechtigkeit gegen die Sozialschmarotzer der Gesellschaft zu Recht vorzugehen, ebnete den Weg für die Agenda 2010 und Hartz IV.
Wer kann nicht guten Herzens der Aussage zustimmen, dass es zutiefst ungerecht ist, dass Menschen für Dauerparty auch noch von Steuergeldern durchgefüttert werden, das die hart arbeitende Bevölkerung sich vom Munde absparen muss? Ist das nicht zutiefst ungerecht und unsozial?
Faulen-Bashing des Volkes
Mit ihren harten Vorurteilen gegenüber Beziehern von Sozialhilfe stehen viele Politiker keineswegs allein. Auch wenn die große Mehrheit der Deutschen Armut durch soziale Ungerechtigkeit und nur ein Achtel die Ursache in Faulheit begründet sieht), halten sich sehr negative und abwertende Vorstellungen über Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger hartnäckig.
Eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2012 zeigte, dass "57 Prozent der Deutschen denken, Hartz IV-Empfänger wären bei der Arbeitsuche zu wählerisch, ebenso viele halten sie für schlecht qualifiziert. Über die Hälfte der Befragten geht davon aus, dass sie überhaupt nicht aktiv nach Arbeit suchen und nichts zu tun haben. Rund 40 Prozent glauben, Hartz IV-Empfänger wollen nicht arbeiten".
Frei nach dem damaligen SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Beck: "Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job."
Ein erstaunlich angenehm eindimensionales Menschenbild, das die Schuldzuweisung möglichst einfach gestaltet und eine entsprechend eindimensionale Politik zu begründen scheint. Inwiefern sie aber der Wirklichkeit entspricht muss dahin gestellt bleiben.
Die bereits angeführte Umfrage wandte sich auch an Menschen in Hartz IV. Der Wunsch nach Arbeit war eindeutig:
75 Prozent der Menschen in der Grundsicherung Arbeit das Wichtigste in ihrem Leben. Über 70 Prozent von ihnen wären sogar bereit, Arbeit anzunehmen, für die sie überqualifiziert sind.
Allensbach-Umfrage, 2012
Bevor man Politiker und der Bevölkerung vor einer erschreckenden Tendenz zur Diffamierung von Menschen ohne Arbeit warnt, muss die Frage geklärt werden, wie groß eigentlich die Gruppe der Totalverweigerer in Wirklichkeit ist, die so sehr im Fokus der Debatte stehen.
Abgleich mit der Wirklichkeit
Erstaunlicherweise herrscht nämlich starke Uneinigkeit wie groß dieses angeblich so fundamentale Problem in Wirklichkeit ist. Arbeitgeberpräsident Robert Dulger ist sich sicher:
Wir haben fast vier Millionen Menschen im Bürgergeld-System, die arbeiten können – das ist zu hoch.
Hintergrund: Von den 5,5 Millionen Menschen, die zu diesem Zeitpunkt – im Frühjahr diesen Jahres - vom Bürgergeld leben, waren 1,5 Millionen nicht erwerbsfähige Kinder unter 15 Jahren. Auch wenn Dulger dies nicht impliziert, könnte man auf die Zahl von vier Millionen Totalverweigerer in Deutschland kommen.
CDU-Parteichef Friedrich Merz bringt eine andere Zahl ins Spiel:
Wir reden über die 1,7 Millionen arbeitsfähigen Menschen in Deutschland, die arbeiten könnten, aber sich ausrechnen, dass es sich eigentlich gar nicht lohnt, wenn man Bürgergeld bezieht. Und an dieser Stelle, sagen wir: Das müssen wir ändern.
Also 1,7 Millionen Totalverweigerer in Deutschland?
Eine andere Zahl scheint Arbeitsminister Heil zu implizieren. Auf Nachfrage von Sandra Maischberger, wie er genau auf die Summe von 170 Millionen Euro kommen würde, die er mit Sanktionen gegen "Totalverweigerer" einsparen möchte, wich er aus und nannte keine konkrete Zahl der voraussichtlich zu sanktionierenden Menschen.
Tatsächlich müssten 150.000 Bürgergelder sanktioniert werden, um auf die Einsparung zu kommen.
CDU-Generalsekretär Linnemann hat nun eine weitere, eher allgemeine Zahl, die er in den politischen Diskussionsring wirft. Er ist sich sicher, dass "eine sechsstellige Zahl von Personen grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen".
Ein Blick hinter die Zahlen
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales antwortete auf eine Anfrage von "Zeit Online" im Juli, dass von 4,1 Millionen Menschen, die im erwerbsfähigen Alter Bürgergeld beziehen, 20 Prozent arbeiten.
814.000 Menschen sind sogenannte Aufstocker, die ihr sehr geringes Einkommen mit Bürgergeld ergänzen müssen. Wohl kaum Totalverweigerer. Weitere 1,4 Millionen Menschen können keine Arbeit annehmen, obwohl sie es vermutlich wollen, weil sie kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen, studieren, in einer Ausbildung sind. Wohl kaum Totalverweigerer.
Bleiben etwa 1,9 Millionen Menschen: Viele beherrschen die deutsche Sprache nicht und haben Abschlüsse, die hierzulande nicht anerkannt sind (Beispielsweise kann die Anerkennung ausländischer Approbationen trotz Ärztemangel in Deutschland sehr lange dauern). Auch hier sollte man mit der Diffamierung "Totalverweigerer" sehr vorsichtig sein.
Und es sind tatsächlich …
Ein zielführender Weg, um die Anzahl dieser ominösen und viel diskutierten Gruppe zu beziffern, ist es die Zahl derjenigen Bürgergeldbezieher zu betrachten, die sanktioniert wurden. Im letzten Jahr waren das 128.415 Menschen.
Das entspricht 2,6 Prozent aller erwerbsfähigen Bürgergeldbezieher. Die Bundesagentur für Arbeit bringt es gegenüber der Zeit pointiert auf den Punkt: "Damit kommen 97 von 100 Menschen mit Leistungsminderungen nicht in Berührung."
Mit Abstand der häufigste Grund für Sanktionen (84,5 Prozent) waren übrigens Termine, die nicht wahrgenommen worden sind.
Und wie hoch ist nun die Zahl der "Totalverweigerer"?
Die Bundesagentur für Arbeit kann darüber Auskunft geben, denn es wird konkret erfasst, wer einen Job, eine Ausbildung oder Maßnahme verweigert hat und deshalb sanktioniert wurde. Dabei geht es um insgesamt 15.777 Personen.
Nebenschauplatz
Nicht 4 Millionen.
Nicht 1,7 Millionen.
Nicht 150.000.
Keine sechsstellige Zahl.
15.777 Menschen.
Steht diese riesige politische und mediale Aufmerksamkeit im Verhältnis zur Größe des Problems? Stefan Graaf, Sprecher der Jobcenter in Nordrhein-Westfalen, hält mit seiner Einschätzung der Diskussion nicht hinterm Berg:
Wir reden da wirklich über extreme Einzelfälle, die sich so im Ein-, Zwei-Prozent-Bereich bewegen. Das zeigt uns auch, dass die Debattenbeiträge um das Bürgergeld oft ein sehr verengtes und teilweise auch unzutreffendes Bild wiedergeben, weil sie sich an Extremfällen orientieren und nicht an der Allgemeinheit der von uns betreuten Menschen.
Stefan Graf, Welt
Nimmt man gebührend zur Kenntnis, wie gering das Problem der sogenannten "Totalverweigerer" in Wirklichkeit ist, offenbart sich die ganze Absurdität der Debatte, die sich Woche für Woche in den politischen und medialen Fokus drängt und in der sich CDU, FDP und SPD geradezu in ihrer Aufbauschung des Themas und mit fast schon abstrusen Zahlen gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, um sich als Retter des Abendlandes zu gerieren.
Mit der Lösung eines wirklich wichtigen Problems hat dies so gut wie nichts zu tun. Wirkliche Probleme im Arbeitsmarkt und beim Bürgergeld liegen woanders. David Gutensohn kommentiert zu Recht in der Zeit:
Gerade wenn Arbeitslose Teilzeitstellen suchen, ist ihr Verdienst oft so gering, dass sie weiterhin mit Sozialleistungen aufstocken müssen. An dieser Stelle etwas zu ändern und parallel in Kitas und mehr Pflegeplätze zu investieren, wäre sinnvoll. Denn das würde die Menschen betreffen, die aktuell nicht arbeiten können, und nicht nur die wenigen, die es nicht wollen.
Der folgende zweite Teil dieser Artikelserie wird sich mit der Wirksamkeit der vielgelobten Sanktionen und einem Blick auf die "anderen Faulen" beschäftigen.