Millionen Faulenzer? Der Mythos vom Sozialschmarotzer und die Fakten dahinter

Andreas von Westphalen

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Faul, fauler, Feindbild: Wenn die Kettensäge ausgepackt wird. Über den politischen Lieblingssport Bürgergeldler-Bashing. Hintergründe und Zahlen (Teil 1).

"Mehr Milei wagen, mehr Musk" – die Forderung des FDP-Chefs Christian Lindner brachte ihm viel Scheinwerferlicht und Aufmerksamkeit. Ob er auch die Kettensäge auspacken wolle wie der argentinische Präsident, fragte ihn RND. Lindners Antwort:

Was wir von Milei lernen können, ist, auch den Bürokratismus radikal infrage zu stellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass das bürokratische Geflecht, das uns lähmt, zurückgeschnitten werden muss. Und unser Sozialstaat ist teuer, aber nicht zwingend sozial. Er schützt nicht nur die Bedürftigen und Schwachen, sondern ist ein Tag und Nacht arbeitendes Pumpwerk zur Umverteilung von Einkommen geworden.

Christian Lindner

Die Würde des Einzelnen

Vor nicht einmal zwei Jahren wurde das Bürgergeld von Arbeitsminister Hubertus Heil eingeführt. Dadurch sollte "die Würde des Einzelnen geachtet und die gesellschaftliche Teilhabe gefördert werden".

Zudem war von "Respekt" und der "Anerkennung der Lebensleistung" die Rede.

Soziale Härte der CDU

Nun bringt sich die CDU für den Wahlkampf in Stellung. Generalsekretär Carsten Linnemann forderte kategorisch:

"Wer arbeiten kann, muss arbeiten gehen, ansonsten gibt es keine Sozialleistungen."

Schon seit langem hat sich die Christlich Demokratische Union insgesamt den Kampf gegen die vermeintliche Arbeitsverweigerer, auch gerne "Totalverweigerer" genannt, auf die Fahnen geschrieben. Bereits im Frühjahr stellte die CDU ihren Plan einer der Abschaffung des Bürgergelds vor, das durch eine Grundsicherung ersetzt werden sollte.

Die politische Nachricht war eindeutig:

Lehnt ein arbeitsfähiger Grundsicherungsempfänger ohne sachlichen Grund eine ihm zumutbare Arbeit ab ("Totalverweigerer"), soll zukünftig davon ausgegangen werden, dass er nicht bedürftig ist. Ein Anspruch auf Grundsicherung besteht dann nicht mehr.

Zudem sieht das Konzept die Abschaffung der Karenzzeit von zwölf Monaten für das sogenannte Schonvermögen vor, wobei dessen Höhe abgesenkt werden soll.

Nach Willen der CDU soll auch das Versäumen eines Termins beim Jobcenter massiv geahndet werden. Wer "ohne sachlichen Grund mehr als einmal nicht erscheint", soll so lange kein Unterstützung mehr erhalten, "bis der Gesprächsfaden wieder aufgenommen wird".

Soziale Härte der FDP

Die Christdemokraten stehen mit ihr Null-Toleranz keineswegs alleine. Sie gibt der FDP die Klinke in die Hand. Der Fraktionschef Christian Dürr forderte im Sommer eine Kürzung des Bürgergelds und der ehemalige Finanzminister Christian Lindner, der seine Wut über Menschen, "die Geld bekommen fürs Nichtstun" ausgedrückt hatte, schlug vor Kurzem erneut Einsparungen beim Bürgergeld vor.

Soziale Härte der SPD

Im Kampf gegen mehr oder minder Totalverweigerer will der Arbeitsminister nicht komplett nachstehen. Im Dezember vergangenen Jahres legte Hubertus Heil seinen Entwurf vor, dass Menschen, die sich wiederholt weigern einen Jobvorschlag anzunehmen, bis zu zwei Monaten das Bürgergeld gestrichen werden kann.

Seit April diesen Jahres kann "Totalverweigerern" sogar das Bürgergeld komplett gestrichen werden. Im Juli dann die nächste Verschärfung: Arbeitslose, die Termine nicht wahrnehmen, erhalten einen Monat lang 30 Prozent weniger.

Menschen, die eine "zumutbare Beschäftigung" ablehnen, wird drei Monate lang das Bürgergeld um 30 Prozent zusammengestrichen. Künftig sollen Bürgergelder auch dazu verpflichtet sein, für eine neue Stelle bis zu drei Stunden zu pendeln oder sogar dafür umzuziehen.

Faulen-Bashing des Staates

Der Kampf gegen angeblich faule Menschen war schon immer populär, wenn im Sozialbereich eingespart werden sollte.

Als nach der deutschen Wiedervereinigung deutliche Sparmaßnahmen durchgesetzt werden sollten, für die sich der Sozialbereich immer sehr eignet, mahnte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Herbst 1993 an:

Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren.

Ein Jahr später stieß damalige Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Wolfgang Schäuble ins selbe Horn:

Mehr Eigenverantwortung des Einzelnen, weniger soziale Hängematte.

Die neue rot-grüne Regierung beschloss mit Hartz IV eine massive Veränderung und Reduzierung des Sozialstaates. Entsprechend des Umfangs der Kürzungen war der Umfang der Vorwürfe gegen die vermeintlich eigentlich Schuldigen. Im Frühjahr 2001 erklärte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder beispielsweise klipp und klar:

Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft.

Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping ergänzte, Arbeitsunwilligen unter 25 Jahren solle "jede öffentliche Unterstützung" gestrichen werden. Arbeitsminister Franz Müntefering wurde bei Paulus fündig und warnte:

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Der Kampf gegen "Faulenzer", "Drückeberger" und "Scheinarbeitslose" war eröffnet. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement bezeichnete die Zielgruppe der Debatte sogar als "Parasiten".

Die Überzeugung im Namen sozialer Gerechtigkeit gegen die Sozialschmarotzer der Gesellschaft zu Recht vorzugehen, ebnete den Weg für die Agenda 2010 und Hartz IV.

Wer kann nicht guten Herzens der Aussage zustimmen, dass es zutiefst ungerecht ist, dass Menschen für Dauerparty auch noch von Steuergeldern durchgefüttert werden, das die hart arbeitende Bevölkerung sich vom Munde absparen muss? Ist das nicht zutiefst ungerecht und unsozial?

Faulen-Bashing des Volkes

Mit ihren harten Vorurteilen gegenüber Beziehern von Sozialhilfe stehen viele Politiker keineswegs allein. Auch wenn die große Mehrheit der Deutschen Armut durch soziale Ungerechtigkeit und nur ein Achtel die Ursache in Faulheit begründet sieht), halten sich sehr negative und abwertende Vorstellungen über Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger hartnäckig.

Eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2012 zeigte, dass "57 Prozent der Deutschen denken, Hartz IV-Empfänger wären bei der Arbeitsuche zu wählerisch, ebenso viele halten sie für schlecht qualifiziert. Über die Hälfte der Befragten geht davon aus, dass sie überhaupt nicht aktiv nach Arbeit suchen und nichts zu tun haben. Rund 40 Prozent glauben, Hartz IV-Empfänger wollen nicht arbeiten".

Frei nach dem damaligen SPD-Bundesvorsitzenden Kurt Beck: "Wenn Sie sich waschen und rasieren, finden Sie auch einen Job."

Ein erstaunlich angenehm eindimensionales Menschenbild, das die Schuldzuweisung möglichst einfach gestaltet und eine entsprechend eindimensionale Politik zu begründen scheint. Inwiefern sie aber der Wirklichkeit entspricht muss dahin gestellt bleiben.

Die bereits angeführte Umfrage wandte sich auch an Menschen in Hartz IV. Der Wunsch nach Arbeit war eindeutig:

75 Prozent der Menschen in der Grundsicherung Arbeit das Wichtigste in ihrem Leben. Über 70 Prozent von ihnen wären sogar bereit, Arbeit anzunehmen, für die sie überqualifiziert sind.

Allensbach-Umfrage, 2012

Bevor man Politiker und der Bevölkerung vor einer erschreckenden Tendenz zur Diffamierung von Menschen ohne Arbeit warnt, muss die Frage geklärt werden, wie groß eigentlich die Gruppe der Totalverweigerer in Wirklichkeit ist, die so sehr im Fokus der Debatte stehen.

Abgleich mit der Wirklichkeit

Erstaunlicherweise herrscht nämlich starke Uneinigkeit wie groß dieses angeblich so fundamentale Problem in Wirklichkeit ist. Arbeitgeberpräsident Robert Dulger ist sich sicher:

Wir haben fast vier Millionen Menschen im Bürgergeld-System, die arbeiten können – das ist zu hoch.

Hintergrund: Von den 5,5 Millionen Menschen, die zu diesem Zeitpunkt – im Frühjahr diesen Jahres - vom Bürgergeld leben, waren 1,5 Millionen nicht erwerbsfähige Kinder unter 15 Jahren. Auch wenn Dulger dies nicht impliziert, könnte man auf die Zahl von vier Millionen Totalverweigerer in Deutschland kommen.

CDU-Parteichef Friedrich Merz bringt eine andere Zahl ins Spiel:

Wir reden über die 1,7 Millionen arbeitsfähigen Menschen in Deutschland, die arbeiten könnten, aber sich ausrechnen, dass es sich eigentlich gar nicht lohnt, wenn man Bürgergeld bezieht. Und an dieser Stelle, sagen wir: Das müssen wir ändern.

Also 1,7 Millionen Totalverweigerer in Deutschland?

Eine andere Zahl scheint Arbeitsminister Heil zu implizieren. Auf Nachfrage von Sandra Maischberger, wie er genau auf die Summe von 170 Millionen Euro kommen würde, die er mit Sanktionen gegen "Totalverweigerer" einsparen möchte, wich er aus und nannte keine konkrete Zahl der voraussichtlich zu sanktionierenden Menschen.

Tatsächlich müssten 150.000 Bürgergelder sanktioniert werden, um auf die Einsparung zu kommen.

CDU-Generalsekretär Linnemann hat nun eine weitere, eher allgemeine Zahl, die er in den politischen Diskussionsring wirft. Er ist sich sicher, dass "eine sechsstellige Zahl von Personen grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen".