Mindestens 48 Stunden: Wenn Mehrarbeit zur Gesundheitsfalle wird

Marcus Schwarzbach
Schraubenschlüssel zieht Mutter an den Zeigern einer Uhr an

Überstunden sind in Deutschland verbreitet. Jeder zehnte Beschäftigte arbeitet mehr als 48 Stunden. Dahinter steht ein offenes Geheimnis.

Lokführer, Erzieherin oder SAP-Expertin – in vielen Branchen werden Fachleute gesucht. Die Strategien der Unternehmen sind unterschiedlich. Dies zeigt auch die jüngste Tarifeinigung im Öffentlichen Dienst.

Denn die Tarifparteien haben einen Vorschlag der externen Schlichter zur Erhöhung von Arbeitszeit aufgegriffen. Roland Koch, ehemaliger Ministerpräsident von Hessen, und Hans-Henning Lühr, Jurist und ehemaliger Staatsrat, halten eine längere Wochenarbeitszeit für ein geeignetes Mittel gegen Personalmangel. Das sieht auch der Tarifabschluss vor.

Daher soll es ab 2026 die Möglichkeit einer freiwilligen befristeten Arbeitszeitverlängerung auf 42 Stunden pro Woche geben.

Die Gewerkschaft Ver.di spricht von einer "doppelten Freiwilligkeit, der zufolge Arbeitgeber und Beschäftigte einer Mehrarbeit zustimmen müssen, möglich sein, die wöchentliche Arbeitszeit befristet auf bis zu 42 Stunden zu erhöhen".

Überstunden steuerlich fördern ...

Kochs Parteikollege, der CDU-Vorsitzende Merz, sieht in Überstunden eine sinnvolle Antwort auf fehlendes Personal. Union und SPD verhandeln derzeit über eine neue Bundesregierung - laut Sondierungspapier wollen sie Überstunden künftig sogar steuerlich fördern. Die Idee hat es auch in den Koalitionsvertrag geschafft.

Einen anderen Ansatz verfolgt die Gewerkschaft GDL. Diese sieht Arbeitszeitverkürzung als bestes Mittel gegen Fachkräftemangel. Der Beruf des Lokführers soll durch geringere Wochenarbeitszeit und besser planbare Dienste attraktiver werden, so die Strategie.

Viele Bewerber legen bei der Jobsuche Wert auf Work-Life-Balance. "Die Work-Life-Balance bezeichnet ein harmonisches Gleichgewicht aus Berufs- und Privatleben. Ihr Ziel ist es, einen Ausgleich aus beruflichen Verpflichtungen, privaten Angelegenheiten und Regenerationsphasen zu schaffen", erläutern die Softwareexperten von HR Works: "Eine Balance zwischen Arbeit und Leben sorgt für eine stabilere Gesundheit und mehr Energie."

... oder Arbeitszeit verkürzen?

Dabei sind in Bezug auf Fachkräftemangel auch die Arbeitsbedingungen ein Thema. Welche Stressfaktoren gibt es? Sehen Führungskräfte ihre Aufgabe in permanenter Kontrolle? Oder soll eine Zusammenarbeit in Teams organisiert werden? Gibt es Besprechungsmarathons oder gibt es eine "Meeting-Kultur", die zielgerichtete Veranstaltungen bietet? Auch Arbeitszeiten sind bedeutsam.

Das Interesse an der Vier-Tage-Woche ist nicht auf die jüngere Generation beschränkt. Frühere Studien haben gezeigt, dass sie die Attraktivität eines Arbeitgebers steigern kann, was gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein großes Plus ist.

Julia Backmann, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Keine Zeiterfassungen in vielen Betrieben

Viele Unternehmen erfassen jedoch die Arbeitszeiten gar nicht – und verweigern Beschäftigten die Bezahlung von Überstunden oder freien Tagen aufgrund von Mehrarbeit.

Mehr als die Hälfte aller Überstunden wird ohnehin nicht vergütet. Viele Unternehmen senken damit schon jetzt ihre Kosten zu Lasten der Beschäftigten.

Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied

Fehlende Zeiterfassung wird zum Zeitdiebstahl genutzt. ‎Denn die Zeiten werden nicht dokumentiert und entsprechend nicht gutgeschrieben, geschweige denn vergütet.‎

2019 sorgt der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit einem Urteil dazu für Schlagzeilen: Der EuGH erklärt in seiner Entscheidung vom 14.5.2019 – C-55/18, dass eine nationale Rechtslage mit der EU-Charta unvereinbar ist, wenn die Arbeitgeber nicht verpflichtet sind, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Der Gerichtshof betont die Bedeutung des in der EU-Charta verbürgten Grundrechts eines jeden Arbeitnehmers auf die Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten, was die EU-Arbeitszeitrichtlinie weiter präzisiert.

Ohne Zeiterfassung sieht der EuGH das Ziel der EU-Arbeitszeitrichtlinie gefährdet, einen besseren Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer sicherzustellen: Die Mitgliedstaaten müssen die Arbeitgeber daher verpflichten, ein objektiv verlässliches Zeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die geleistete tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen wird.

Überstunden machen krank

Überstunden sind auch ohne steuerliche Förderung bereits heute ein großes Problem. Der DGB-Index "Gute Arbeit" hat neue Daten dazu veröffentlicht:

Überstunden zu machen ist in Deutschland nicht nur weit verbreitet, sondern für die Beschäftigten oft auch gesundheitsschädlich. Jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte leistet überlange Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden pro Woche. Das birgt gesundheitliche Risiken für die Beschäftigten, darunter Erschöpfung, Schlafstörungen und stressbedingte Erkrankungen.

Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied

Ein Gesetz dazu ist bis heute nicht beschlossen. Bisher wollten alle Bundesregierungen das Thema aussitzen. Daraus ergibt sich ein Arbeitsauftrag für die neue Regierung. Der Gesetzgeber ist gefordert, da Gerichtsentscheidungen offen lassen, wie die Zeiten zu erfassen sind - per Personal-Software, über Excel-Dateien oder auf Papier. Dabei wäre die Planbarkeit von Arbeitszeiten auch ein Mittel gegen Fachkräftemangel.