Millionen Tote fĂĽr Demokratie und Freiheit?
Wie Putsche demokratisiert werden: Vijay Prashad über die Geschichte der Attentate und Aktivitäten der CIA im Globalen Süden. Wer die Drehbücher schreibt.
Auf die Konflikte und Unabhängigkeitsbestrebungen der Länder des Trikonts reagieren die USA mit militärischen Interventionen, die sich stets nach einem gemeinsamen Strickmuster entwickeln. Auch im Ukraine-Krieg lassen sich solche Strukturen erkennen.
In seinem Buch Washington Bullets [1] legt Vijay Prashad die Gemeinsamkeiten dar und zeichnet ihre Geschichte nach. Telepolis sprach mit dem Autor.
Herr Prashad, woher stammt der Begriff Washington Bullets und was besagt dieser?
Vijay Prashad: Der Ausdruck Washington Bullets stammt aus einem Song [2] von The Clash, den man auf dem Album Sandinista! aus dem Jahr 1980 findet. Ich bin ein groĂźer Fan der Band und habe den Song, der eine starke Kritik am Militarismus ist, immer geliebt.
Als die Regierung von Evo Morales im Oktober/November 2019 gestürzt wurde, war ich erschüttert. Morales, der vierzehn Jahre lang die Regierung in Bolivien geleitet hatte, war der erste indigene Regierungschef in Südamerika und hatte eine Regierung geführt, die das Leben der Bevölkerung dramatisch verbessert hatte.
Er war gerade erst bei den Vereinten Nationen gewesen, wo er die Fortschritte in Bezug auf die Lebenserwartung seiner Bevölkerung, bei der Alphabetisierung, bei den Wohnverhältnissen – quasi bei jedem Aspekt der menschlichen Existenz im Sinne der Ziele für nachhaltige Entwicklung – darlegte. Und doch war er nun ein Opfer eines weiteren US-geführten Staatsstreichs geworden.
Und es gab Leute, die sagten, es sei kein Putsch gewesen! Das hat mich deprimiert. Ich wollte ein kurzes Buch schreiben, das die lange Geschichte der Putsche und Attentate, die Washington in der Dritten Welt verübt hatte, aufzeichnete. Der erste Entwurf des Buches, der im Wesentlichen die endgültige Fassung darstellt, wurde innerhalb weniger Wochen veröffentlicht.
Der Titel stand von Anfang an fest, eine Anspielung auf The Clash, aber mehr als alles andere eine klare Aussage über die Absicht des Buches: Aufzuzeigen, wie Washingtons Kugeln die Welt zerstört haben.
"Es geht hier nicht einfach nur um Arithmetik"
Können Sie eine Abschätzung abgeben, wie viele Menschen den "Washington Bullets" zum Opfer fielen?
Vijay Prashad: Niemand hat je eine solche Schätzung vorgenommen, weil es nicht einfach ist, dies zu tun. Wir wissen, dass in Indonesien eine Million Menschen durch Kugeln aus Washington getötet wurden. Wir wissen, dass mindestens eine Million – wahrscheinlich aber mehr – im Irak getötet wurden. Wir wissen, dass Millionen von Menschen bei den Putschen im Kongo, in Ghana und Guatemala starben. ....
Trotzdem haben wir einfach nicht die Zahlen, denn es geht hier nicht einfach nur um Arithmetik, das wäre ja kein Problem. Es geht darum, wie man beurteilt, wer als Opfer der "Washington Bullets" zu zählen ist, ob eine zeitweilige unverhältnismäßige Sterblichkeitsrate der Maßstab sein sollte oder etwas, das mehr einschließt, nämlich die Opfer des gesamten Konfliktzyklus, der durch die Zerstörung politischer Visionen entstand, die diese Konflikte hätten verhindern können (der Kongo ist ein sehr gutes Beispiel, wo im Laufe der Jahrzehnte nach der Ermordung von Lumumba Millionen von Menschen starben).
"Die USA haben die Macht des Dollars genutzt"
Die USA haben ja nicht nur direkt militärisch, sondern auch finanziell interveniert: Inwiefern kann man Geld als Waffe einsetzen?
Vijay Prashad: Als die ersten Länder begannen, ihren bilateralen und multilateralen Handel in anderen Währungen als dem Dollar abzuwickeln, beklagte US-Senator Marco Rubio auf Fox News das Problem, das dadurch entstehen wird.
"Es wird so viele Länder geben, die in anderen Währungen als dem Dollar handeln", sagte er, "dass wir nicht in der Lage sein werden, sie zu sanktionieren". Dies war eine ehrliche Einschätzung der Macht, die der Dollar hat und die er möglicherweise nicht mehr haben wird, wenn er nicht mehr die Hauptwährung für den internationalen Handel ist.
In Bretton Woods (1944) wurde klar, dass der US-Dollar die wichtigste Währung für den internationalen Ausgleich von Handel und Investitionen sein würde, eine Situation, die sich nach dem Ausstieg der USA aus dem Goldstandard im Jahr 1971 noch verschärfte.
Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben die USA die Macht des Dollars sowie ihre Kontrolle über Kreditmärkte, Überweisungsdienste, Transportversicherungsgesellschaften und internationale Finanzinstitutionen genutzt, um Länder zu bestrafen, die versuchten, ihre Souveränität und die Würde ihrer Völker zu wahren.
Als die chilenische Regierung der Volkseinheit unter Präsident Salvador Allende 1970 an die Macht kam, versuchte die US-Regierung, "die Wirtschaft zum Schreien zu bringen", indem sie Chile den Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten verweigerte, privaten Transportunternehmen den Abschluss von Versicherungen (insbesondere für den Schiffsverkehr) erschwerte und Chile daran hinderte, internationale Geldtransfersysteme zu nutzen. Genau das ist ein Wirtschaftskrieg.
Wie wichtig ist dabei das Konzept des "demokratischen Putsches"?
Vijay Prashad: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Prozess der Entkolonialisierung die Bedeutung der Demokratie in der Welt begründet. Vor der Entkolonialisierung hatten die westlichen Staaten ihre Kolonien mit absoluter Autorität regiert. Im Zuge der Entkolonialisierung wurde dann klar, falls ein Putsch im Sinne der USA vorbereitet wurde, dieser in der Öffentlichkeit als Teil der "Demokratie" dargestellt werden musste.
Putsche – wie gegen Arbenz in Guatemala oder gegen Allende in Chile – erfolgten im Namen der Demokratie, wobei das Militär das Argument vorbrachte, dass diese linken Führer eine Bedrohung für die Demokratie darstellten, was aber keineswegs der Fall war.
Die Idee des "demokratischen Putsches" ist also ein Symptom aus der Zeit der Entkolonialisierung, als es nicht mehr so einfach war, einen Staatsstreich nur als AusĂĽbung imperialistischer Macht zu rechtfertigen.
"Die Geheimdienste entwickeln ein Drehbuch"
Welche Rolle spielt bei diesen Interventionen die Presse?
Vijay Prashad: Bei der "Demokratisierung" eines Putsches spielt der "Informationskrieg" eine entscheidende Rolle. Die Geheimdienste, die an Aktivitäten wie dem Regimewechsel beteiligt sind, entwickeln für diesen ein Drehbuch, das den Aufbau von Einfluss in den Medien beinhaltet und einen Prozess vorantreibt, um diejenigen zu unterminieren, die behaupten, dass ein Putsch stattfindet.
Gleichzeitig werden die Stimmen derjenigen verstärkt, die eine "Rückkehr zur Demokratie" fordern. Aus den offiziellen Unterlagen wissen wir, dass die CIA in der Vergangenheit eng mit den US-amerikanischen Medien – einschließlich der New York Times und der Washington Post – zusammengearbeitet hat, um ihren Willen durchzusetzen und die Ereignisse im Sinne ihrer eigenen Ideologie zu beschreiben. Dies geschieht auch heute noch.
Während des Putsches gegen die Regierung von Evo Morales im Jahr 2019 argumentierte die US-Presse – einschließlich Teilen der alternativen Medien –, dass Morales schon zu lange im Amt sei, dass er die Wahl gestohlen habe und dass es sich also nicht um einen Putsch handele. Dieser Informationskrieg ist somit Teil der Interventionen gegen Länder, die versuchen, ihre Souveränität gegenüber dem US-Imperialismus zu behaupten.
"Element des hybriden Krieges"
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang den gegenwärtigen Ukraine-Krieg?
Vijay Prashad: Der Konflikt in der Ukraine weist Elemente eines klassischen hybriden Krieges auf. Zunächst versuchten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, bestimmte Parameter festzulegen, wie etwa die Bedeutung der Nato-Erweiterung und die Integration der Ukraine in die wirtschaftliche und politische Welt des Nordatlantiks. Dies geht auf die Jahrzehnte vor 2014 zurück.
Zweitens waren die westlichen Kriegerstaaten sehr besorgt über die stetige Annäherung Europas an Russland (für Energie) und an China (für Investitionen und Technologie). Nach der Finanzkrise von 2007 waren die europäischen Staaten in diesen Bereichen immer stärker auf Russland und China angewiesen.
Die Ukraine wurde zum Brennpunkt eines Konflikts, den die Vereinigten Staaten vorantrieben, um sicherzustellen, dass Europa nicht zu sehr mit Russland und China verflochten wird, und um zu verhindern, dass Russland die Ukraine – und andere osteuropäische Staaten – als Teil seiner Umlaufbahn betrachtet.
Im Jahr 2011 hatte die US-Regierung auĂźerdem versucht, die historischen und geografischen Bindungen zwischen den fĂĽnf zentralasiatischen Staaten und Russland durch ein von US-AuĂźenministerin Hillary Clinton als "Neue SeidenstraĂźe" bezeichnetes Projekt zu durchbrechen.
Die Ukraine ist also nicht nur in einen völlig vermeidbaren Krieg verwickelt, sondern befindet sich seit einigen Jahrzehnten bereits in einem Informationskrieg.
Dies ist das Element des hybriden Krieges, ĂĽber das nur selten gesprochen wird, schon gar nicht in einer Zeit, in der es insbesondere im Westen so wenig Raum fĂĽr eine vernĂĽnftige Diskussion ĂĽber die Ukraine gibt.
Können Sie sich vorstellen, dass die USA dieses Konzept auch im Konflikt mit China anwenden?
Vijay Prashad: Sicherlich haben die Vereinigten Staaten versucht, einen hybriden Krieg gegen China zu führen – mit einem Wirtschaftskrieg, einem diplomatischen Krieg und einem Informationskrieg als Schlüsselkomponenten.
Dieser Krieg – und das Wort "Krieg" betone ich bewusst – ist von einem Handelsstreit über die Anhäufung von Streitkräften im Südchinesischen Meer bis hin zur Entwicklung der Indo-Pazifik-Strategie eskaliert, um die chinesische Entwicklung einzudämmen.
Ja, dieses breite Spektrum an Instrumenten, das die Vereinigten Staaten aufgebaut haben, wurde gegen China eingesetzt. Dies ist eine rĂĽcksichtslose Entwicklung des Konflikts, der vonseiten der westlichen Kriegerstaaten ausgeht.
China ist ein sehr großes Land, ein Land mit Atomwaffen und einer sehr patriotischen Bevölkerung und es ist ein Land mit einem politischen und sozialen System, das sich einfach nicht so leicht beugen wird, wie die westlichen Kriegsstaaten glauben. Die Spannungen werden also zunehmen und können zu einem Krieg eskalieren, bevor sie den Raum für einen Regimewechsel schaffen.
In Chile zum Beispiel würde der Staat nicht in einen Krieg mit den Vereinigten Staaten ziehen, um sich zu verteidigen. Ein Regimewechsel ging jeder Eskalation zum Krieg voraus. Im Falle Chinas wird aber ein Regimewechsel praktisch unmöglich sein.
Die Druckkampagne des westlichen Kriegsstaates muss also unweigerlich und fatalerweise zu einem Krieg fĂĽhren. Deshalb bin ich Teil der "No Cold War"-Kampagne. Wir wollen mehr Zusammenarbeit und weniger Konfrontation. Das ist der SchlĂĽssel fĂĽr unsere Zeit.
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[1] https://mangroven-verlag.de/washington-bullets/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=mkoWjhZOKWo
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[4] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.en
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